Kriegswirren. Afghanisches Durcheinander in deutschen Köpfen

Fahrzeug der Bundeswehr mit Logos der ISAF-Mission

17. Juli 2009
Von Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Kann, was in Afghanistan geschieht, erst angemessen diskutiert werden, wenn sich vorab alle an der Diskussion Beteiligten darauf einigen, dass ISAF und in diesem Rahmen gerade auch die Bundeswehr dort Krieg führt? Das verkündeten mit dem gleichen Brustton der Überzeugung die verschiedensten Kommentatoren der unterschiedlichsten Zeitungen. „Warum es richtig ist, den Krieg 'Krieg' zu nennen“, betitelte Die Welt am 24. Juni einen Kommentar von Michael Stürmer. „Deutschland lügt sich den Krieg in Afghanistan weg“ stand in der gleichen Zeitung am 11. Juli über einem Kommentar von Alan Posener: „In Afghanistan hat die britische Armee jetzt 184 Soldaten verloren – mehr als im Irakkrieg. Das lässt die deutsche Diskussion darüber, ob wir uns am Hindukusch im Krieg befinden, in einem geradezu surrealen Licht erscheinen. Als Rom brannte musizierte Nero. Afghanistan brennt, und in Deutschland tobt eine Schlacht um die Semantik. Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin: Indem man so tut, als gäbe es keinen Krieg, kann man die alte Losung der Grünen Wirklichkeit werden lassen. Freilich um den Preis der Wahrheit, die immer das erste Opfer des Krieges ist“. Dass in Afghanistan Krieg herrscht, ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Mit ihr ist noch nichts gewonnen.

Deutsche Denkverbote?

Im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 10. Juli hieß ein Kommentar von Stefan Kornelius „Deutschland führt Krieg.“ Darunter wurde gefragt: „Wie viele Soldaten müssen noch sterben, bis die Regierung den Einsatz in Afghanistan endlich beim Namen nennt?“ Der Außenpolitische Redakteur der Süddeutschen Zeitung hat auch ein kleines Buch geschrieben: Der unerklärte Krieg. Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan. Deutsche Denkverbote sieht Clemens Wergin in Die Welt vom 26. Juni in Kraft und meint „Statt über die richtige Strategie für Afghanistan zu reden, streiten wir über die richtige Semantik.

Für Eric Chauvistré in der taz vom gleichen Tag ist freilich die semantische Entscheidungsschlacht die Vorbedingung, um über Afghanistan reden zu können: „Wer über das Vorgehen in Afghanistan debattieren will, der muss zunächst anerkennen, dass sich Deutschland im Krieg befindet. Selbst führende deutsche Militärs der Bundeswehr sind in dieser Frage sehr viel ehrlicher und agieren rationaler als die für die Bundeswehr zuständigen Parlamentarier und Minister.“ Chauvistré mag allerdings nicht verhehlen, dass mit der von ihm verlangten Vorentscheidung noch gar nichts geklärt ist. Es sei keine Frage: „Sollten sich Bundesregierung und Parlament dazu durchringen, das Geschehen in Afghanistan eines Tages als Krieg zu bezeichnen, wäre natürlich weder die Zukunft Afghanistans noch die der Bundeswehr geklärt. Aber eine notwendige Voraussetzung für die Aufnahme einer ausgefallenen Debatte wäre geschaffen.“ Eckart Lohse wiederum sieht hinter dem vermeintlich kleinen semantischen ein elementar politisches Problem: „Denn die Politik glaubt, es nicht riskieren zu können, das Wort Krieg zu verwenden. Weder Verteidigungsminister Jung, der inzwischen immerhin von Gefallenen spricht, wenn es um die Toten des Einsatzes geht, noch – und erst recht nicht – die Kanzlerin. Zu groß ist offenbar die Angst, der in der Bevölkerung und damit in weiten Teilen der beiden Koalitionsparteien ungeliebte Einsatz könnte noch mehr an Akzeptanz einbüßen, wenn eines Tages die Schlagzeile auftauchte 'Merkel: Wir sind im Krieg'. Die Soldaten sollen also ihr Lebens aufs Spiel setzen, während die Politiker nicht mal eine öffentliche Debatte wagen wollen, weil sie einen hässlichen Wettlauf fürchten unter der Überschrift 'Wer hat im Wahlkampf den rasanteren Abzugsplan zu bieten.'“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.7.)

Politik unter Schock?

