Für Sanader ein ''Neuanfang'', aber wohin schlittert Kroatien?

Zurückgetreten: der ehemalige kroatische Premierminister Ivo Sanader. Foto: Roberta F. Lizenz: Creative Commons BY-SA 3.0.

9. Juli 2009
Von Vedran Horvat
Von Vedran Horvat

Die Überraschung war groß: Am Nachmittag des 1. Juli 2009 kündigte der bisherige kroatische Premierminister Ivo Sanader seinen Rücktritt vom wichtigsten Amt in der Regierung, aber auch vom wichtigsten Amt in seiner eigenen Partei – der Kroatischen Demokratischen Gemeinde HDZ sowie seinen Rückzug aus dem politischen Leben an. Solch einen gewagten Schritt hätten auch die kühnsten Analytiker dem Premierminister nicht zugetraut, vor allem nicht zu einem Zeitpunkt, als ernsthaft darüber spekuliert wurde, ob Sanader eine Kandidatur für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Betracht zieht.

Die Nachricht, die fast niemand im Land so recht glauben konnte, ist fast grotesk: Ein tief in der Wirtschaftskrise steckendes Land, über dessen Haupt obendrein noch das Arrangement mit dem MMF schwebt, ein Land in einem seit über einem halben Jahr schier hoffnungslosen  bilateralen Grenzstreit mit Slowenien und ein Land, welches infolgedessen auch im EU-Integrationsprozess feststeckt, hat über Nacht -  mitten in seinem Mandat - seinen Premierminister verloren. Eine launenhafte Entscheidung, die mehr den Anschein einer plötzlichen Veränderung des Lifestyles als viel weniger des verantwortungsbewussten Verhaltens eines Staatsmannes hat, insbesondere dann, wenn dieser damit und wegen der ausdrücklichen Personalisierung die Legitimität der aktuellen Regierung in Frage stellt.

Sanader verliert an Glaubwürdigkeit

Mit einer auf diese Art und Weise getroffenen Entscheidung büßt Sanader sehr viel an Glaubwürdigkeit und Integrität ein, die er in den letzten zwanzig Jahren seines politischen Lebens aufgebaut hat: als Spitzenpolitiker der HDZ und als Premierminister. Jedoch zweifeln einige daran, dass Sanaders Entscheidung gut durchdacht war. So hat er sich vor den unpopulären Entscheidungen zurückgezogen, die er noch hätte machen müssen, Raum für eine mögliche Präsidentschaftskandidatur hat er dennoch offen gelassen.

Trotz der häufigen und begründeten Kritik an der bisherigen Regierung (leider kam diese eher selten aus den Reihen der Opposition) kann man Sanader jedoch nicht den Erfolg der Reformierung der einst äußerst rechts orientierten Partei, an deren Spitze sich Franjo Tudjman befand, absprechen. Tudjman hielt Kroatien in der Isolation und stellte sich vehement gegen die Prozessierung von Kriegsverbrechern. Auch Sanaders Einsatz für eine pro-europäische Politik ist zu würdigen, mit der er Kroatien an die Schwelle der EU brachte und selbst die treibende Kraft in diesem Prozess war. Ebenfalls sein Verdienst war es, dass die serbische Minderheit in die Regierung einbezogen wurde: Oft wurde ihm seine angebliche Nachgiebigkeit gegenüber den Anforderungen aus Brüssel vorgeworfen.

Andererseits können in der Bilanz seiner Regierung einige für die kleineren Parteien und somit für das Mehrparteiensystem verheerende Effekte genannt werden, die die HDZ unter Sanaders Führung in der Vergangenheit verursacht hat. Auch eine ungewöhnlich große Machtanhäufung in seiner unmittelbaren Umgebung ist nicht zu übersehen, von der Vertuschung von Korruptionsaffären ganz zu schweigen.

Will Sanader „aus dem Schatten“ regieren?

Daher ist das Szenario besorgniserregend, nach dem Sanaders Rücktritt noch eine weitere seiner erfolgreichen Taktiken darstellt. Eine Taktik, mit der er “Kroatien und Europa schockieren wollte“ und damit weiter “aus dem Schatten“, wie er sagt, mittels seiner immer ergebenen Nachfolgerin Jadranka Kosor regieren konnte, ohne sich dabei jeglichem Druck und öffentlichen Reaktionen auszusetzen. So scheinen auch die Folgen seines Rücktritts besorgniserregend: Gerade wegen seiner großen politischen Macht, die er sich während seines Mandates gesichert hat, ist sein Rücktritt nicht der Rücktritt eines professionellen Politikers zu einem „ungünstigen“ Zeitpunkt, er bietet Raum für neue politische Machtkämpfe, von denen nationalistische, regressive politische Kräfte profitieren könnten.

