Vom Westen gesehen ist es natürlich nicht dasselbe, ob China wegen der Verfolgung und Verurteilung von Dissidenten und Menschenrechtlern kritisiert oder ob es gedrängt wird, seine Währungspolitik zu ändern. Im einen Fall geht es um universelle Normen, im anderen Fall um wirtschaftliche Maßnahmen, die man so oder so beurteilen mag. Aus chinesischer Perspektive mag beides als Versuch erscheinen, China von außen unter Druck zu setzen. Und äußerem Druck will sich China nie mehr beugen. Man darf nicht vergessen, dass es mit der westlichen Auffassung von universellen Rechten bei der brutalen Niederschlagung des Boxeraufstandes konfrontiert wurde und ihm die Bedeutung der Handelsfreiheit zuvor schon in zwei Opiumkriegen eingebläut worden war – von den folgenden Erfahrungen im 20. Jahrhundert gar nicht zu reden. Abwehr jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten und staatliche Souveränität sind das Grundprinzip der Volksrepublik China seit ihrer Gründung. Und so ganz lassen sich auch im Westen der Protest gegen Menschenrechtsverletzungen und Einforderung einer Aufwertung der chinesischen Währung nicht voneinander trennen: Sehr laut wird schon wieder von einem Systemgegensatz geredet. Beides wendet sich gegen die chinesische Regierung und deren Staatsräson. Im einen Fall ist es ganz gerechtfertigt, im anderen weniger. Eine Konfrontation mit dem chinesischen Staat ist es in beiden Fällen. Wir aber, die Grünen und tutti quanti, sollten den unterschiedlichen Charakter der Differenzen auseinander halten. Die Verletzung von Menschenrechten ist wichtiger als die angebliche oder tatsächliche Missachtung von Währungsparitäten. Im einen Fall kann die Weltöffentlichkeit wahrscheinlich auf Dauer viel erreichen, den anderen kann man den Staaten und dem Deal der Regierungen überlassen. Freilich ist auch der wichtigere Fall nicht ganz einfach.
Schroffe Alternative?
Im Vorwort der Charta 08, für die Liu Xiaobo zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wurde, heißt es:
„Die chinesischen Bürger sind nach langwierigen, mühsamen und von Rückschlägen gezeichneten Kämpfen aufgewacht und erkennen in täglich wachsender Klarheit, dass Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechte gemeinsame und universelle Werte der Menschheit sind, dass Demokratie, Republik und verfassungskonforme Regierung Basis und Rahmen moderner Politik sind. Eine ,Modernisierung‘, die sich von diesen universellen Werten und solchen Grundlagen der Politik entfernt, kann nur zu einem Katastrophenprozess werden, der den Menschen ihre Rechte raubt, ihre Vernunft korrumpiert und Würde zerstört. Wohin wird China im 21. Jahrhundert gehen? Wird es weiter die ,Modernisierung‘ unter autoritärer Herrschaft verfolgen? Oder wird es sich mit den universellen Werten identifizieren, mit dem ,Mainstream‘ verschmelzen und ein demokratisches Regierungssystem aufbauen? Dieser Entscheidung können wir nicht mehr ausweichen.“
Gibt es tatsächlich nur diese beiden gegensätzlichen Möglichkeiten? Oder ist ein muddling through nicht viel wahrscheinlicher? Und von den Autoritäten her gesehen sogar vernünftiger? Oder ist eine solche Frage schon Verrat an den Universalien?
Die Charta 08 ist eine politische Meinungsäußerung und für politische Meinungsäußerungen kommt man in Europa seit einiger Zeit, und von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr ins Gefängnis. Aber man tut den Verfassern und Unterzeichnern der Charta Unrecht, wenn man verkennt, dass sie mit ihrem Text das herrschende Regime offen angreifen und dazu aufrufen, es grundlegend zu verändern. Es ist ein Aufruf zum Handeln, zu gewaltfreiem sicher. Aber es ist ein revolutionäres Manifest für China. Es ist im Geist eines „Wir wollen alles und zwar sofort!“ formuliert.
Unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit ist es völlig egal, ob diese Haltung politisch vernünftig ist oder nicht. Niemand sollte für sie ins Gefängnis müssen. Wenn dafür jemand verfolgt wird, warum sollte man dagegen nicht überall in der Welt protestieren? Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu ist ein solcher Protest, und er ermutigt die Unterzeichner der Charta 2008 dem herrschenden Druck standzuhalten.