Den Politikern hat die „derzeitige Kriegsdebatte“ weitgehend den Atem verschlagen. Für den außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion handelt es sich dabei für die Medien um ein „klassisches Aufregerthema“. Erst seien es die „'gefallenen' deutschen Soldaten“ gewesen, „jetzt führen wir eben Krieg in Afghanistan.“ Die Lage in Afghanistan sei viel zu vielschichtig, um sie auf einen Nenner zu bringen. „Dies zu erklären ist eine schwierige Aufgabe der Politik.“ Als Erklärung trägt der Politiker dann in aller Schlichtheit vor: „Wir führen keinen Krieg in Afghanistan, sondern einen bewaffneten Konflikt gegen Terroristen, in einem Land, das sich nur ganz zaghaft von vierzig Jahren Bürgerkrieg erholt“ (Am Anfang war das Wort, FTD 9.7.) Aber Afghanistan steckt ja noch mitten drin in diesem „Bürgerkrieg“! Und es steckt nicht nur in einem Bürgerkrieg, in dem die eine Partei die Staatsmacht von einer anderen Partei gewaltsam übernehmen will, sondern in einem Krieg, bei dem die staatliche Existenz des Landes selbst auf dem Spiel steht und in Teilen von Afghanistan und Pakistan ein staatsfreies Terrain zu entstehen droht, wo terroristischer Islamismus im Inneren das Sagen hat und eine sichere Ausbildungs- und Rückzugsbasis für globale Attacken findet. Dass in Afghanistan nicht erst seit gestern Krieg herrscht, ist unbestreitbar. Die Frage bleibt, wie stehen ISAF und damit die NATO und die Bundesrepublik zu diesem Krieg?

In den zitierten Artikeln tauchen die UNO und ihr Sicherheitsrat, der durch seine Beschlüsse ISAF, aber auch OEF immer erneut legitimiert hat, allenfalls am Rande auf. Als Akteure erscheinen Bundesrepublik und Bundeswehr und vielleicht noch NATO und die USA, der Westen also. Dabei handelt es sich doch in Afghanistan, im Unterschied zum Krieg im Irak, um den von der UNO nicht nur legitimierten, sondern von Anfang an aktiv mitbetriebenen Versuch, den Bürgerkrieg in Afghanistan dauerhaft zu beenden und das Land als UNO-Mitglied zu schützen und aufzubauen. Dabei sollte weder vergessen werden, dass die Sowjetunion in diesen Bürgerkrieg in den 80er Jahren massiv eingegriffen und der Widerstand gegen die Besatzung Züge eines Stellvertreterkrieges zwischen den Supermächten angenommen hatte.

Deutsche Ohnemichelei?

Um den Schwierigkeiten zu entkommen, in denen die UNO bei ihrem Engagement in Afghanistan steckt, liegt die Devise nah: Lasst uns doch schauen, wie das Land allein zu recht kommt. Nach dieser Devise ist die internationale Gemeinschaft allerdings bereits einmal in den 90er Jahren verfahren. Die Folgen waren zunächst nur für Afghanistan, dann aber für die internationale Ordnung und den Weltfrieden verheerend. In Konsequenz aus diesen Lehren hat der Sicherheitsrat der UNO bereits 2001 und dann immer erneut festgestellt, dass von der Situation in Afghanistan eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit ausgeht und notfalls auch gewaltsame Erzwingungsmaßnahmen nach Kapitel VII der UNO-Charta beschlossen.

Es ist ein fataler und in seinen Folgen politisch verheerender Kurzschluss, wenn nun in Deutschland nur noch gefragt wird, ob die Bundeswehr in Afghanistan Krieg führt und allenfalls noch gefragt wird, welche Folgen ein deutscher Abzug für die NATO und den Westen hätte. Nein, so einfach ist es leider nicht: Mit ISAF und auch OEF steht die UNO als kollektive Sicherheitsorganisation auf dem Prüfstand. Die Beteiligung der Bundesrepublik an der inzwischen durch Sicherheitsratsbeschluss NATO geführten ISAF bedeutet kein Verbot, darüber nachzudenken, auf was sich die Bundesrepublik und die Bundeswehr damit eingelassen haben. Es sollte allerdings wirklich über das tatsächliche Problem nachgedacht werden und nicht völlig abstrakt, nämlich unter Absehung von internationalem Rahmen und Kontext über einen deutschen Krieg schwadroniert werden.

