Der Progress-Report der EU-Kommission zu Serbien empfiehlt, dass Serbien den Status eines Beitrittskandidaten erhalten solle. Bis Dezember müssen die Mitgliedsstaaten über diese Empfehlung einen einheitlichen Standpunkt beschließen. Nach dem unruhigen Sommer an Serbiens Grenze zum Kosovo, nach den immer noch bestehenden mehr als 50 Straßenblockaden im Norden des Landes, nach Angela Merkels Tacheles-Rede im August in Belgrad und nach dem Einfrieren der Gespräche zwischen Belgrad und Prishtina kann die Empfehlung des Reports nicht mehr ernsthaft als das Resultat einer serbischen Erfolgsgeschichte dargestellt werden.
Zwei Fragen bleiben deshalb von Interesse: die nach der Motivation der Empfehlung, und die nach ihrer Aufnahme bei den Betroffenen in Serbien.
Die Motivation darf man mit Fug und Recht als halbherzig bezeichnen. Im Spiel der Conditionalities war die Trumpfkarte des Kandidaten-Status am Ende ausgereizt. Neben all den Reformen im Justizwesen, im Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität, hatte sich dieser Trumpf vor allem bei der Auslieferung der beiden letzten mutmaßlichen Kriegsverbrecher als Druckmittel bewährt. Nachdem die Auslieferung geschehen war, hatte die serbische Regierung, bis zu Merkels Besuch, keinen Zweifel mehr daran, dass die verdiente Frucht ihr in den Schoß fallen werde.
Das „Draufsatteln“ der Kanzlerin bei ihrem Serbienbesuch im August war zwar ein spürbarer Nagel, den Pudding fixieren konnte sie freilich nicht. Allzu windig waren die vielen vorangegangenen Beteuerungen aus der europäischen Politik und Diplomatie gewesen, dass der Beitritt Serbiens keine Anerkennung des Kosovo, sondern lediglich gut nachbarschaftliche Beziehungen voraussetze. Was Angela Merkel vom serbischen Präsidenten verlangte, bedeutet in diesem Sprachgebrauch, dass Serbien sich mit der Tatsache des unabhängigen Kosovo abfinden soll, auch wenn es die Rechtlichkeit dieses Staates nicht akzeptiert.
Aber dieses Serbien hat mit dem Verhältnis von Tatsachen und Recht so seine Erfahrung. Seit der ersten Gründung einer „autonomen serbischen Republik“ außerhalb des eigenen Territoriums zu Beginn der Neunziger Jahre war es seine durchgängige Strategie, Tatsachen zu schaffen, und dann auf deren rechtliche Anerkennung zu warten. Mit dem Abkommen von Dayton ist dies zumindest in Bosnien und Herzegowina gelungen, denn die Republika Srpska existiert dort als Entität mit internationaler Zustimmung. Und nur weil der letzte Schritt ihrer Verschmelzung mit Serbien misslang, weigert sich dieser Teilstaat bis heute trotzig, zu einem Staatsteil Bosnien und Herzegowinas zu werden und sich in das Ganze zu integrieren.
Im Kosovo konnte die Entwicklung nur andersherum verlaufen, denn dieses Gebiet war ja laut Verfassung eine – wenn auch lange Zeit autonome – „Provinz Serbiens“. Selbst als diese zuerst zu einem UN-Protektorat wurde und dann ihre Unabhängigkeit ausrief, hielt Serbien an seinem Anspruch auf den ganzen Kosovo fest. Die alte Strategie, eine „autonome serbische Republik“ auszurufen, konnte daher im Kosovo keine Anwendung finden; sie wäre ja wie die Gründung eines unabhängigen Staates auf eigenem Territorium gewesen. Deshalb gilt heute aus serbischer Sicht der Süden des Kosovo als de facto verloren (wenn auch de jure nach wie vor beansprucht), während der Norden de facto als serbisches Staatsgebiet gehalten wird, ohne dass dieser Zustand jedoch de jure legitimiert werden könnte.
Niemand will Rolle des „vaterlandslosen Gesellen“
Weil niemand in der serbischen Politik willens ist bzw. es sich leisten kann, die Rolle des „vaterlandslosen Gesellen“ zu spielen, ist der Kosovo die Falle, in der sie alle gemeinsam sitzen. Der EU-Report und seine Empfehlung für Serbiens Kandidaten-Status werden deshalb ausschließlich aus der Perspektive derer aufgenommen, die in dieser Falle sitzen.
