Im Auge des Zyklons soll es ganz ruhig zugehen. Das Problem ist, dass sich der Zyklon und damit sein Auge rasch und schwer vorhersehbar bewegen. Wenn sich also die Bundesregierung und Teile der öffentlichen Meinung fast überschlagen in Eigenlob darüber, wie rasch und gründlich die Bundesrepublik die Krise überwunden habe, kann es nicht überraschen, dass die Regierenden und ihre Kommentatoren gleichzeitig aus den Augenwinkeln besorgt, ja überängstlich zur Seite und nach nebenan schauen. Erfasst die Schuldenkrise nun, nach Griechenland und Irland, heute oder erst morgen auch Portugal und Spanien? Und wie sicher ist Italien? Grund genug für Sorgen schon innerhalb der Euro-Zone, von der die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik - China und andere Schwellenländer hin oder her - grundlegend abhängt.
Pfeifen im Wald
In der Bundesrepublik selbst sei der stärkste Aufschwung seit der Wiedervereinigung zu feiern, wird erzählt. Ein XXL-Aufschwung sei das, zweimal größer als groß. Unabhängig davon, dass sich viele fragen, warum der Aufschwung an ihnen bisher vorbeigegangen ist, bleibt nüchtern festzuhalten, dass der Einbruch von 2009 alle Nachkriegsrekorde brach. Lag das Wachstum 2010 mit 3, 6 Prozent um 0, 2 Prozent minimal höher als das von 2006, so fällt es umso deutlicher ab gegenüber den 4, 7 Prozent, um die die Wirtschaftsentwicklung 2009 geschrumpft war. Man kann also sagen, dass sich die Bundesrepublik 2010 auf dem Weg einer raschen Erholung befand, dass sie aber erst dabei ist, den Stand von 2008 wieder zu erreichen.
Wenn man erst einen Rekordeinbruch erleben muss, um von einem Wachstum in „Rekordgeschwindigkeit“ sprechen zu können, verblasst der Glanz der „Operation Wunderland“, von der die SZ ähnlich wie andere Zeitungen kürzlich in einer Schlagzeile kündete, doch sehr. Am dicken Ende des Artikels vom 13. Januar kommt fast Katzenjammer auf:
„Die Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden ist seit der deutschen Einheit geradezu explodiert. 1990 stand der Gesamtstaat bei seinen Gläubigern mit 540 Milliarden Euro in der Kreide, zum Ende des letzten Jahres bei etwa 1, 8 Billionen Euro. Ein Grund dafür ist, dass die schwarz-gelbe Regierung Kohl in den 90er Jahren auf Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit verzichtete, weil sie die Sorge hatte, dass sich die Westdeutschen sonst gegen den Zusammenschluss wenden könnten.
Stattdessen blieben die Kosten vor allem an den Sozialversicherungen hängen – mit der Folge, dass vor allem die Rentenkasse einen immer höheren Zuschuss aus dem Bundeshaushalt benötigte. Mittlerweile liegt dieser Zuschuss bei sagenhaften 80 Milliarden Euro – pro Jahr. Da zugleich das Wirtschaftswachstum meist gering und die Staatsausgaben hoch waren, wuchs der Schuldenberg immer weiter an. Die Folgen sind dramatisch: Weit über 60 Milliarden Euro müssen Bund, Länder und Gemeinden mittlerweile allein für Zinsen ausgeben – Geld, das zur Renovierung von Schulen, zum Schließen von Schlaglöchern oder auch zur Entlastung der Steuerzahler fehlt.“ Zwar freut sich das Finanzministerium, dass die Neuverschuldung 2010 geringer ausfiel als erwartet, dass sie dennoch so hoch ausfiel wie nie zuvor, wird weniger laut gesagt.
Mit der Rede vom XXL-Aufschwung lügt sich die Bundesregierung in die Tasche und versucht dem Publikum in diesem wichtigen Wahljahr Sand in die Augen zu streuen. Die Lage wirkt nur ruhig im Auge des Zyklons. Sie ist es nicht. XXL ist aufgeblasen.
