Verleihung des Petra-Kelly-Preises an Zhang Sizhi
Berlin, 02.10.2008
„Als Rechtsanwalt bin ich vor Natur aus ein Menschenrechtler“
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Bundesministerin,
lieber/sehr geehrter Herr Zhang Sizhi,
Auch ich möchte Sie herzlich willkommen heißen!
Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um mit Zhang Sizhi einen engagierten, mutigen und einflussreichen Anwalt der Volksrepublik China zu ehren. Herr Zhang ist 81 Jahre alt und hat sein ganzes Leben lang für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in China gekämpft. Um die Herausforderungen, mit denen Herr Zhang als Anwalt konfrontiert war und ist, zu verstehen und nachzuvollziehen, braucht es einen kurzen Blick auf die Geschichte des Justiz- und Rechtssystem in China.
Das Justiz- und Rechtswesen Chinas ist durch viele Reformen und Rückschritte geprägt
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Reihe von Versuchen, ein unabhängiges Justizwesen nach kontinentaleuropäischem Vorbild zu errichten. Zwischen 1929 und 1935 entstanden die „sechs Kodizes“ – gemeint ist ein Zivilgesetzbuch, ein Strafgesetzbuch, Straf- und Zivilprozessgesetze sowie handel- und verwaltungsrechtliche Einzelgesetze.
Dies ist die Zeit als Zhang Sizhi heranwuchs. Und sie hat sein tiefes Gerechtigkeitsempfinden geprägt. Noch in den 40er Jahren absolvierte er sein Rechtsstudium in Peking. Doch nach der Regierungsübernahme der Kommunistischen Partei Chinas im September 1949 wurden die Kodizes aufgehoben; die bisherigen Leistungen der Rechtmodernisierung wurden so mit einem Federstrich beseitigt.
In den darauffolgenden Jahren wurden viele Gerichte abgeschafft oder aber mit Behörden der Polizei und der Staatsanwaltschaft zusammengelegt. Viele Juristen, wie Zhang Sizhi wurden aufs Land verbannt. Die Rechtssprechung lag in den Händen des Militärs oder der Exekutive. Erst nach dem Ende der Kulturrevolution ab 1978 nahmen die Gerichte nach und nach ihre Tätigkeit wieder auf, und man begann mit der Ausbildung von Richtern und Juristen. Bis heute ist die Justiz das schwächste Staatsorgan in China. Es ist Einflüssen von vielen Seiten ausgesetzt. Unabhängigkeit und Effizienz sind noch weit von einer unparteiischen Rechtssprechung entfernt.
Nach dem Ende der Kulturrevolution wurde eine neue Gesetzgebungspolitik eingeleitet
Ende der 90er Jahre initiierte die chinesische Regierung eine Reihe von Gesetzesänderungen, wie die Reform des Straf- und Strafrechtsprozessrechts (1997 bzw. 1996) sowie neue Gesetze für die Verwaltungsstrafen und den Justiz- und Sicherheitsapparat. Hierbei wurden erstmals Prinzipien wie die Unschuldsvermutung oder der Anspruch auf Rechtsbeistand sowie eine verstärkte Unabhängigkeit und Qualifikation der Richter festgeschrieben.
Das Ziel, einen „sozialistischen Rechtsstaat“ zu errichten, wurde 1999 in die Verfassung aufgenommen. Die offizielle Rhetorik vom Aufbau eines „Rechtsstaates“ hat Verbesserungen mit sich gebracht, doch noch ist das Recht nicht oberstes Gebot, steht die Partei über dem Recht. Noch immer können Justiz- und Sicherheitsapparat missbraucht werden, um unliebsame Kritiker zum Schweigen zu verurteilen und wegzusperren.
Dennoch: Der Gedanke der Herrschaft durch das Recht entwickelte im Kontext der Vorbereitung der Verfassungsrevision von 2004 eine nie gekannte Dynamik. Schutz vor Enteignung und polizeilichem Freiheitsentzug, die Garantie von Freizügigkeit, die formale Unabhängigkeit der Anwaltschaft – hier hat es erhebliche Fortschritte gegeben. Heute können chinesische Bürger ihre Rechte gegenüber Staat und Verwaltung einklagen. Sie machen zunehmend davon Gebrauch, und immer häufiger bekommen sie ihr Recht.