Beginnen wir mit der nationalistischen Radikalen Partei, die großmäulig zu einer Kundgebung vor dem Amtsgebäude des Präsidenten in Belgrad aufrief. Ihr Motto lautete „Wir wollen nicht in die EU“ und ein offener Brief sollte an den Präsidenten überreicht werden. Weil aber gerade mal 100 Leute kamen, konnte die Polizei auch den Boten des Briefes wegen Bedeutungslosigkeit den Zutritt zum Präsidenten verweigern. Der stellvertretende Parteivorsitzende Dragan Todorović konnte nur noch ein Statement abliefern, dass die EU Serbien nicht wolle: „Sie geben uns formal den Status nur, damit sie uns weiter zwingen können, unsere Institutionen im Kosovo aufzugeben“.
Der Präsident selbst griff die Ermahnungen zur Fortsetzung des Dialogs mit Prishtina auf, um zu sagen, dass Belgrad diesen Dialog schon wollte, lange bevor die EU meinte, dazu drängen zu müssen. Es sei ausschließlich an der anderen Seite, ihn möglich zu machen. Serbien wünsche sich eine Lösung der Probleme an den „administrativen Übergängen“, und dies müsse nicht daran scheitern, dass es nun einmal „Prinzipien hinsichtlich seiner territorialen Integrität“ habe, die es nicht aufgeben könne.
Der Außenminister Jeremić ließ – wie zu erwarten – verlauten, dass sich gar nichts ändern werde. Der Beitrittsprozess und der Kosovo-Prozess seien „zwei getrennte Vorgänge, die keinen Einfluss aufeinander haben“. Auf so viel störrischen Wirklichkeitsverlust passt nur die Reaktion der kosovarischen Ministerin für EU-Integration, Vlora Citaku: „Es kann nicht zwei Serbien geben – ein europäisches gegenüber Brüssel und ein anti-europäisches gegenüber dem Kosovo“. Gut gesagt!
Die nationalkonservative Partei des früheren Präsidenten Koštunica sieht sich durch das alles nur in ihrer weisen Analyse bestätigt: der Kandidaten-Status für Serbien ist in ihren Augen „nur ein weiteres Glied in einer Serie von Erpressungen Serbiens durch die EU“.
Vuk Drašković, Chef der „serbischen Erneuerungsbewegung“ gibt dem noch mal eine andere Wendung mit der Feststellung, der Kandidaten-Status sei zwar gut, könne aber auch wirkungslos bleiben, wenn es nun nicht gelinge, eine regionale Zusammenarbeit nach europäischen Standards zu etablieren. Solche Zusammenarbeit aber sei „im Interesse des Staates Serbien“.
Den Innenminister Dačić treibt eine ganz andere Sorge um: als „fortschrittlich denkender Sozialist“ will er zwar nicht in das Horn der radikalen Nationalisten blasen, aber er hat doch den nahenden Wahlkampf im Auge und er muss sich irgendwie vom Präsidenten unterscheiden. Daher hat er entschieden, sich über eine „große Ungerechtigkeit“ zu empören, die Serbien seitens der EU widerfahren sei: schließlich habe Kroatien nicht nur Kandidatenstatus, sondern sogar einen Termin für die Aufnahme der Gespräche erhalten, noch bevor es seinen General Gotovina nach Den Haag ausgeliefert hatte. Warum verlange Brüssel nun von Serbien so viel mehr als es von Kroatien je verlangt habe? Und warum verweigere Brüssel Serbien einen Termin für den Beginn der Verhandlungen?
Nur eine einzige Bedingung
Darauf weiß Botschafter Vincent Degert, Chef der EU-Delegation in Serbien, die gewohnte Antwort: der Innenminister und mit ihm Serbien sollten sich im Gegenteil eher freuen, denn der übliche Weg sei die Verknüpfung des Gesprächstermins mit einer Vielzahl von Bedingungen und eine mindestens einjährige Wartezeit bis zu ihrer Erfüllung. Serbien aber habe nur eine einzige Bedingung gestellt bekommen: den „konstruktiven Dialog“ mit Prishtina. Und wenn der gegeben sei, könne auch lange vor Jahresfrist ein Termin für den Beginn der Beitrittsgespräche festgesetzt werden.
Aber was bedeutet nun das Attribut „konstruktiv“ im Dialog zwischen Serbien und Kosovo? Der Botschafter, der den Singular der einen Bedingung schon so deutlich unterstrichen hat, kann nun nicht noch einmal von conditions im Plural reden – also weicht er geschickt aus und spricht von „priorities“. Vier Prioritäten gebe es, „in which the Commission expects further progress to be made“: Die Teilnahme beider Länder an internationalen Konferenzen und Vereinbarungen, ihre Integration in den European Energy Community Treaty, die offenen Fragen in der Telekommunikation und die gegenseitige Anerkennung universitärer Abschlüsse.
Weil der Botschafter aber weiß, dass weder conditions noch priorities für gewöhnlich ausreichen, um den Wind einzufangen oder den Pudding festzunageln, hat er eine fünfte priority hinzugefügt: „implementing in good faith of all agreements reached“. So sei es!