Querschläge kommen näher
Während sich die Schlagzeilen zu Jahresanfang überschlugen, um die Triumphe des deutschen Aufschwungs zu feiern, schienen Querschläge von außen aus immer näherer Umgebung zu kommen. In Weißrussland ließ Lukaschenko die Hoffnungen auf eine rechtsstaatliche und demokratischere Entwicklung noch am Abend einer Wahl zerschlagen, die ihm angeblich doch einen gewaltigen Erfolg beschert hatte. „Terror vor unserer Tür“ überschrieb die Zeit am 5. Januar einen Artikel, in dem die Unterstützung der verfolgten Opposition angemahnt wurde. Die SZ- „Außenansicht“ eines Osteuropa-Experten beim German Marshall Fund in Berlin titelte am 12. Januar: „Gescheitert in Weißrussland“. Der Versuch der EU, Weißrussland mehr Kooperationsmöglichkeiten und Förderung einzuräumen und der demokratischen Opposition durch sanften Druck auf Minsk mehr Raum zu verschaffen, hätte sich mit dem Zusammenknüppeln der Protestdemonstration am Wahlabend und der Verhaftung der Oppositionellen als ein „schwarzes Kapitel für Europas oft beschworene soft power“ erwiesen.
„Endlich!“ lautete der Stoßseufzer über einem Artikel zu den Unruhen in Tunesien in der Zeit eine Ausgabe später, um im Untertitel fortzufahren, „Tunesien war bisher stabil – durch Repression. Doch jetzt begehrt das Volk auf, und Europa zittert.“ Getrieben von Furcht sei Europa angesichts der Entwicklungen in Nordafrika, hieß es am 13. Januar in der SZ: „Europa toleriert die Unterdrückung in Tunesien – aus Angst vor Flüchtlingen und Islamisten.“ Die Furcht hat nicht geholfen. Die Diktatur ist weg und mit ihr die scheinbare Stabilität. Tunesien muss sich seinen gewaltigen Problemen stellen, der Armut an Ressourcen und einer rasanten demographischen Entwicklung. Seit der Unabhängigkeit von 1956 hat sich die Bevölkerung mit rund elf Millionen mehr als verdoppelt. Der europäische Tourismus war bisher die wichtigste Einkommensquelle. Diese Luxusform von Unterstützung wird künftig nicht ausreichen.
Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Blöcke neigt Europa immer noch dazu, sich als Wetterwinkel der internationalen Politik zu betrachten. Da sind die Blitzbesuche deutscher Politiker bei den Truppen in Afghanistan geradezu Höhepunkte einer Außenpolitik, die sich – ob mit Sitz im Sicherheitsrat oder nicht – in erster Linie nur als Mittel der Selbstverteidigung versteht und nicht als Teil einer internationalen Ordnungspolitik in der globalisierten Welt. Die Bundesrepublik und die EU müssten sich viel aktiver an der Sortierung und Sammlung der möglichen Kräfte einer solchen Politik beteiligen. Dafür müssten die Prioritäten geklärt werden. Rechtsstaatlichkeit und politische Liberalität sind dabei entscheidende Ziele - und die Mittel, um diese Ziele anzustreben.
Auf absehbare Zeit wird die EU am ehesten in der Lage sein, Rechtsstaatlichkeit und Liberalität vorzuleben und wirksam für sie einzustehen. Zwar gibt es mächtige Staaten, allen voran die USA, die diese Ziele teilen, ihnen für die internationalen Beziehungen aber keine Priorität einräumen. Was die politischen Mittel betrifft, haben die USA Rechtsstaatlichkeit und Liberalität lange Zeit vermissen lassen. Andere große und mächtige Staaten teilen diese Ziele noch nicht mal für sich selbst. Auf Europa wird es also ankommen, um sie, da sie nicht schnell zu verwirklichen sein werden, wenigstens daheim lebendig zu halten und der Welt lebhaft in Erinnerung zu rufen.
Die Augen öffnen
Die europäische Politik hat sich in den Jahren der Verfassungsdiskussion und der institutionellen Reformen in erster Linie mit den Binnenstrukturen der EU befasst. Nicht nur die Passivität gegenüber internationalen Entwicklungen, sondern vor allem auch der fahrlässige Leichtsinn gegenüber gefährlichen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten waren ein Nebeneffekt mit dieser Konzentration auf die Funktionsweise der EU. Über den Auseinandersetzungen um den besten Bauplan für Europa wurde kaum darauf geachtet, wie es eigentlich um die Bausteine bestellt ist, aus denen sich die EU als Staatenunion zusammensetzt.
