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Berufsbildung - Erfolgsmodell mit Reformbedarf

3. Juli 2008
Von Torsten Arndt

Von Torsten Arndt

Der am 12. Juni veröffentlichte 2. Nationale Bildungsbericht bescheinigt der Berufsausbildung in Deutschland anhaltende Leistungsfähigkeit und ein hohes internationales Ansehen. Auch bei der Round Table-Konferenz "Berufliche Bildung – zur Zukunft der deutschen Berufsausbildung zwischen Europäisierung, Flexibilisierung und Durchlässigkeit" in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt in Berlin gab es keine radikale Systemkritik zu hören. Die Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die der Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung und des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln gefolgt waren, forderten einmütig, dass das Prinzip der parallelen Ausbildung in Betrieb und Schule auch künftig das Herzstück der deutschen Berufsbildung bleiben müsse. Die Meinungen gingen erwartungsgemäß auseinander, als es um die Zielsetzungen und notwendigen Strukturreformen des dualen Systems ging. 

Der Lernort Betrieb soll bleiben

Der gute Ruf der deutschen Berufsausbildung ist angesichts der Abkehr von anderen korporatistischen Regulierungsformen in der deutschen Wirtschaft nicht selbstverständlich. Die Konferenz vermittelte allerdings den glaubwürdigen Eindruck, dass das Berufsprinzip seine große Anziehungskraft weder bei Bildungspolitikern noch bei Wirtschaftsvertretern eingebüßt hat.

Die duale Ausbildung in Schule und Betrieb sollte nach Ansicht von Michael Hüther auch künftig eine zentrale Basis für das angestrebte "lebenslange Lernen" qualifizierter Arbeitnehmer bleiben. IG Metall-Vertreter Michael Guggemos ergänzte, dass der "Beruf" dem Arbeitnehmer im Gegensatz zum "Job" bis heute Stolz und Identität vermittele. Die gesellschaftliche Integrationsleistung des dualen Systems sei deshalb ebenso wichtig wie dessen wirtschaftliche Funktion.  Für Karl-Heinz Müller ist die Verknüpfung von Bildung und Beschäftigung durch das duale System angemessener Ausdruck der Globalisierung. Für Joachim Kohlhaas  ist das duale Lernen die richtige Mischung aus Reflexion und Realität, das Lernchancen unabhängig vom Lernort biete.

Von der Schule in den Beruf  - Die Krise des Übergangssystems

Wie viele andere Bereiche der sozialen Marktwirtschaft steht auch die Berufsausbildung unter hohen Anpassungszwängen. Thomas Sattelberger, Personalvorstand der Deutschen Telekom AG,  machte deutlich, dass Unternehmen in angespannter Wettbewerbssituation auch  bei den Lehrstellen sparen und  Auszubildende Lehrlinge nach ihrer Ausbildung nicht von den Betrieben übernommen werden könnten. Demographische Veränderungen, der wirtschaftliche Strukturwandel und die Internationalisierung der Wirtschaft haben dazu geführt, dass die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen und das entsprechende betriebliche Angebot weit auseinander klaffen. Die scheinbar paradoxe Folge: Fehlende Lehrstellen stünden einem wachsenden Fachkräfteengpass gegenüber.

Die Konjunktur des vergangenen Jahres konnte diesen strukturell bedingten Trend noch nicht  völlig umkehren. Martin Baethge vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen, der zur Autorengruppe des neuen Bildungsberichts gehört, verwies darauf, dass sich die Zahl der Schulabgänger, die seit mindestens einem Jahr auf eine Lehrstelle warten, auf etwa 385.000 erhöht habe. Betroffen seien insbesondere Jugendliche, die keinen oder nur einen Hauptschulabschluss vorweisen können.

Vielfach werden  diese sogenannten "Altbewerber" in einem staatlichen Übergangssystem mit Qualifizierungsmaßnahmen auf eine künftige Berufsausbildung vorbereitet. In der Praxis gibt es Baethge zufolge allerdings erhebliche Schwierigkeiten. Das Übergangssystem gleiche einer immer länger werdenden  Warteschleife, es ist zu ineffizient und zu teuer. Eine Folge dieser Entwicklung: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland liegt heute leicht über dem OECD-Durchschnitt, allerdings deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Den Betroffenen drohen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung.

Wer ist ausbildungsfähig?

Die Vorschläge zur Lösung des Dilemmas reichen von allgemeinen Reformen des Bildungswesens über die Stärkung einer dritten Ausbildungsstufe bis hin zu Plänen für die Einführung von Teilqualifikationen.

Vertreter von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden machten darauf aufmerksam, dass immer mehr Lehrstellenbewerber  nicht ausreichend qualifiziert und deshalb nicht "ausbildungsfähig" seien. Wilfried Biallas, Ausbildungsleiter bei Aesculap in Tuttlingen, gab einen Einblick in die betriebliche Praxis. Er wies darauf hin, dass die Abiturquote unter den Auszubildenden seines Unternehmens mittlerweile bei 90 Prozent liege. Viele Lehrlinge mit geringerer Qualifizierung bewältigten die Anforderungen nur mit intensiver Nachhilfe.

Priska Hinz von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen bestand dagegen darauf, dass die wachsende Zahl der "Altbewerber" nicht allein mit deren angeblich mangelhafter Vorbildung erklärt werden könne. Zusammen mit ihrer Fraktionskollegin Brigitte Pothmer legte Hinz das Reformpapier "DualPlus" vor, in dem sie die Förderung eines dritten regelmäßigen Lernorts vorschlagen. Neue überbetriebliche Ausbildungsstätten sollen eng mit Betrieben zusammen arbeiten und den Jugendlichen neue Perspektiven anstelle der Warteschleife des Übergangssystems bieten. Hinz und Pothmer fordern zudem die Einführung von Ausbildungsmodulen, die aufeinander aufbauen und schrittweise zu einer vollwertigen Lehrausbildung führen können. Einmal erworbene Kompetenzen der Auszubildenden würden auf diese Weise nicht mehr verloren gehen.

Die Europäisierung der Ausbildung

Mit ihrer Forderung nach Teilqualifikationen wiesen Priska Hinz und Brigitte Pothmer in eine ähnliche Richtung wie Dieter Euler vom Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St.Gallen. Euler analysierte das duale System im EU-Kontext.

Die Europäische Kommission strebt die europaweite Mobilität von Auszubildenden und Arbeitnehmern an. Deshalb hat die Kommission mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) und dem Europäischen Leistungspunktesystem in der beruflichen Bildung (ECVET) erste institutionelle Schnittstellen zwischen den nationalen Systemen der Berufsausbildung geschaffen. 

Deutschland wird sich dieser Entwicklung nach Ansicht von Euler langfristig nicht völlig entziehen können. Die geplanten Reformen werden die rigide Struktur des dualen Systems auflockern und sollten Euler zufolge als Chance begriffen werden, neue Lösungen für die deutschen Ausbildungsprobleme zu testen. Ausbildungsbausteine und Teilqualifikationen sollten zentrale Elemente dieser Reformen sein.

Der Vorschlag Eulers traf bei der Konferenz nicht auf ungeteilte Zustimmung. Friedrich Hubert Esser, Abteilungsleiter Berufsbildung beim Zentralverband des Deutschen Handwerks, warnte vor einer "Schmalspurausbildung". Die Aufspaltung der dreijährigen Ausbildung in einzelne Module werde unweigerlich zu Qualitätsverlusten führen. Es gebe keinen Grund für eine derart tiefgreifende Reform des dualen Systems. Problematisch sei viel eher der Mangel an gut ausgebildeten Lehrlingen. Gerade das Handwerk leide darunter, dass viele Schüler mit guten Abschlüssen eine akademische Ausbildung wählen, so Esser. Durch verstärkte Anwerbung leistungsstarker Schulabgänger und die Gleichstellung beider Ausbildungswege sollte dem künftig entgegen gewirkt werden.

Vom Beruf in die Hochschule – Vermeidung von Bildungssackgassen

Neben Hubert Esser sprach sich auch Thomas Sattelberger für eine Neuordnung der Beziehungen zwischen Beruf und Hochschule aus.  Für viele Unternehmen sei es aus betriebswirtschaftlicher Sicht entscheidend, die wissenschaftliche Ausbildung ihres Personals zu gewährleisten. Dies werde durch die praktische Abschottung der Hochschulen gegenüber Facharbeitern und Handwerkern verhindert. Nötig sei ein „Biotop für Bologna“ auch in der Berufsausbildung mit einer breiten Berufsgruppenorientierung mit Zertifizierung statt monolithischer Berufsbilder. Berufsausbildung sei Teil der Personalentwicklung.

Martin Baethge bestätigte die Forderungen Sattelbergers und verwies zugleich auf die im internationalen Vergleich geringe Studentenquote in Deutschland. Die Einführung eines "Berufsabiturs" könnte es Facharbeitern und Handwerkern künftig ermöglichen, sich an Hochschulen akademisch weiterzubilden. Durch eine erleichterte Zulassung interessierter Arbeitnehmer wäre Thomas Sattelberger zufolge eine Erhöhung der Studentenzahlen um bis zu 25 Prozent möglich.

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