Jede Reformpolitik hat ein Problem
Aber man sollte über der Kritik an der chinesischen Justiz und dem autoritären Regime nicht die realen Probleme übersehen, mit denen sich die chinesische Regierung schlecht und recht herumschlägt. Das Hauptproblem, vor dem die Reformen in China stehen, bleibt: Wie das Land so reformieren, dass es darüber nicht auseinander bricht und in Chaos versinkt? So, dass die bisherigen Fortschritte in der Armutsbekämpfung und auch in der Erweiterung der persönlichen Spielräume nicht gefährdet werden? Das Regime verhindert nicht, dass über diese Fragen diskutiert und gestritten wird. Es verhindert aber, dass in dieser Diskussion auch Meinungen und Positionen offen und gefahrlos vertreten werden können, die der chinesischen Regierung und innerhalb Chinas wahrscheinlich nicht nur ihr als extrem gelten. Die Charta stellt Freiheits- und Rechtsprinzipien ins Zentrum, die Regierung Stabilität und Entwicklung. Es wäre verkehrt, wenn man auf Seiten der Regierung nur bedingungsloses Streben nach Machterhalt vermuten würde.
Was die chinesische Vizeaußenministerin Fu Ying in einem Interview mit der Zeit ausführte, kann man nicht als reine Apologetik abtun:
„Wenn sie China verstehen wollen, dann reicht es nicht, die Dinge herauszugreifen, die Sie interessieren. Es ist nicht genug, den Leuten zuzuhören, die Ihnen nach dem Mund reden, die Ihre Sprache sprechen. Es sind immer die Interessen der Mehrheit, die zählen. Es ist nicht schwer, unter Chinas 1,3 Milliarden Menschen Extremisten zu finden. Es gibt zu allem unterschiedliche Ansichten. Aber weise Entscheidungen kann man nur treffen, wenn man genau prüft, was für die Mehrheit der Menschen auf dem Spiel steht.“
Sicher ist Liu Xiaobo für Frau Fu Ying ein Extremist, weniger wegen der Grundsätze der Charta 08, als wegen der Vorstellung, sie ad hoc umzusetzen. „Wir glauben an die Kritik“, sagt sie. „Ohne Kritik hätte es nicht über drei Jahrzehnte hinweg Reformen gegeben. Die Dinge bewegen sich langsam in China, weil das Land so groß ist. Aber die Reformen gehen weiter.“ Im Grunde entgegnen die Reformer in Chinas Regierung und der herrschenden Partei den westlichen Kritikern immer wieder: Wir wollten euch mal sehen, wenn ihr es mit unseren Problemen zu tun hättet.
Noch einmal Fu Ying:
„Der Westen erkennt den wirtschaftlichen Fortschritt in China an. Er würdigt auch Chinas Rolle bei der Bewältigung der Finanzkrise. Aber zugleich ignoriert er entschlossen den politischen Fortschritt. Diese Logik funktioniert nicht. Das ist als wolle man sagen, China habe all dies ohne Regierung, ohne Partei, ohne Politik erreicht, gewissermaßen in totaler Anarchie.“
Darin steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit. Die Entgegensetzung von ökonomischen Reformen und politischer Reaktion stimmt nicht. Es hat sich sogar im politischen Umgang mit Dissidenten etwas geändert. 2004 hat China in seiner Verfassung festgehalten, dass „der Staat Menschenrechte respektiert und sichert.“ Daran erinnerte Liu Xiaobo in einer nicht gehaltenen Verteidigungsrede: „Was dieser große Prozess bedeutet, habe ich gesehen, seit ich in Haft sitze. Ich beharre auf meiner Unschuld und darauf, dass die Anklagen gegen mich verfassungswidrig sind. Doch habe ich in dem mehr als einem Jahr, in dem ich meine Freiheit verloren hatte, zwei Gefängnisse, vier verschiedene Polizeioffiziere, drei Staatsanwälte und zwei Richter erlebt. Im Umgang mit mir hat es keine Respektsverletzungen gegeben, keine Zeitüberschreitungen und auch keine erzwungenen Geständnisse.“ Damit fängt der Rechtstaat an: Man fühlt sich zu Unrecht inhaftiert und bei Liu Xiaobo trügt dieses Gefühl nicht. Immerhin aber wird man über die Zumutung der Haft hinaus nicht zusätzlich schikaniert und gequält. Wenn das in China zur Regel würde, wäre ein großer Schritt gemacht. Die Regel ist das auch im Westen nicht unbedingt. Dafür kommt man für bloße Meinungsäußerung nur noch selten ins Gefängnis.
