Verwirrt zeigt sich auch die FAZ selbst, wenn sie dieser Meldung die Überschrift verpasst „In Pakistan gefälschte Wikileaks-Berichte“. Damit wird Wikileaks gewissermaßen das Urheberrecht an den echten Botschafterberichten zugesprochen. Als ob durch die gefälschten Botschafterberichte Wikileaks zum Fälschungsopfer geworden wäre. Ganz falsch ist diese Wahrnehmung nicht. Denn ohne die Tarnung als Wikileaks-Enthüllung hätten die Trittbrettfahrer ihre Fälschungen nicht als glaubwürdige Dokumente in den Verkehr bringen können. Andererseits ermöglichte nur die durch Wikileaks in erhöhte Aufmerksamkeit versetzte Öffentlichkeit, die Fälschungen rasch als solche zu erkennen. Die gefälschten Dokumente fielen aus dem Rahmen, den die echten, der Öffentlichkeit bereits zugänglichen Dokumente abgesteckt hatten. Dass ausgerechnet pakistanische Zeitungen auf die Fälschung hereinfielen, mag als Zufall werten, wer will.
Aufmerksam gemachte Öffentlichkeit
Die Sensation der Wikileaks-Enthüllung war nicht das Enthüllte, sondern die Enthüllung selbst. Wie konnte das den USA passieren? Und weil das Enthüllte weniger sensationell war, als die Enthüllung, war es nur eine Frage der Zeit, bis irgendwelche Leute die Situation zu nutzen versuchten, um Dokumente auf den Markt zu bringen, die sie sich von einer Enthüllung eigentlich versprachen. Die Fälscher wollten die Öffentlichkeit nutzen für ihre Zwecke, aber es war gerade die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie scheitern ließ. Verschlusssachen der Diplomaten sollten zwar nicht vorzeitig an die Öffentlichkeit kommen. Sind sie aber erst einmal öffentlich geworden, schützt das vor groben Fälschungen und gegen krude Verschwörungstheorien. Man weiß oder kann zumindest wissen: Botschaftsberichte enthalten selten mehr, als interessierte Zeitgenossen sich auch aus öffentlich zugänglichen Quellen verschaffen können. Die US-Berichte enthalten aber auch keinen Quatsch, der nur Gegnern vernünftig erschiene, die den USA ohnehin alles zutrauen. Wenn US-Botschaftsberichte über Indien herzögen, wäre das vielleicht gut für Pakistan. US-Diplomaten berichten aber nicht Pakistan zuliebe. An ihren eigenen Staat zu denken ist ihr Job und der Antrieb, ihn gut zu machen, dient der Karriere.
Diplomatische Profis einer früheren Supermacht
Ist die Enthüllung von an die 250 000 diplomatischen Dokumenten, die von einem einfachen US-Soldaten mittels Wikileaks an die Weltöffentlichkeit gebracht wurden, für die bis vor kurzem und für manche noch heute möchte gern einzig verbliebene Supermacht eine gewaltige Blamage – das Enthüllte, die Inhalte der Berichte sprechen im großen und ganzen eher für das amerikanische Außenministerium und seine Angestellten. Dass die Mittel der USA beschränkt sind und die Verhältnisse nicht durch ihre Pfeife zum Tanzen gebracht werden können, scheint inzwischen zum politischen Allgemeingut des Personals des amerikanischen Außenministeriums geworden zu sein. Das war vor ein paar Jahren noch ganz anders. Schnell konnte man abgekanzelt werden, wenn man bescheidene Einwände gegen den Irakkrieg erhob. Wer die durch die rasche Niederlage Saddam Husseins genährten Umsturzphantasien anzweifelte, die dem „Broader Middle East“ im Gefolge der Demokratisierung des Irak die alsbaldige Einführung der Demokratie versprachen, galt als Defätist. Solche Illusionen kommen, soweit bisher zu überblicken, in den Berichten nicht vor. Die Nüchternheit ist wieder eingekehrt. Das State Department agiert anders als unter Bushs Präsidentschaft und nicht mehr als Außenstelle des Pentagon.