Zhang Sizhi hat diese Entwicklung begleitet, kommentiert und sehr beeinflusst
Er trägt mit seiner Arbeit dazu bei, dass der Begriff des „Rechtsstaats“ in China mit Bedeutung gefüllt wird und Raum greift. Er tut dies in einer unglaublich klugen und mutigen Art und Weise. Bei einem Gespräch in Peking – an einem Sommertag im Juni – hat Zhang Sizhi mir sehr eindrucksvoll sein Konzept der „Balance zwischen Selbstschutz und kämpferischem Engagement“ – beschrieben. Wie die Klienten schützen, ihnen zum Recht verhelfen, wann und wie die Öffentlichkeit nutzen oder eben nicht? Grenzen ausprobieren und Rechtsräume dabei vorsichtig erweitern, das ist die Handlungsmaxime von Zhang Sizhi. Nach 15 Jahren Verbannung aufs Land, gehörte Zhang Sizhi zu den ersten Anwälten, die im neuen China ihre Arbeit aufnahmen. Er setzt sich seit Jahrzehnten als Strafverteidiger dafür ein, dass jeder Angeklagte in China ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren erhält.
Als Rechtsanwalt verteidigte Zhang Sizhi Mitglieder der Viererbande um Mao Zedongs Witwe Jiang Qing, genauso wie Aktivisten der Studenten- und Demokratiebewegung. Er tritt vor Gericht für verfolgte Menschenrechtsanwälte ein, oder für so genannte „Internet-Dissidenten“. In China ist er als Intellektueller und unbestechlicher Jurist respektiert und gilt heute vielen jungen Rechtanwälten als Vorbild. „Das Gewissen der chinesischen Rechtsanwälte“, so nennen sie ihn. Er selbst sieht sich als jemand, der nur seine Arbeit macht. Es spricht für ihn, dass er sich selbst nicht als „Gewissen der Anwälte“ bezeichnet wissen möchte – wir möchten es trotzdem gerne tun.
In seinen geschliffenen Plädoyers enthüllt er die oft lücken- und fehlerhaften Anklageschriften
Er argumentiert mit den Gesetzen – verteidigt seine Mandanten gegenüber den Anklagen des Staates mit den Waffen des Gesetzbuches. Und auch wenn er oftmals durch die Richtersprüche enttäuscht wurde, aufgegeben hat Zhang Sizhi nie.
Seine Fälle haben immer wieder Konsequenzen über die Grenzen des einzelnen Mandats hinaus: 2006 vertrat Zhang Sizhi einen Familienangehörigen eines Hingerichteten, dessen Unschuld sich später beweisen ließ. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die er mit diesem spektakulären Fall erreichte, brachte ein Justizreform voran, die dazu führte, dass Todesurteile heute vom Obersten Gerichtshof in Peking überprüft werden müssen. Unnötig zu sagen, dass das Ziel die Abschaffung der Todesstrafe sein sollte, aber in Schritten – und dieser zählt dazu. Und die Zahl der Todesurteile ging nach dieser Reform bereits erheblich zurück.
Chinas Weg zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist schwierig
Es gibt Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Machtmissbrauch. Gleichzeitig hat ein Reformprozess, der mehr Gerechtigkeit, und Demokratie bringen soll, begonnen. Solch widersprüchliche Entwicklungen verlangen eine differenzierte Betrachtungsweise. Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte durch genaues Hinsehen und durch einen konstruktiven Dialog zu einem besseren Verständnis Chinas in Deutschland zu einem solchen differenzierten Urteil beitragen. Wie für Zhang Sizhi sind auch für die Heinrich-Böll-Stiftung, die Förderung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit Kern unserer Arbeit im In- und Ausland. In China beraten wir zum Beispiel Ministerien bei der Gesetzgebung und unterstützen deren Zusammenarbeit mit Anwälten und Rechtswissenschaftlern. Zhang Sizhi steht für die Überzeugung, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in China ihren Durchbruch erleben werden.
Er selbst hat Großartiges dazu geleistet
Mit der Vergabe des Petra-Kelly-Preises würdigt die Heinrich-Böll-Stiftung Zhang Sizhis herausragendes und unermüdliches Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte und den Aufbau eines Rechtsstaates und Anwaltswesens in China. Unsere Wege, sich für Menschenrechte und politische Reformen zu engagieren, sind andere, als die eines chinesischen Staatsbürgers und Rechtsanwaltes.
Daher ist es mir eine ganz besondere Freude, dass sich unsere Wege heute hier kreuzen, dass wir uns gefunden haben, um ein Stück weit den Weg gemeinsam zu gehen. Herr Zhang, es ist uns eine besondere Ehre, Sie heute mit dem Petra-Kelly-Preis für Ihr Lebenswerk auszeichnen zu dürfen. Mit diesem Preis möchten wir Sie und Ihre Anwaltskollegen ermutigen, den couragierten Einsatz für mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in China fortzuführen.