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Globalismus und Wahn

US-Präsident Barack Obama bei der Gedenkveranstaltung am 11. September 2010 in Washington.
Foto: United States Marine Corps Official Page (Quelle: Flickr.com). Dieses Foto steht unter einer Creative Commons Lizenz.

20. September 2010
Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Vielleicht hat ja in den Hochzeiten des Kalten Krieges und des Antikommunismus irgendwo, irgendwann und irgendjemand damit gedroht, das „Kapital“ von Karl Marx, „Was tun?“ von Lenin oder „Vom Widerspruch“ Mao Tse Tungs, vielleicht passend zum Datum des 1. Mai, den Flammen zu übergeben. Vielleicht ist es sogar zu solch einer Verbrennung gekommen. Zu globalem Aufsehen gebracht hat es jedenfalls weder eine Drohung noch eine entsprechende Tat, wenn es sie denn gegeben haben sollte. Stattdessen hat sich in Westdeutschland zum Beispiel der Jesuitenpater Gustav A. Wetter große Mühe gegeben, den „Marxismus“ in Taschenbüchern zu erklären und zu widerlegen. Aber wäre es, angenommen so eine Drohung oder Tat hätte es gegeben, deshalb zu empörten Massendemonstrationen in Moskau oder Peking, oder auch nur in Berlin, Frankfurt am Main oder Heidelberg gekommen? Sicher nicht. Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht, hätte es vielleicht geheißen. Wenn er uns aber so bekämpft, macht er sich nur lächerlich, weil er seinen eigenen Anspruch, die Freiheit zu verteidigen, verrät. Haben sich die Zeiten und die Konflikte geändert, oder waren früher einfach die Medien weniger entwickelt, weniger mächtig und ein bisschen vernünftiger?

Ende einer Debattenkultur?

Amin  Maalouf stammt aus dem Libanon und schreibt auf Französisch. Der großartige Romancier und Essayist meint,  die Konflikte hätten sich von der Auseinandersetzung um Ziele und die Methoden, sie zu erreichen, zur rabiaten Verteidigung dessen, was man ist oder zu sein glaubt, verschoben. Fast melancholisch erinnert an die Debatten von früher:

Solange die ideologische Auseinandersetzung zwischen Anhängern und Gegnern des Marxismus andauerte, war die ganze Welt ein einziger Debattierclub. Die meisten Gesellschaften führten in Zeitungen, Universitäten, Büros, Fabriken, Cafés, Privathäusern endlose Diskussionen über die Vorzüge und Nachteile dieses oder jenes Wirtschaftsmodells, dieser philosophischen Richtung oder jenes sozialen Systems. Seit der Kommunismus besiegt worden ist, seit er der Menschheit keine glaubwürdige Alternative mehr zu bieten hat, sind solche Debatten gegenstandslos geworden“. (1

Er folgert, vermutlich habe „auch das politische und moralische Scheitern eines entschieden atheistischen Marxismus den religiösen Zusammenhalt, den er hatte ausrotten wollen, wieder zu Ehren gebracht“. In der unflätigen Art, wie er sich in Briefen gelegentlich äußerte, würde Marx wohl konstatieren, so fange „die ganze alte Scheiße wieder von vorne an“.  

Ein Verrückter hält die Welt in Atem

Wie viele andere bezeichnete auch der Thriller-Autor John Grisham die von Terry Jones ursprünglich für den 11. September geplante Koranverbrennung als „die Aktion eines sehr intoleranten Menschen“. Der zündelnde Evangelikale sei „ein Verrückter, ein religiöser Fanatiker, der Hass verbreitet, anstatt seiner Aufgabe als Pastor nachzukommen“. (2) Aber beunruhigend ist nicht, dass es Verrückte gibt. Die gab es immer und wird es wohl auch in Zukunft geben. Es beunruhigt, dass ein solch einzelner Verrückter heute rund um den Globus Aufregung verbreiten und in manchen Städten mit islamischer Bevölkerung Aufruhr hervorrufen kann. Erst diese Spannung macht einen Verrückten für die Medien interessant und zwingt den Präsidenten der USA und den Oberkommandierenden der alliierten Truppen in Afghanistan zu warnenden Stellungnahmen.

