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Veranstaltungsbericht: Neue Leitbilder für die Hochschule

Die 22. Hochschuldebatte in Berlin beschäftigte sich mit den fehlenden Leitbildern der Universitäten. Foto: Heinrich Böll Stiftung. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

29. Oktober 2009
Von Stephan Ertner

Die 22. Berliner Hochschuldebatte, veranstaltet von Heinrich-Böll-Stiftung und der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung, diagnostiziert einen eklatanten Mangel an Leitbildern für die Hochschulen und diskutiert, welche Potenziale im Leitbild der Nachhaltigkeit für die deutsche Wissenschaft stecken.

Von Stephan Ertner 

Spätestens die Exzellenzinitiative von Bund und Ländern hat in Deutschland Schluss gemacht mit der Vorstellung, dass alle Hochschulen gleich sein sollen und auch das Gleiche tun müssen. Die Exzellenzinitiative setzt auf eine Ausdifferenzierung des Hochschulsystems und fordert von den einzelnen Hochschulen, sich zu profilieren.

Nach welchen Kriterien diese Ausdifferenzierung erfolgen soll ist jedoch noch eine offene Frage. Bislang erfolgt sie relativ eindimensional nach dem Muster der Exzellenzinitiative: Sie weist die exzellenten und die weniger exzellenten Einrichtungen aus - eine vertikale Differenzierung. Und folgerichtig stellen sich die Universitäten tapfer dem internationalen Wettbewerb um die „besten Köpfe“.

Weit weniger häufig geht es darum, die „richtigen Köpfe“ zu finden. Diese Perspektive würde einer „horizontalen Differenzierung“ entsprechen, einer Ausdifferenzierung nach spezifischen thematischen Ausrichtungen, nach Ansätzen und Methoden. Die Berliner Hochschuldebatte am 27.10.2009 verfolgte genau diese Frage nach den Möglichkeiten einer solchen horizontalen Differenzierung. Sie untersuchte, welche Potenziale im Leitbild Nachhaltige Entwicklung stecken.

Phantasielose Leitbilder
In seinem einleitenden Vortrag diagnostizierte Uwe Schneidewind, Professor an der Universität Oldenburg einen eklatanten Leitbildmangel an den Hochschulen. Diese säßen in einer „Autonomiefalle“. Die Reformen der letzten Jahre hätten zwar dazu geführt, dass Hochschulen heute so selbständig entscheiden könnten wie nie zu vor. Das führe, so Schneidewind,  jedoch nicht zu einer neuen Pluralität im System. Ganz im Gegenteil: Die Einrichtungen orientierten sich eher in dieselbe Richtung.

Das zeige sich insbesondere an den Leitbildern, die sich die Universitäten geben. Allerorts ginge es darum, im Wettbewerb um Forschungsexzellenz mitzuhalten, selten aber um die Frage in welchen Feldern, mit welchen Schwerpunkten und mit welchen Ansätzen dies erfolgen soll. Diese Phantasielosigkeit sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass außerhalb der Wirtschaft kaum Vorstellungen darüber existierten, was Hochschulen leisten sollten. Denn die Akteure der Zivilgesellschaft wissen oft nur, welche Art von Hochschule sie nicht wollen. Sie formulieren im Gegensatz zur Wirtschaft keinen positiven Begriff.

Schneidewind schlug vor, über Nachhaltige Entwicklung als Leitbild für die Hochschule nachzudenken. Anhand zentraler Thesen aus seinem Buch „Nachhaltige Wissenschaft. Plädoyer für einen Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem“ verdeutlichte er, dass die Orientierung auf Nachhaltigkeit einen wichtigen Impuls darstellen würde, um wissenschaftliche Antworten auf die großen Transformationsherausforderungen der Gesellschaft zu entwickeln.

So existiere zum Beispiel eine große Kluft zwischen der Rolle, die Deutschland politisch als nachhaltigkeits- und klimapolitischer Vorreiter spielt und der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas. Der Blick auf das deutsche Wissenschaftssystem zeige, dass seine führenden Köpfe und Institutionen viele Fragen untersuchen. Die gesellschaftliche Herausforderung einer Nachhaltigen Entwicklung rangiert darunter jedoch weit abgeschlagen. Für die Hochschul- und Wissenschaftspolitik bestehe die Gefahr, sich durch diese Sprachlosigkeit in wichtigen Problemfeldern in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu katapultieren.