Diesen Kurzschluss hatte bereits die Strucksche Rede, am Hindukusch werde Deutschlands Sicherheit verteidigt, nahe gelegt. Eben nicht. Es geht um die Bedrohung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit und die kann Deutschland natürlich nicht gleichgültig sein. Der Strucksche Kurzschluss - und ihm entspricht nach wie vor die Regierungspropaganda - provoziert geradezu den gegensätzlichen Kurzschluss, als dessen Verfechter sich Martin Walser gerade in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin wandte. Er riskiere die Behauptung, schreibt Walser in Die Zeit vom 9. Juli: „Wir sind, wenn wir uns nirgends militärisch engagieren, kein Ziel mehr für den Terrorismus.“ Das ist schönste Ohnemichelei in einer Welt, die sich anhaltende blutige Bürgerkriege nicht leisten kann, wenn die UNO-Ordnung nicht Baustein um Baustein zerbröckeln soll. Die Formel vom Hindukusch und der Selbstverteidigung verband aufs Angenehmste Karl-May-Romantik mit politischer Egozentrik. Ein dauerhaftes Engagement kann sie nicht begründen. Das merkt einer wie Martin Walser gleich. Aber das Wesentliche übersieht er.

Eine Angelegenheit des Westens?

Der Westen sei nicht darauf angewiesen, sich militärisch durchzusetzen, meint Martin Walser. Als ob es darum ginge. Die Frage ist doch, ob der Westen auf den UNO-Rahmen pfeift, wenn der sein Engagement braucht. Der UNO-Sicherheitsrat ist nicht der Westen. Wer so denkt wie Martin Walser ist in seiner pazifistischen Variante vielleicht näher an Bush als ihm lieb sein mag. Der vorige amerikanische Präsident hatte in seiner militärischen Variante mit der Konzentration auf die „zweite Phase“ des „war on terror“ im Krieg gegen den Irak die Zeit und die Kräfte verspielt, die Afghanistan wahrscheinlich davor bewahrt hätten, heute erneut in seiner Existenz gefährdet zu sein. Und diese Gefährdung bleibt eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit.

Für Deutschland geht es nicht „ums Schießen“, wie es Der Spiegel (28/09) nassforsch formuliert: „Was in den vergangenen Wochen passiert ist, verdient den Namen einer schleichenden Bellizisierung des Auftrags der Bundeswehr in Afghanistan. Damit setzt sich der deutsche Weg in die Normalität eines Staates fort. Seit 60 Jahren arbeiten die Bundesregierungen daran. In vielen Bereichen ist es längst gelungen, nun geht es noch ums Schießen, den schwierigsten Bereich, weil deutsche Soldaten einst die halbe Welt ruchlos beschossen haben.“ Dann müssten andere Staaten sich ja keine Gedanken „ums Schießen“ machen. Sie tun es aber, wie die veränderten Richtlinien der ISAF über die Gewaltanwendung zeigen. „Ihr seid hier, weil ihr die Leute überzeugen sollt, nicht um sie zu töten“, bringt der neue ISAF-Kommandierende die neuen Leitsätze auf eine Kurzformel. Für diese Erkenntnis hätten keine acht Jahre ins Land gehen müssen.

Wird sich die Bundesrepublik verantwortlich an der „Weltinnenpolitik“ der Staatenwelt beteiligen? Immerhin machte sie sich immer mal wieder für Streitkräfte unter dem Kommando der UNO stark. Ist sie jetzt bereit, ihr Teil zu dem internationalen Versuch beizutragen, einen Krieg zu beenden, der nicht mit ISAF begonnen hat? ISAF bleibt in der Sache eine Polizeiaktion, um eine Bedrohung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit einzudämmen und zu beseitigen, auch wenn sie der Form nach auf militärische Mittel nicht verzichten kann. Dies ist das Spezifikum einer „Weltinnenpolitik“ in einer Welt von Staaten, wo es von bewaffneten Streitkräften als Bedrohung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit nur so wimmelt. Deshalb können die UN auf Kapitel VII ihrer Charta nicht verzichten. Um durch den Sicherheitsrat beschlossene Frieden erzwingende Maßnahmen auszuführen, müssen die UN an die Mitgliedstaaten appellieren. Die Bundesrepublik sollte sich einem solchen Appell nicht entziehen, wenn es schwierig wird. So scheint es die Bundeswehr zu sehen. Davon lässt sich die Öffentlichkeit überzeugen. Ohne Rock drüber wäre das Hemd schnell zerschlissen.

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