Die Seite der Bürgerunion ist im Ergebnis der Verfassungsdiskussion und institutionellen Reformen vor allem durch die verbesserte Stellung des europäischen Parlaments gestärkt worden. Der spezifische Mix von Staaten- und Bürgerunion hat sich nach der Gründung der EU als EWG erst nach und nach heraus gebildet. Dass diese demokratische Entwicklung durch – vorsichtig gesagt – problematische Tendenzen in den Mitgliedstaaten konterkariert werden könnte, zeigte sich schlagend in den verlorenen Plebisziten über die Verfassung. Die demokratischen Möglichkeiten in der EU wurden durch die unterschiedlichsten Ressentiments gegen die eigene Regierung und gegen jede Union übertrumpft. Die wesentlichen Elemente der Reform konnten dann nur über den Umweg des Lissabonner Vertrags gesichert werden.
Die Mitgliedsstaaten müssten der ganzen Anlage der EU nach die Keimzellen der europäischen Demokratie sein, die mit dem europäischen Parlament ein eigenes, in seiner Bedeutung wachsendes Forum gefunden hat. Aber Mitgliedstaaten entsenden nicht nur europafeindliche Gruppierungen ins Europäische Parlament, manche Regierungen untergraben die Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land und beginnen damit, den Staat in ein Treibhaus von Illiberalität zu verwandeln.
Demokratische Wahlen sichern nicht per se die Republik, sondern die Republik sichert durch Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, dass Wahlen nicht erst in eine Despotie der Mehrheit und dann in die Herrschaft einer autoritären Clique unter Berufung auf die Mehrheit münden. Nicht Wahlen und Mehrheitsentscheidungen allein, sondern die liberale Republik mit Grundrechten und Gewaltenteilung ist der Garant gegen autoritäre und despotische Herrschaft. Nicht umsonst tobt Berlusconi über die noch immer unabhängige italienische Justiz. Orbans Zwei-Drittel-Mehrheit im ungarischen Parlament ging durchaus strategisch vor, als sie als erstes die Kompetenzen des Verfassungsgerichtes beschränkte. Das neue Mediengesetz im Dienst der Exekutive ist ein weiterer Schritt auf dem Weg in die Illiberalität. Es ist schwer, die republikanischen Fundamente der Demokratie gegen eine Regierung zu verteidigen, die sie mit den Mitteln der Mehrheitsentscheidung beseitigt.
Man kann nicht Leute wie György Konrad für die antitotalitäre Dissidenz seligsprechen und ihr Urteil über die gegenwärtige Entwicklung in Ungarn der Hysterie verdächtigen. Leute wie Konrad sind aus Erfahrung sensibel. Die ungarische Regierung treibt gerade unter den Bedingungen ihrer EU-Präsidentschaft ein gefährliches Experiment voran. „Die Rede ist“, so Konrad im Spiegel-Interview (2/2011), „von einer neuartigen Diktatur. Ihre Neuartigkeit besteht darin, dass sie versucht, innerhalb der europäischen Union zu existieren und zu wirken. Ungarn bietet auch den im Westen Europas existierenden Vorstellungen von einem starken Mann einen Stützpunkt.“
Über die Haltbarkeit und Entwicklungsfähigkeit der EU entscheiden in erster Linie die Mitgliedstaaten. Ein paar Experimente mehr wie das ungarische - mit Mehrheit gegen Liberalität - werden schwer zu verkraften sein. In der Eurokrise zeigt sich ja auch nicht in erster Linie eine Krise der europäischen Währungsunion, sondern eine politische Krise von Mitgliedstaaten und der demokratischen Kontrolle ihrer Regierungen. Könnte sich im Protest gegen die Defizite an Liberalität und demokratischer Kontrolle in den Mitgliedstaaten im Verlauf dieses Jahrzehnts eine neue europäische Bürgerbewegung herausbilden?
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.