Timothy Garten Ash, der britische Zeitgeschichtler und Publizist, freut sich im Spiegel endlich mal zeitnah in einer Fülle von Dokumenten stöbern zu können, wie sie ansonsten allenfalls nach 30 Jahren der Forschung zugänglich ist – und auch dann meist nur gesiebt. Dieser „Festschmaus der Zeitgeschichte“ sei ein „Traum der Historiker“ und ein „Alptraum der Diplomaten“. Doch aus dem Alptraum erwächst den Diplomaten auch Lob. Ash meint jedenfalls, seine persönliche Einschätzung des Außenministeriums falle nun tatsächlich besser aus. „In den vergangenen Jahren fand ich es altbacken, vor allem im Vergleich zu den selbstbewussteren Zweigen der US-Regierung wie dem Pentagon. Hier aber finden wir erstklassige Arbeit.“ Dabei wird er nicht unbedingt an die diplomatische Eitelkeit gedacht haben, die zum Beispiel einen Botschafter als raffinierten Agentenführer auftrumpfen lässt, wenn er das routinierte Geplauder untergeordneter Chargen als Geheimsache weitergibt, obwohl es den Informationsgehalt guter Tageszeitungen nicht übertrifft.
Stephen Kotkin von der Princeton University folgert aus dem Material, wenn mit „dysfunktional“ das politische System und die Institutionen der USA allenfalls annähernd beschrieben seien, gebe es doch etwas in der Regierung, das wirklich arbeite, das State Department. Und es arbeite viel besser, als irgendjemand dachte.
Offensichtlich hat die Diplomatie mit Regierungsantritt Obamas neuen Spielraum erhalten, den sie auch zu nutzen versucht. David E. Sanger schließt in der New York Times aus den Berichten, das erneute Sich-Einlassen Obamas auf Verständigung und Gespräche mit Amerikas widerwilligsten Feinden und zögerlichen Verbündeten bestehe in einer komplizierten Mischung von Verhandlungsbereitschaft, beharrlich verstärktem Druck und einer Reihe von ausdrücklichen oder eher vagen Zeitgrenzen. Aber indem Obama es mit einigen der am wenigsten beeinflussbaren Regierungen der Welt zu tun habe – vom Reich der Mitte bis zum Mittleren Osten – stoße er auf Schranken der realen Welt. In einigen Fällen gäbe es einen Plan B, in anderen nicht. Aber an was werde gedacht, wenn auch der Plan B nicht funktioniere? So versuche Obama immer wieder Pakistan dafür zu gewinnen, die sichersten Rückzugsgebiete von Al Qaida anzugreifen, während zugleich Plan B bereits im Laufen sei: Es habe dieses Jahr schon mehr als 100 Drohnenangriffe in Pakistan gegeben, beinahe doppelt so viele wie im ganzen vergangenen Jahr. Aber was, wenn die Drohnen keinen Erfolg hätten? „Darauf geben die Berichte keine Antwort.“ Wie könnten sie auch?
Die US-Diplomaten arbeiten gut, aber die Probleme sind so, dass die Diplomatie trotzdem an ihrer Lösung zu versagen droht. Gewalt wird nicht und jedenfalls nicht generell weiterhelfen. Und so entdeckt Thomas L. Friedman in den New York Times auf seinem Streifzug durch die Berichte das „große amerikanische Leck“. Die ziemlich nüchterne Botschaft aus der teilweise faszinierenden Lektüre sei, dass es Amerika an Macht gebreche. Dazu passte dann die Meldung, dass Präsident Obama nicht länger auf einem israelischen Siedlungsstopp in den Westbanks beharre.
Die beiden großen Schwächen der USA sieht Friedmann in ihrer Abhängigkeit von (saudischem) Öl und von Anleihen in China. Diplomatie kann diese Schwächen nicht beheben. Sie sind äußere Folgen jahrzehntelanger Versäumnisse im Inneren. Geopolitik hänge völlig von Einfluss ab. „Amerika kann seine äußere Sicherheit nicht erhöhen, ohne dass es sein Verhalten zu Hause verändert. Aber die amerikanische Politik verknüpft diese beiden Seiten nie miteinander.“ So macht die US-Diplomatie zwar wieder bessere Figur, hat aber immer weniger hinter sich.
Amt im Fokus der Geschichtsschreibung
Das Auswärtige Amt erleidet keine Enthüllungswelle. Schließlich ist die Studie Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik durch das Amt selbst gefördert worden. Die Veröffentlichung kann nur helfen und nicht schaden. Aber was zu Tage kommt, schmerzt mehr als die hunderttausendfache Indiskretion von Wikileaks. Definitiv wird die Legende zerstört, das Auswärtige Amt sei im Dritten Reich ein Fremdkörper aus einer anderen Welt, wenn nicht gar ein Hort des Widerstandes gewesen. Die Kontinuität des Amtes wurzelt nicht in untadeligen Traditionen, die der Nazismus nicht beschädigen konnte, sondern in einer Personalpolitik, deren Seilschaften sich zu einem guten Teil im Dritten Reich gebildet hatten.