Gesellschaften brauchen solche „Extremisten“, solch mutige Wortführer wie Liu und die Unterzeichner der Charta 08 immer wieder, damit sie beim verordneten politischen Schneckengang nicht ihre besten Möglichkeiten verpassen.
Westliche Obsession
Der frühere Bundeskanzler Kiesinger hatte in der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung 1968 eine schreckliche Vision. Er sage nur „China, China, China“, beschwor er den Deutschen Bundestag. Er fürchtete damals, die Studentenbewegung importiere die chinesische Kulturrevolution in die Bundesrepublik. Das durfte nicht sein. Protektionismus half aber nicht. Ideen sind frei. Sogar verkehrte.
Die stürmische Entwicklung Chinas, das heute eine ganz andere und tiefer gehende Kulturrevolution durchmacht als damals, und Chinas Politik sind heute mehr denn je zu einer westlichen Obsession geworden. China, China, China: Es reißt sich weltweit die Rohstoffe unter den Nagel, es erobert die Weltmärkte, es investiert nicht nur in Venezuela, sondern auch in Griechenland. Und wie kommt es dazu? China manipuliert seine Währung und es unterdrückt seine Bevölkerung! Aber vielleicht kann der Westen nur schwer akzeptieren, dass ein Land, dass er einst unterworfen hatte, ihm neuerdings von gleich zu gleich gegenübertritt?
Mit der VR China tritt Europa, einschließlich Russlands, erstmals ein Staat als Macht gegenüber, den sie früher unter sich aufzuteilen gewillt waren. Mit dem sie, auch die USA, umspringen konnten, den Russland und dann Japan zu großen Teilen besetzt und annektiert hatten. Chinas Empfindlichkeiten aus dieser Geschichte sind bekannt und China macht auch kein Hehl aus ihnen. Aber erinnert sich der Westen, erinnern sich Japan und Russland an die eigenen expansiven Großtaten, wenn sie China wegen seines Kapitalexports, seiner Rohstoff- und Währungspolitik kritisieren? China hat eine große produzierende Bevölkerung. Das ist die westliche Sorge. Aber die will auch leben und essen. Das bleibt die Sorge jeder chinesischen Regierung und die Hoffnung aller Möchtegern-Exportweltmeister.
Westliche Routine und chinesischer Mut
Der neue, aus Indien stammende Generaldirektor von Amnesty International, Salil Shetty, meinte im Gespräch mit der FAZ, um wirksameren Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen in China zu entfalten, sei vor allem zweierlei erforderlich: Die westlichen Länder müssten stärker als bislang ihrer Rolle als Vorbilder gerecht werden und aufhören zweierlei Maß anzuwenden. Es sei nicht glaubwürdig, einerseits Roma bei Nacht und Nebel außer Landes zu schaffen, andererseits aber gegenüber Drittländern auf die Einhaltung der Menschenrechte zu pochen. Zudem müssten sich auch Staaten wie Brasilien und Indien bei Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern stärker engagieren. Wenn künftig aus solchen Staaten genauso viele Protestschreiben und Solidaritätsbekundungen an die Verursacher von Menschenrechtsverletzungen abgeschickt würden wie aus der westlichen Welt, dann dokumentiere dies eindrucksvoll, dass Menschenrechte eben nicht als „westliche Werte“ abgetan werden könnten, wie dies manche Regime versuchten .
„Wir dürfen nicht schweigen“, meinte in einer Rede zum 60. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 2008 der damalige deutsche Außenminister: „Auch nicht gegenüber China und erst recht nicht angesichts der Verhaftung von Liu Xiaobo, der vor zwei Tagen verhaftet wurde, weil er den Appell ,Charta 2008‘ verteilen wollte. Ein Ereignis, das die menschenrechtlich unbefriedigende Lage nochmals dokumentiert.“ Leider lässt bei solchen Gelegenheiten allein schon die Sprache bürokratische Routine anklingen. Wie hätte es bei den amtlichen Erklärungen zur Vergabe des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo anders sein können? Alles andere als Routine bewiesen dagegen die chinesischen Unterzeichner eines Offenen Briefes an die Führung in Peking, wo die Freilassung Lius und aller politischen Gefangenen gefordert wird .
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.