Von Jens Siegert
In Tschetschenien wurde am Mittwoch Natalja Estemirowa ermordet. Morgens um halb neun, wie Augenzeugen berichteten, war die Mitarbeiterin des Büros unserer Partnerorganisation Memorial in Grosny von vier unbekannten Männern in ein Auto der Marke Lada gezerrt worden. Sie konnte noch laut rufen, dann fuhr der Wagen davon: Sie wurde entführt. Am frühen Nachmittag wurde ihre Leiche mit Schusswunden im Kopf und in der Brust in der benachbarten Republik Inguschetien gefunden, etwa 40 km von Grosny entfernt. In dieser Gegend kämpfen tschetschenische Regierungstruppen seit voriger Woche mit bewaffneten Aufständischen, die sie Terroristen nennen.
Natalja Estemirowa schloss sich Anfang 2000, kurz nach Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs Memorial an. Zuvor hatte die 50-jährige Lehrerin als Journalistin gearbeitet. Seither war sie eine der führenden und aktivsten Mitarbeiterinnen von Memorial im Nordkaukasus. Sie sammelte und veröffentlichte mit ihren KollegInnen Informationen über Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, nicht nur in Tschetschenien. Dabei war es egal, ob diese Gewalt von bewaffneten Verbänden der tschetschenischen Regierung, von Einheiten der russischen Armee, des Geheimdienstes, des Inneninisteriums oder von den immer noch aktiven Rebellengruppen ausging. Natalja Estemirowa hielt sich nicht zurück und nannte ein Verbrechen, was sie als Verbrechen erkannte. Es ging um Entführungen, das Verschwindenlassen und Ermorden von Menschen, Androhungen von Gewalt, Einschüchterungen und auch um die zunehmende zwangsweise Islamisierung Tschetscheniens durch Kadyrow mit immer stärkerer Gängelung vor allem der Frauen. Die meisten Männer in Tschetschenen schweigen ohnehin schon. Zu hoch ist der Preis für sie, den Mund aufzumachen. Für ihre Arbeit bekam Estemirowa in den vergangenen Jahren mehrere internationale Ausgezeichnungen, darunter vor zwei Jahren den gerade erst geschaffenen der Anna-Politkowskaja-Preis. Mit Anna Politkowskaja arbeitete Natalja Estemirowa eng zusammen, bevor die Journalistin vor knapp drei Jahren in Moskau vor ihrem Haus ermordet wurde. Natalja Estemirowa hinterlässt eine fünfzehnjährige Tochter.
"Wir sind ein Risiko eingegangen, das sich als zu groß erwiesen hat"
Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial, der sich gegenwärtig beim deutsch-russischen Forum Petersburger Dialog in München aufhält, erfuhr am Mittwoch Nachmittag von dem Mord. Sichtlich erschüttert, sagte er, die Einschläge kämen immer näher, mit Anna Politkowskaja, dem Anwalt Stanislaw Markelow und jetzt Natalja Estemirowa seien in den vergangenen drei Jahren drei enge Freunde und Mitarbeiter von Memorial ermordet worden. Keiner der Morde wurde bis heute aufgeklärt. Oleg Orlow, der Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial, machte sich in einer ersten, sehr emotionalen Erklärung schwere Vorwürfe, Natalja Estemirowa nicht früher aus Tschetschenien in Sicherheit gebracht zu haben. Man habe darüber schon seit einiger Zeit nachgedacht, weil die ständigen Drohungen gegen Natalja Estemirowa und andere Memorial-Mitarbeiter vor allem von Seiten der tschetschenischen Regierung sich in letzter Zeit gehäuft hätten: "Wir sind ein Risiko eingegangen, das sich als zu groß erwiesen hat".
Oleg Orlow ist davon überzeugt, dass hinter dem Mord an Natalja Estemirowa nur der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow stehen kann. Dabei sei es egal, ob er nun selbst den Mordbefehl gegeben habe oder ob einer seiner Mitarbeiter auf eigene Faust gehandelt habe. Kadyrow habe ihr immer wieder gedroht. Natalja Estemirowa hatte selbst von einem Gespräch mit Kadyrow vor etwa einem Jahr erzählt, in dem der tschetschenische Präsident gewarnt habe, seine Hände seien voller Blut, er schäme sich dessen aber nicht, weil er schlechte Menschen umgebracht habe und das auch weiter tun werde. Er kämpfe mit den Feinden Tschetscheniens. Damals hatte sie den von Kadyrow angeordneten Kopftuchzwang für Frauen öffentlich kritisiert.
Erst am Montag dieser Woche hatte Natalja Estemirowa in einem Artikel auf der Website von Memorial kritisiert, dass die Zahl der Entführten in Tschetschenien seit der Aufhebung des so genannten "antiterroristischen Regimes" durch Präsident Medwejew im April diesen Jahres wieder angestiegen sei. Im ersten Halbjahr 2009 wurden in Tschetschenien nach Zählung von Memorial bereits 35 Menschen entführt. Fünf dieser Entführten wurden später ermordet gefunden, die anderen blieben bisher verschwunden. 2008 hatte es insgesamt 42 Entführungen gegeben. Zuletzt arbeitete die Menschenrechtsaktivistin an weiteren, neuen Fällen von Entführung und außergesetzlichen Hinrichtungen. Sie löste damit Unmut in der tschetschenischen Führung aus, wie Nurdi Nuchaschijew, der so genannte und von Kadyrow eingesetzte Menschenrechtsbeauftragte von Tschetschenien, der Leiterin des Memorial-Büros in Grosny sagte. Nuchaschijew kündigte an, die Menschenrechtler öffentlich zu kritisieren, weil er nicht wolle, dass irgendetwas Schlimmes geschehe.
Der russische Präsident Dmitrij Medwedjew sprach am Mittwoch Abend im russischen Fernsehen den Angehörigen Natalja Estemirowas sein Beileid aus und versprach, alles zu veranlassen, um den Mord aufzuklären. Für Donnerstag Nachmittag ruft Memorial zu einer Kundgebung im Zentrum von Moskau auf. Beim Petersburger Dialog in München soll ebenfalls am Donnerstag in Anwesenheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew über den Mord gesprochen werden.
Jens Siegert leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau und schreibt regelmäßig im Russland-Blog.
Memorial ist langjähriger Partner der Heinrich-Böll-Stiftung. Das Menschenrechtszentrum erhielt 2004 den "Alternativen Nobelpreis".
Lesen Sie mehr über Tschetschenien, Menschenrechte und Minderheitenrechte in unserem Dossier "Demokratie in Russland".