Wenn sich diese Spannung nicht entlädt, ist selbst in seriösen Zeitungen wie der FAZ fast ein bisschen Enttäuschung zu spüren. Ihr Washingtoner Korrespondent vermeldet am 12. September, dass, obwohl Terry Jones aus Gainesville in Florida „nach einigem Zögern seine geplante Koranverbrennung“ abgesagt hatte, es am Gedenktag für die Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 an verschiedenen Orten zu Schändungen des Korans gekommen sei, „ohne dass diese ein nennenswertes Echo in den Medien gefunden“ hätten. Sollte etwas Vernunft und Verantwortung in den Medien Einzug gehalten haben? Aber warum musste der Korrespondent dann fortfahren, dass bei einem Protest gegen das geplante islamische Gemeindezentrum im Süden Manhattans „Demonstranten Seiten aus einem Exemplar des Korans herausgerissen und angezündet“ hätten? In der Nähe von Nashville im Bundesstaat Tennessee „verbrannten zudem zwei fundamentalistische Prediger mindestens zwei Exemplare des Korans“. Das „mindestens“ zeigt die Sorgfalt der Recherche und die Bedeutung des Ereignisses. Die FAZ meinte, ihrer Chronistenpflicht auch illustrativ nachkommen zu müssen, indem sie ein Foto der beiden Pyromanen ins Blatt rückte. Genau für dieses Foto aber hatten sich die Beiden ja auf die grüne Wiese begeben und ihr Feuer gelegt. (3) Bestimmt haben sie es auch ins Internet gestellt.

Nichts wird mehr sein wie es war

Präsident Obama hat seine Gedenkrede zum 11. September zwar vor dem Pentagon gehalten, in das die Terroristen auch ein Flugzeug gelenkt hatten, doch zum Symbol für den vernichtenden Schlag mit seinen tausenden Opfern ist das zusammenstürzende World Trade Center in New York geworden. Ein Zentrum der globalen und zivilgesellschaftlichen Vernetzung des gerade beginnenden Jahrtausends. Noch nie war die westliche Zivilisation so frontal, so brutal und mit so eindeutiger Semantik angegriffen worden. Das Motto der Situationsanalysen, nichts werde mehr sein wie zuvor, klang plausibel. Es entsprach nicht nur der Regierungsmeinung in den NATO-Staaten. Doch entweder war die Feststellung eine Trivialität. Ein Ereignis wie der 11. September verschwindet nicht unter den faits divers. Es wirft ein Schlaglicht auf die Zeit. Oder sie war irreführend. Ein solches Ereignis verändert zweifellos die Sicht auf die Welt, aber verändert es auch die Welt?

Die Welt hatte sich schon 1989 mit dem Ende der Blockordnung einschneidend verändert, aber der Versuch, diese veränderte Welt zu verstehen, wurde im Westen und vor allem in den USA durch die Anschläge vom 11. September 2001 determiniert. Die strategische Antwort nicht nur der Bush-Regierung war der „Krieg gegen den Terror“. Doch damit erreichte die Verschiebung zum Identitären auch den Westen, indem er nun seine Politik als Reaktion auf ein Verbrechen entwarf, dessen Opfer er selbst geworden war. Ausgangspunkt einer Politik des Identitären sind Verletzungen des Eigenen. So hat sie ihren Ursprung auch nicht im Westen. In der Verarbeitung des 11. September 2001 und mit der strategischen Antwort des Krieges gegen den Terror aber passte sich der Westen einer allgemeinen Tendenz an, die seither zum globalen Faktum zu werden droht.

Amin Maalouf beschreibt diese Entwicklung in "Die Auflösung der Weltordnungen":
Die Verschiebung vom Ideologischen zum Identitären hat sich auf dem ganzen Erdball verheerend ausgewirkt, nirgendwo aber so sehr wie im arabisch-muslimischen Kulturraum, wo der lange Zeit minoritäre und verfolgte religiöse Radikalismus innerhalb der meisten Gesellschaften wie auch in der Diaspora die vorherrschende geistige Strömung wurde und sich mit seinem Erstarken eine strikt antiwestliche Haltung zu eigen machte“.

Der „Krieg gegen den Terror“ bildet den Mechanismus der diese Verschiebung dort wie hier weiter antreibt. Die Bedeutung der Präsidentschaft von Barack Obama besteht gerade darin, dass er aus diesem Mechanismus auszubrechen versucht. Doch in dem der Präsident sich zu Aufklärung, Vernunft und Mäßigung bekennt, ruft er in den USA wilden Protest hervor und weckt rund um die Welt Schadenfreude, wenn er auf Hindernisse und Widerstand stößt.