Trotz der Anforderungen der Opposition für vorzeitige Wahlen aufgrund der mangelnden Wahllegitimität der neuen Regierung musste der kroatische Präsident Stjepan Mesic durch ein formelles Verfahren das neue Mandat der vorgeschlagenen Premierministerin Jadranka Kosor geben. Bis dahin war sie die Vizepräsidentin der Regierung und eine wichtige Person in der HDZ. Jadranka Kosor wird als verlängerter Arm von Ivo Sanader angesehen, der sein Abgeordnetenmandat schon aktiviert hat. Kosor ist die erste kroatische Premierministerin und stellt als solche einen Schritt nach vorn in der offiziellen HDZ-Politik dar. Die fehlende politische Macht der etwas gemäßigteren Jadranka Kosor könnte Teil des Problems in Bezug auf die rechte Fraktion der HDZ sein, die auf eine Abwendung von Sanaders bisheriger Politik hinarbeitet. Nun da das neue Mandat der Premierministerin Kosor übergeben wurde, bleibt der einzige Ausweg in der Fähigkeit Jadranka Kosors, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, wobei eine Reihe von Umständen dagegen sprechen (der wirtschaftliche Kollaps, soziale Unruhen, die Stärkung der Rechten, die unterbrochenen EU-Beitrittsverhandlungen usw.).
Momentan bestätigt die von der HDZ angeführte Koalition ihre Stabilität öffentlich, auch wenn sie wesentlich fragiler ist als zuvor. Die Opposition hingegen, die lediglich aus Sozialdemokraten (SDP) und der liberalen Kroatischen Volkspartei (HNS) besteht, stellt die demokratische Legitimität der vorgeschlagenen Premierministerin bzw. der Regierung in Frage und fordert vorgezogene Wahlen. Nichtsdestotrotz gibt es nicht sehr viele Kandidaten, die sich gerne in Ivo Sanaders Stuhl setzen und sich mit der aufsteigenden Rechten und den unterbrochenen Verhandlungen mit der EU auseinandersetzen würden.

Viel Raum für Spekulationen

Sanader hat mit seiner Entscheidung und durch die Art und Weise, wie er sie verkündet hat, womöglich absichtlich Raum für unzählige Spekulationen offen gelassen, was überaus schädlich ist. Aber es ist völlig sinnlos, über die wirklichen Beweggründe zu spekulieren und sie anzuzweifeln, wenn dies nicht eine wirkliche Übernahme von Verantwortung nach sich ziehen würde. Genauso wenig sinnvoll wäre es, weiterhin auf einer präzisen Erklärung zu beharren, die er der Öffentlichkeit schuldet. Ob es sich nun um den innerparteilichen Druck und den Führungsverlust in der Partei wegen des Aufstiegs der rechten Fraktion oder um die Frustration wegen der Unterbrechung der EU-Beitrittsverhandlungen oder gar um Szenarien handelt, die verschiedene Versionen von Erpressung beinhalten: Sanader hätte in diesem Augenblick mehr Verantwortungsbewusstsein zeigen und dabei den Eindruck des “Kapitäns, der das sinkende Schiff verlässt“ vermeiden müssen. Die Tatsache, dass er sich in einer sehr schwierigen Zeit zur Flucht entschieden hat, entspricht so gar nicht dem Patriotismus, auf den er sich immer berufen hatte. Mit seinem Rücktritt und insbesondere wegen seiner großen politischen Macht nimmt er großen Einfluss auf die politische Instabilität im Lande, aber auch in der Region.

Aber gerade bizarr scheinen auch die Erklärungen zu sein, nach denen der Rückzug von Sanader eine weise Entscheidung sei, mit der er einige Probleme los wäre und insbesondere die Blockade der Verhandlungen mit der EU behoben hätte, die einen zentralen Punkt seiner Reformpolitik darstellten. Dies beruht auf der These, dass er mit diesem Zug eine klare Botschaft an das zurzeit uninteressierte Brüssel sende, mit seinem Abtritt sei die Karte verspielt worden, mit der Kroatien zur vollen Mitgliedschaft in der EU gelangen soll. Diesem Szenario zufolge sollte dieser Schritt Brüssel wecken, damit es die Risiken einer Abgleitung Kroatiens zurück in Richtung Balkan einsieht und seinen Druck auf Slowenien verstärkt, die Verhandlungen wieder in Gang zu setzen. Absurd wäre es, wenn der neue Schwund in den Verhandlungen während des Mandats von Jadranka Kosor erfolgen würde und der Verdienst für den Beitritt Kroatiens in die EU weiterhin der Partei HDZ zugeschrieben werden könnte. Demnach liegt der Ball nun bei Brüssel, wenngleich Brüssel davon vielleicht auch nichts weiß.

