Europa muss sozialer werden. Diesen Satz unterschreibt so gut wie jede/r. Denn die EU hat deutlich Schlagseite. