Automatischer Krisenreflex?
Unter Hinweis auf die Auflösungstendenzen in Belgien und die Unfähigkeit der dortigen Parteien, wenn schon keine grundlegenden Entscheidungen zu treffen, doch wenigstens den einen oder anderen Kompromiss zu finden, meint Münkler: „Man muss befürchten, dass dies bei einer weitergehenden Demokratisierung Europas ganz ähnlich sein würde, denn Europa ist national und wirtschaftlich mindestens so vielgestaltig wie Belgien. Wer jetzt die Demokratisierung Europas fordert, treibt ein waghalsiges Spiel, das schnell im Zerfall Europas enden kann. Vermutlich dürfte das denen, die auf Demokratisierung Europas als Krisenreaktion setzen, gar nicht bewusst sein. Demokratisierung ist für sie ein automatischer Krisenreflex. Aber eine Demokratie braucht Voraussetzungen, die in Europa derzeit nicht gegeben sind.“ Nirgends wie bei den Wahlen zum europäischen Parlament sei die Wahlbeteiligung so niedrig und selten sei die Bereitschaft der Wähler, Populisten ihre Stimme zu geben, so groß wie hier. „Die europäische Bevölkerung war und ist eben kein europäisches Volk.“ Dem kann man zwar nicht widersprechen, aber dass ein „Volk“ hohe Wahlbeteiligung garantiere und Populismus unwahrscheinlich mache, wäre ein fahrlässiger Umkehrschluss. Tatsächlich ist die Annahme einer quasi naturwüchsigen Verbindung von (Staats-) Volk und Demokratie jedoch die fragwürdige Voraussetzung, um der Europäischen Union, die kein Staat ist und nicht durch ein „Volk“ konstituiert wird, immer aufs Neue die demokratische Legitimation abzusprechen.
Elitenprojekt?
Die Europäische Union sei ein Elitenprojekt, davon gehen Herfried Münkler wie Jürgen Habermas aus. Er ist der nicht ausdrücklich angesprochene Widerpart von Münklers Ausbruch. Der Essay des Politikwissenschaftlers der Humboldt-Universität kann als Antwort auf einen Vortrag von Habermas eben dort gelesen werden. Habermas hatte einmal mehr gefordert, die Europäische Union müsste von einem von den politischen Eliten hinter verschlossenen Türen betriebenem Projekt umgepolt werden auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend-argumentierenden Meinungskampfes in der Öffentlichkeit. „Davor zucken die Regierungen zurück. Alle klammern sich im Meer der Finanzströme an die eigene kleine, von Überschwemmung bedrohte Insel nationaler Macht. Und die politischen Parteien biedern sich an einen Populismus an, den sie mit der Vernebelung eines komplexen und ungeliebten Themas selbst heranzüchten.“
Es stimmt einfach nicht, dass die europäische Politik anders als die nationalen Politiken unter Verschluss gehalten würde. Im Gegenteil. Wenn zum Beispiel die Finanzminister der Eurozone zusammenkommen, können sie vor und nach der Zusammenkunft auch dann nicht den Mund halten, wenn sie in der Sache nichts zu sagen haben. Die Annahme ist absurd, die Politiker wollten komplexe Themen „vernebeln“, bei denen sie wegen dieser Komplexität und der Unberechenbarkeit der Folgen jeder ihrer Entscheidungen selbst nur im Nebel herumstochern.
Tatsächlich war die europäische Einigung immer beides: Das Projekt europäisch denkender und über die Gefahren des Nationalismus aufgeklärter Eliten und die Alltagserfahrung der – ja, warum nicht – europäischen Bevölkerung. Diese Alltagserfahrung teilen zu wollen, war der gesellschaftliche Antrieb der Beitrittsbestrebungen neuer Mitglieder. Diesem Antrieb mussten nationale Eliten selbst dann folgen, wenn sie weder aufgeklärt waren, noch europäisch dachten.
Versagen der Eliten?
Das Hauptproblem des verfassten Europa seien die zentrifugalen Kräfte, die mit Macht zutage träten, wenn die Sonne der ökonomischen Prosperität einmal nicht scheint, meint Herfried Münkler in seinem Spiegel-Essay: „Ein politisch-wirtschaftlicher Akteur, der einzig auf Wachstum und ruhiges Fahrwasser angewiesen ist, kann im 21. Jahrhundert nicht überleben. Er ist ein Problem und nicht die Lösung.“ Die jetzigen Schwierigkeiten der EU und der Eurozone versteht Münkler als ein Versagen der politischen Eliten und dieses Versagen könne nur durch die Eliten selbst korrigiert werden. Der Versuch, ein Eliteversagen durch forcierte Demokratisierung wettzumachen, könne nur in einem ungeordneten Zerfall des verfassten Europa enden.
Eliteversagen, schön und gut, aber woher die Eliten nehmen und nicht stehlen, die dieses Versagen zu korrigieren in der Lage wären? So fällt Münkler am Ende nichts als die „politische Neuverfassung Europas“ ein, „eine Neuverfassung im Übrigen, in der Demokratisierung eine wirkliche Option und keine Drohung mit Niedergang und Zerfall wäre.“ Europa müsse so umgebaut werden, dass es „bessere Eliten“ hervorbringe und diesen bessere Handlungsmöglichkeiten biete. Europa brauche eine „starke Mitte, ein machtvolles Zentrum“ – oder es werde scheitern: „In Europa hat die Peripherie zu viel Macht und das Zentrum zu wenig. Solange sich das nicht ändert, werden EU und Euro nicht aus der Krise herauskommen. Eine Neuverteilung der politischen Gewichte in Europa mag schwierig sein, aber das ändert nichts daran, dass sie vonnöten ist.“ Also soll sich die EU erneut an die Revision der Verträge von Lissabon machen. Diesmal nicht mit dem Ziel, die demokratische Legitimation der EU zu stärken, sondern aus der erweiterten EU ein „kleineres, aber handlungsfähigeres Europa“ zu machen.
Das zielt auf eine Neuauflage der Idee „Kerneuropas“ und auf die diesmal wetterfest verfasste Umsetzung in die Tat. Es entbehrt nicht der Ironie, dass damit auf das „Schäuble-Papier“ aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts zurückgegriffen wird, mit dem eine Wirtschafts- und Währungsunion angestrebt wurde, in der jedenfalls Griechenland und eigentlich die ganzen Mittelmeerländer einschließlich Italiens zumindest fürs Erste keinen Platz finden sollten. Es entbehrt nicht der Ironie, dass nun ausgerechnet der heutige Bundesfinanzminister sich führend mit den Problemen herumschlagen muss, die er durch die Kreation Kerneuropas vergeblich zu vermeiden suchte.
Einen Weg zurück kann es für Finanzminister Schäuble nicht geben, weil die Eurozone nun einmal das ist, was von der Idee Kerneuropas übrig geblieben ist. Die Eurozone ist damit in der jetzigen Verfassungskonstruktion, in der alle Unionsmitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens und Dänemarks verpflichtet sind, auf den Beitritt zur Währungsunion hinzuarbeiten, zugleich eine Art Avantgarde eines Europa mit verschiedenen Geschwindigkeiten.
Schreckstarre?
Für Habermas bringt die „List der ökonomischen Vernunft“ ans Tageslicht, dass in der Eurozone „die politischen Kompetenzen für eine notwendige Harmonisierung der auseinanderdriftenden nationalen Ökonomien“ fehle. „Dieser Fehler wird sich, ganz abgesehen von der aktuellen Krise, nur längerfristig beheben lassen, aber nicht mit einem ,Pakt für Europa‘, also mit Hilfe einer unverbindlichen Verabredung der betroffenen Regierungschefs. Hätte dieser tief in die nationalen Kompetenzen eingreifende Beschluss vom 25. März 2011 wider Erwarten doch Erfolg, wäre der Preis eine weitere Aushöhlung der nationalstaatlichen Demokratien. Kurzum, die Politik scheint an der Schwelle von der ökonomischen zur politischen Einigung Europa den Atem anzuhalten und zu verharren. Warum diese Schreckstarre? Das dichte Netz supranationaler Organisationen weckt die Befürchtung, dass der im Nationalstaat gesicherte Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie zerstört und der demokratische Souverän durch weltweit verselbstständigte Exekutivgewalten enteignet wird. Auch im Hinblick auf die EU lautet das Bedenken, das den politischen Defätismus vor allem nährt: Eine Transnationalisierung der Volkssouveränität sei ohne Einschränkung der demokratischen Legitimation nicht möglich, weil diese nur im Nationalstaat verankert werden könne.“ Habermas wehrt sich gegen die Bedenken von Staatsrechtlern, die auch in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingingen. Zugleich denkt er um.
Während Habermas praktisch nichts mehr im Auge haben dürfte als die viel beschworene „Wirtschaftsregierung“, fällt auf, dass er sich in seinem jüngsten Vortrag wohl zum ersten Mal auf die „Logik“ der EU-Verfassung in ihrer Doppelung von Staaten- und Bürgerunion einlässt. Noch im Mai 2010 sprach er in einem Artikel in der Zeit von dem „Geburtsfehler einer unvollendeten, auf halbem Weg stecken gebliebenen politischen Union“. In der Humboldt-Universität kam Habermas nun zur Erkenntnis – und sie ist für die weitere Diskussion über das angebliche demokratische Defizit wichtig –, dass die Europäische Union „nicht etwa ein Gebilde“ sei, „das in der Mitte des Weges vom National- zum Bundesstaat stehen geblieben wäre. Sie bildet vielmehr eine eigene Formation, die sich durch zwei spezifische Neuerungen auszeichnet. Die Unionsbürger teilen sich die Souveränität mit Mitgliedstaaten, die ihr Gewaltmonopol behalten, sich aber gewissermaßen im Gegenzug supranational gesetztem Recht unterordnen.“
Wenn Habermas allerdings meint, dass die „Union von ihren Bürgern nur in Verbindung mit den von ihnen jeweils schon konstituierten Staatsvölkern gegründet worden ist“, mystifiziert er die Entstehung der EU als Staatenprojekt. Die Unionsbürger wurden erst ins Recht gesetzt, als die Staaten in zunehmenden Bereichen Mehrheitsentscheidungen zuließen, was die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments als Vertretung der Unionsbürgerschaft dann zur Bedingung machte. Zudem übersieht Habermas die Pointe, dass die für die EU typische Dopplung und Verschränkung nicht auf Institutionen und Legitimationsstränge beschränkt bleibt, sondern dem Staatsbürger selbst zwei Seelen in die Brust legt.