„Im fünften Gang in die EU fahren“

Sanader hat in seinen beharrlichen Überzeugungsversuchen dem Volk gerne mitgeteilt, dass er und seine Partei Kroatien im fünften Gang in die EU fahren. Was er jedoch nicht wahrgenommen hat, ist die Tatsache, dass der Wagen wegen zahlreicher Defekte auseinander fällt, und so sehr er auch auf das Gaspedal drückte, quietschte der Wagen und blieb immer wieder stehen. Selbst die Europäische Union, vorrangig mit verschiedenen Prozessen innerhalb ihrer eigenen Grenzen beschäftigt, konnte nicht mehr die Augen vor einer derartigen Lage der Dinge verschließen. Vielleicht war Sanaders Entscheidung verbunden mit dem Akzeptieren der Wirklichkeit und mit seiner Enttäuschung, als er begriffen hatte, dass er auch das letzte Reformpotenzial ausgeschöpft hatte, als er begriffen hatte, dass er die schizophrene Situation zwischen der offiziellen Politik und dem Missverständnis mit der reellen Wählerschaft nicht mehr aufrechterhalten konnte. Deswegen drückte Ivo Sanader mit aller Kraft auf die Bremse. Er stieg aus dem Wagen, der angeblich im fünften Gang in die EU raste. Glücklicherweise war die Geschwindigkeit wegen Schwierigkeiten mit Reformen in den eigenen Reihen doch etwas geringer. Daher konnte auch der Schock etwas kleiner sein. So waren auch die Bestrebungen des Premierministers ansatzweise erkennbar, dies wird jetzt deutlich sichtbar, bereits bei den Spekulationen um seine Präsidentschaftskandidatur vor etwa zehn Tagen.

Von allen Ländern der Region war Kroatien der Europäischen Union am nächsten. Aber genau diese europäische Zukunft ist jetzt entfernter denn je. Bei einem Blick ins Innere muss sich das Land mit Insolvenz und Bankrott auseinandersetzen, mit unterbrochenen, nicht begonnenen und erfolglosen Reformen. Beim Blick nach Außen sieht man die Tür zur Europäischen Union verschlossen. Dies ist ein Moment der Prüfung nicht nur der von Sanader durchgeführten Transformation der führenden Partei, sondern auch der demokratischen Konsolidierung des Landes. Unabhängig davon, dass der Premierminister das Land ohne Verantwortungsbewusstsein und Stil verlassen hat, dürfte die bisherige demokratische Entwicklung, obwohl weiterhin defizitär, nicht zu einer Vertiefung der politischen Krise führen. Diese Entwicklung ist jedoch noch immer ungewiss und bietet leider Raum für einen ungünstigen Ausgang und einen Rückschritt.

Kroatien ist nun von Trägheit und zusätzlichem wirtschaftlichem Druck überwältigt, die es in die Insolvenz führen. Man kann noch nicht von einer totalen Paralyse oder Ausnahmezustand sprechen, aber auch solche Szenarien scheinen nicht mehr unmöglich. Der Moment der Schaffung einer pro-europäischen Politik, die Sanader zu konstruieren versuchte, wenn auch ohne breite Unterstützung, ist nun vorbei. Teilweise waren auch ungünstige äußere Faktoren wie der Aufnahmestopp weiterer Mitglieder und die Wirtschaftskrise in der EU wirksam. Jene Akteure und politischen Kräfte, die den Rechten nahe stehen und die Sanader während der Reformierung seiner Partei vor etwa zehn Jahren erfolgreich unterdrücken konnte, kehren nun gestärkt zurück.

Die Frage ist, ob die neue Premierministerin die Kontinuität der Reformen auch in neuen Krisenzeiten aufrechterhalten und sich dem immer stärker werdenden Druck widersetzen kann, der sie immer weiter von Sanaders Kurs abbringen würde. Die erste Prüfung für Premierministerin Kosor wäre in dem Fall, zwei außerparteiliche Reformminister – im Justiz- und im Innenministerium - in ihren Mandaten zu behalten; das wäre aber auch der zweite Haushaltsausgleich, der gerade verabschiedet wird. Die Zusammenarbeit mit dem Tribunal in Den Haag, der vertagte und von Europhobie begleitete EU-Beitritt  und die anhaltende Ignorierung der Korruption könnten die Stütze für eine solche Isolationspolitik mit der Beigabe eines “argentinischen Szenarios“ sein.

Vedran Horvat ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kroatien.