Die Falle

Auch in der Rede zum 11. September, wie bei all seinen Bemühungen, die politische Landschaft gegen den ausufernden religiösen Hass zu sichern, betonte der Präsident, die USA befänden sich nicht in einem Krieg mit dem Islam, sondern gegen die Terroristen von Al Qaida. Terroristen die den Islam verzerrten und für ihre Zwecke missbrauchten. Die Absicht, klar zwischen islamistischem Fanatismus und dem Islam, zwischen Terroristen und der übergroßen Mehrzahl von Muslimen, zu unterscheiden, ist ehrenwert, doch wird sie durch den „Krieg gegen den Terror“ permanent konterkariert. Der Versuch, die Terroristen mit militärischen Mitteln auszuschalten, findet notgedrungen dort statt, wo sie sich eingenistet haben, also in Ländern mit muslimischer Bevölkerung. Selbst jetzt, wo es eindeutige Richtlinien gibt, wie die Bevölkerung bei Angriffen auf die Taliban und Al Qaida zu schützen sei, gibt es bei den Militäraktionen in Afghanistan immer wieder hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung. Wie jeder Krieg folgt auch der Krieg in Afghanistan, vom Irakkrieg gar nicht zu reden, der Logik des Gegensatzes „Wir gegen die Anderen“. Und da die anderen sich in einem islamischen Land bewegen, ist es sehr schwer, nicht den Islam zum gemeinsamen Kennzeichen der anderen zu machen und die klare Unterscheidung zwischen islamistischen Terroristen und muslimischer Bevölkerung aufrecht zu halten.

Dass so die globale „Responsibility to Protect“ lokal und regional leicht als fremde Besatzung angegriffen werden kann, ist offensichtlich. Andererseits lässt sich wiederum in den USA leicht der Islam verantwortlich machen für die eigenen Toten. Und rückwirkend wird er dann auch verantwortlich gemacht für die Toten vom 11. September. George W. Bush hatte diese Gefahr für den inneren Frieden sofort erkannt und versuchte sie durch den Schulterschluss mit dem islamischen Establishment zu bannen. Durch seinen „Krieg gegen den Terror“ hat er aber den Rückschlag im eigenen Land provoziert. Ein „Verrückter“ wie Terry Jones hat vor diesem Hintergrund seinen Auftritt. Und vor diesem Hintergrund findet dieser Auftritt sein globales Echo.

Das Dilemma ist klar

Ausbildungsstätten und Rückzugslager des islamistischen Terrorismus können nicht als leidige Tatsache akzeptiert werden. Sie in einem islamischen Land auszuschalten, wird aber dort durch Verluste der Zivilbevölkerung die Trennlinie zwischen Terroristen und Muslimen verschwimmen lassen. Umgekehrt können in den nichtislamischen Ländern die Muslime leicht verdächtigt werden, insgeheim auf der Seite der Terroristen zu stehen. Kurz: Die Intervention von außen mag als Polizeimaßnahme gegen international geächtete Verbrecher noch so gerechtfertigt sein – und die Intervention in Afghanistan hat durch die Sicherheitsratsbeschlüsse die denkbar stärkste Legitimation -, sie bleibt nur momentaner Notbehelf. Als unkontrollierbaren Kollateralschaden kann der Notbehelf  eine globale Gewaltspirale in Bewegung setzen, zumal wenn er wie in Afghanistan von Beginn an mit unzureichenden Kräften gehandhabt wird und zugleich Ziele proklamiert, die durch keine äußere Intervention, und so oder so nicht kurzfristig, zu verwirklichen sind.

Barack Obama hat den Mut gehabt, den Kriegseinsatz im Irak zu beenden, obwohl die Situation dort alles andere als stabil ist. In Afghanistan herrscht offener Bürgerkrieg. Wenn nun klar ist, dass das Land militärisch nicht befriedet werden kann, sollten die internationalen Truppen doch so lange bleiben und kämpfen, bis auch den Taliban einleuchtet, dass sie den Krieg durch Verhandlungen und in Machtbalance beenden müssen. Werden die USA und der Westen einstweilen die eigenen „Verrückten“ in Schach halten können? Es gibt ein globales Interesse an einer erfolgreichen Präsidentschaft Barack Obamas.  Ein vernünftiges, also universelles sowieso.


Fußnoten:
(1) Amin Maalouf, Die Auflösungen der Weltordnungen. Aus dem Französischen von Andrea Spingler, Berlin (Suhrkamp Verlag) 2010, S. 20
(2) Süddeutsche Zeitung vom 10.9.10
(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.9.10

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.

 

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