Besonders deutlich zeige sich das an der Exzellenziniative. Dort haben sich nur Verbünde (Exzellenzcluster, Graduiertenschulen) mit über Jahre nachgewiesener disziplinärer Forschungsexzellenz durchsetzen können, über die eine fächerübergreifende Nachhaltigkeitsforschung (noch) nicht verfüge.


Mit Nachhaltigkeit in die Kompensationsfalle?
Die Gäste des anschließenden Podiumsgesprächs waren sich einig, dass Nachhaltigkeit eine wichtige Perspektive für das Wissenschaftssystem bietet. So forderte Krista Sager, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen im Bundestag, dass neben die vertikale eine horizontale Ausdifferenzierung des Hochschulsystems treten müsse. Gerade Nachhaltigkeit schließe dabei andere wichtige Orientierungen wie eine Ausrichtung an den Anforderungen der Region oder die Berücksichtigung von Gender- oder Diversityaspekten nicht aus.

Thorsten Wilhelmy vom Wissenschaftsrat wies jedoch auf die Gefahr hin, dass Nachhaltigkeit als Nischenprogramm in eine „Kompensationsfalle“ tappen könnte. Sollten sich einige Hochschulen mit einer Nachhaltigkeitsstrategie profilieren –und Sascha Spoun zeigte anschaulich wie die Leuphana Universität Lüneburg das heute bereits tut – dann könnte das dazu führen, dass sich die Mehrheit der Hochschulen zurücklehnt und sich des Themas entlastet fühlt. Eine solche Tendenz zeige sich heute im Bereich der universitären Weiterbildung, die beispielsweise in den Niederlanden von speziellen Hochschulen übernommen wird und so keinen Eingang in die Programme der übrigen Hochschulen finde.

Bremsklotz oder Chance: der transdisziplinäre Charakter der Nachhaltigkeit
Sollte eine solche Entwicklung eintreten, würden die großen Potenziale der Nachhaltigkeit als Leitbild verschenkt. Darauf wies Thomas Jahn vom Institut für sozial-ökologische Forschung hin. Denn Nachhaltigkeit ist für ihn weit mehr als ein Themenfeld für Forschung und Lehre. Es erfordere vielmehr einen neuen Modus der Wissensgenerierung, der problemorientiert ist und transdisziplinär ausgerechtet sein muss. Nach Ansicht von Sascha Spoun kann diese Perspektive nur über gelungene Beispiele und gute Ergebnisse in Forschung und Lehre in die Breite getragen werden. Seine Hochschule will in diesem Sinne eine Vorreiterrolle übernehmen, die zur Nachahmung anregt.

Eine Schwierigkeit dabei ist jedoch die zentrale Rolle, die die Disziplinen in Deutschland einnehmen. Weil der wissenschaftliche Nachwuchs sich über Disziplinen rekrutiere, sei die Nachhaltigkeitsforschung nach Ansicht von Thorsten Wilhelmy auf Voraussetzungen angewiesen, die sie selbst nicht schaffen könne. In gewisser Weise stecke sie damit in einem Dilemma. Denn der zunächst plausible Ausweg, eigene Studiengänge und Karrierewege („Doktor der Nachhaltigkeit“) zu eröffnen, könne gerade dem transdiziplinären Charakter der Nachhaltigkeitsforschung schaden.

Die disziplinäre Orientierung des deutschen Wissenschaftssystems habe darüber hinaus weitere Folgen. So erschwere sie es den Hochschulen bzw. ihren Leitungen, eine institutionelle Identität auszubilden. Hochschulen verstehen sich in Deutschland nicht als institutionelle Akteure, weil sich ihre Mitglieder in erster Linie ihrem Fach verpflichtet fühlen. Vor diesem Hintergrund werden der Machtzuwachs der Hochschulleitungen und ihre Versuche gesamtuniversitäre Strategien zu etablieren, von den Hochschullehrerinnen und -lehrern in erster Linie als Einschränkung ihrer Freiheit und als Bedrohung angesehen, die abgewehrt werden muss.

Politik mit der „finanziellen Möhre“
Sind angesichts dieser Herausforderungen Veränderung der Hochschulen in Richtung Nachhaltigkeit überhaupt vorstellbar? Thomas Korbun, der Geschäftsführer des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung und Moderator des Abends wollte von den Podiumsgästen wissen, wie sich das Hochschulsystem in Richtung Nachhaltigkeitsorientierung lenken ließe.