Keine Ausreden mehr
Jedenfalls konstatiert Habermas mit dieser Wendung, dass die Verfassung der EU in ihrer Eigenart bereits so weit entwickelt ist, dass zwar einzelne Korrekturen notwendig sein mögen, sie im Prinzip aber ihre angemessene Form gefunden hat. Dann aber ist den konkreten politischen Problemen nicht mehr auszuweichen.
EU und Eurozone stecken nicht deshalb in großen Schwierigkeiten, weil sie ein Verfassungsproblem und keine Wirtschaftsregierung haben, sondern weil die Mitgliedstaaten die vereinbarten Regeln nicht eingehalten haben. Die Rede von der Wirtschaftsregierung täuscht vor, als könne sich in der Eurozone eine gemeinschaftliche Exekutive entwickeln. Das wäre dann der Bundesstaat, bizarrer Weise in Form der Währungsunion und nicht der EU insgesamt. Es kann nur darum gehen, dass sich die Staaten gemeinsame Regeln geben, sie mit Sanktionen versehen. Der Stabilitätspakt mit seinen Schuldenkriterien war bei Etablierung der Währungsunion die Form einer „Wirtschaftsregierung“, an die sich die Regierungen nur nicht gehalten haben. „Wirtschaftsregierung“ heißt nichts anderes als Regeln, an die man sich zur Abwechslung auch hält.
Die Eurozone funktioniert als Staatenunion und gemäß dem Prinzip der Einstimmigkeit. Der „Geburtsfehler“ der Währungsunion, wenn man denn in dieser Bildsprache bleiben will, war, dass die Regeln nicht ernst genommen wurden, und mit Griechenland ein Staat aufgenommen wurde, der zu keinem Zeitpunkt vorhaben konnte und vorhatte, sich an diese Regeln zu halten. Gegen die Aufnahme Griechenlands sprachen nicht in erster Linie ökonomische Gründe, sondern die Tatsache, dass hier ein Staat in die Verantwortung der Währungsunion genommen wurde, der beim Beitritt in die EG schon große Schwierigkeiten bekommen hätte, wenn damals die Kopenhagener Kriterien gegolten hätten.
Ökonomische Schwächen und ein Staat, der glaubhaft an ihnen gearbeitet hätte, wären ein viel harmloseres Problem gewesen als das, zu dem ein Staat werden musste, der mit dem Euro nichts anderes im Sinn hatte, als die Bereicherung korrupter Eliten und die Versorgung ihrer Klientel mit Hilfe der niedrigen Zinsen bei Eurokrediten auf die Spitze zu treiben. Ökonomische Bedingungen hätten den Beitritt Griechenlands so oder so erschwert, der Unfähigkeit des Staates und der Unwillen seiner politischen Eliten sich an die Regeln zu halten, mussten ihn ausschließen. Die EU trägt für diesen „Geburtsfehler“ der Währungsunion ganz allein die Verantwortung.
Die politischen Verhältnisse in Griechenland können nur die Griechen selber umwälzen. Mitglied der Währungsunion zu sein, bietet jedoch die Möglichkeit, sich nicht an der eigenen Nase zu packen. Die Mängel griechischer Staatlichkeit sind eine griechische Besonderheit in der Eurozone und werden von den anderen Krisenländern nicht in der gleichen Weise geteilt. In der Währungsunion schützt das jedoch nicht davor, dass die griechischen Probleme zum Problem anderer Schuldnerstaaten und letzten Endes der Währungsunion selbst werden. In der Währungsunion wird mit Geld gemessen. Da hängen alle am gleichen Tropf.
Gegenüber den drängenden politischen Problemen bilden Verfassungsfragen, seien sie nun à la Münkler oder à la Habermas aufgeworfen, Topflappenthemen, mit denen konkreten politischen Entscheidungen ausgewichen wird. Um den Euro gegen die griechische „Ansteckung“ zu schützen, gibt es eine schmerzhafte Alternative: Entweder wird Griechenland unter gemeinschaftliche Verwaltung gestellt oder aus der Eurozone hinausgedrängt. Die Kunst europäischer Politik wird wie immer darin bestehen, diese schroffe Entscheidung zu vermeiden. Hoffentlich ist diese Kunst nicht am Ende.
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.