Man sollte das aber nicht so sehen, als ob da ein paar alte Nazis sich an strengen Einstellungskriterien vorbeigeschmuggelt hätten. All die Ehemaligen aus der Wilhelmstraße hatten nicht nur die Seniorität auf ihrer Seite, ihre Haltung und ihr Stil prägten auf Jahrzehnte hinaus die Jahrgänge von Neuzugängen. Daher auch die Aufregung im Amt, als einem verstorbenen Großbotschafter wegen seiner NS-Vergangenheit das „ehrende Andenken“ im internen Vereinsblättchen des Auswärtigen Amtes vorenthalten wurde. Zugleich bewies eine mit Hilfe der FAZ wohl orchestrierte Pressearbeit, dass die Pensionisten in Sachen Public Diplomacy keine Anfänger waren.
Die Vorgeschichte der von Joschka Fischer in Auftrag gegebenen Studie findet sich auch im dicken Buch. Es ist aus dem hausbackenen Anlass der „Nachruf-Debatte“ entstanden und findet nun den Widerhall, den frühere Arbeiten über die ja nicht überraschende Verwicklung des Amtes in die Nazipolitik vergebens suchten.
Die banale Erkenntnis, dass Institutionen in ihrem Wirken von den politischen Konstellationen geprägt werden, wird hier in konkreter Beschreibung deutlich. Die spezifische Mischung von Korpsgeist und Konkurrenzneid auf der Karriereleiter bleibt in den unterschiedlichsten Konstellationen erhalten, wirkt sich aber doch in einer liberalen Demokratie ganz anders aus als unter den Bedingungen des Dritten Reiches. Auch bleibt der Beamtenkörper des Auswärtigen Amtes nicht unberührt, wenn sich in der Gesellschaft etwas tut. Die internationale Konstellation wiederum hat die Illusion von Deutschland als Hegemonialmacht in der Mitte Europas gründlich zerstört. Sie lebt in der unterirdischen Leidensgeschichte des „europäischen Zahlmeisters“ als Ressentiment freilich weiter.
Das Amt ist immer noch das Amt und dennoch hat es sich verändert. Vielleicht ist eben das der Grund für die Beharrlichkeit, mit der auch jetzt wieder nach der Veröffentlichung der Historikerstudie einige Pensionäre zu hektischer Leserbriefproduktion übergehen, um das zu verteidigen, was sie für ihr Lebenswerk halten und das sie, ehrendes Andenken hin oder her, langsam vergisst: Das Amt. Sie entschwinden dem Amt und das Amt entwindet sich ihnen.
Neue Chance im Notfall
Öffentlichkeit und Diplomatie stehen in einem prekären Verhältnis, können aber voneinander profitieren. Die Diplomaten beziehen sich in ihren Berichten auf die Öffentlichkeit des Gastlandes. Was ihnen aus vertraulichen Mitteilungen bekannt wird, überprüfen sie, wenn sie professionell arbeiten, an öffentlich zugänglichen Quellen. Wenn sie gut arbeiten, ist es nicht unbedingt eine Katastrophe, wenn sie „geleakt“ werden. Manchmal sorgen sie selber für eine undichte Stelle, durch die ihre diplomatischen Verdienste publik werden.
Im Fall des Amtes im Dritten Reich wäre es für die Weltöffentlichkeit ein Alarmzeichen, für das Amt selbst eine letzte Warnung gewesen, wenn frühzeitig herausgekommen wäre, was sie wissen und wissentlich betreiben. Es war eine andere Zeit. Und so musste ein Fritz Kolbe, Angehöriger des mittleren Dienstes im AA, im II. Weltkrieg immer erneut sein Leben riskieren, um Allen W. Dulles in der Berner US-Botschaft mit Berichten zu versorgen. Natürlich war für ihn, einen Ehemaligen, für den es angesichts der Verbrechen keine Verschlusssachen gab, im neuen Amt kein Platz.
Im Rückblick erscheint Wikileaks als große Chance in künftigen Notfällen.
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Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.