Angesichts der eklatanten Unterfinanzierung der deutschen Hochschulen spielt Geld als Steuerungsinstrument offensichtlich eine große Rolle. Das zeige nicht zuletzt die Exzellenzinitiative. Die zusätzlichen Mittel, die im Rahmen dieses Wettbewerbs ausgeschrieben wurden, hätten wie eine „finanziellen Möhre“ gewirkt, der alle Hochschulen hinterhergelaufen seien. Das erkläre zum Teil die Eintönigkeit die sich bei den universitären Leitbildern eingestellt habe. Dass Geld aber auch zu mehr Pluralität motivieren kann, davon zeigte sich Krista Sager überzeugt. So könnten Fonds für Nachhaltigkeitsforschung oder die Förderung von transdisziplinären Ansätzen schon mit geringem Mitteleinsatz viel bewirken. Eine Pluralisierung der Wissenschaft könne es nur geben, wenn es auch eine Pluralität in den politischen Anreizstrukturen gebe.

Uwe Schneidewind regte an, auch über Instrumente jenseits der staatlichen Förderung nachzudenken. So stellt er in seinem Buch die Einrichtung privater Institutionen wie zum Beispiel die eines „Centrums für Nachhaltige Hochschulentwicklung“ oder eines „Stifterverbands für eine Nachhaltige Wissenschaft“ zur Diskussion.

In der Diskussion mit dem Publikum wurde jedoch davor gewarnt, die Hochschulen als Trivialmaschinen zu betrachten, die durch einfache externe Reize zu steuern wären. Es bedürfe vor allem auch der Freiräume, in die mit steuernder Mittelzuweisung weniger stark eingegriffen werde. Die Währung des Wissenschaftssystems sei letztlich nicht alleine Geld, sondern vor allem auch Reputation. Es müsse also darum gehen, Nachhaltigkeit als Forschungsthema und als Quelle wissenschaftlicher Anerkennung interessanter zu machen.

Die Exzellenzinitative für das Leitbild der Nachhaltigkeit nutzen?
Mit der gerade eingeläuteten nächsten Runde der Exzellenzinitiative, die im Jahr 2012 starten soll, dürfte auf absehbare Zeit zum letzten Mal zusätzliches Geld an die Hochschulen verteilt werden. Einig war man sich auf dem Podium, dass die Exzellenzinitiative folglich die letzte „Möhre“ für die Hochschulen sein könnte. Neue Bund-Länder-Programme seien kaum zu erwarten. Die Meinungen gingen jedoch auseinander, in wie weit sich die Exzellenzinitiative vor den Karren der Nachhaltigkeit spannen ließe.

Ohnehin könne man die nächste Runde der Exzellenzinitiative kaum mehr konzeptionell beeinflussen. Nach Ansicht von Uwe Schneidewind ist allenfalls noch denkbar, den Gedanken der Transdisziplinarität über die Graduiertenkollegs hinaus zu erweitern und die starke Orientierung der Initiative auf einzelne Wissenschaftsstandorte zu lockern.

Während aber Krista Sager dafür plädierte, das Steuerungsinstrument Exzellenzinitiative für die eigenen Zwecke zu nutzen wo immer es möglich ist, warnte Thorsten Wilhelmy davor, zu sehr auf die Exzellenzinitiative zu setzen.

Studierende als Verbündete begreifen
Bei der Suche nach Strategien zur Etablierung der Nachhaltigkeit dürften die Studierenden nicht aus den Augen verloren werden, das forderten insbesondere die Studierenden im Publikum. Letztlich seien sie die Gruppe, die von neuen innovativen Ansätzen am meisten profitieren würden. Noch sei die Diskussion über eine Orientierung in Richtung Nachhaltigkeit viel zu forschungszentriert. Dabei würde völlig übersehen, dass viele Impulse für transdisziplinärer Forschung aus der Lehre kämen. Das Publikum wies darauf hin, dass es häufig gerade die Studierenden seien, die den Brückenschlag zwischen Forschung und einer an realen Problemen orientierten Lehre forderten. Die Studierenden seien also strategisch wichtige Partner, die stärker an den Debatten um eine nachhaltige Wissenschaft beteiligt werden müssten.

Diesen Gedanken, Nachhaltigkeit mit einer stärkeren studentischen Beteiligung zu verbinden, nimmt die Heinrich-Böll-Stiftung gerne auf.  Zum Beispiel im nächsten Jahr im Rahmen der Campustour „Wissen, was wirkt“, mit der sie zusammen mit Studierenden Veranstaltungen an Hochschulen aller Bundesländer initiieren wird (Informationen: www.boell.de/campustour).

Siehe auch: Veranstaltungsbericht im Blog „Nachhaltige Wissenschaft“

Stephan Ertner
ist Referent Bildung & Wissenschaft der Heinrich-Böll-Stiftung.

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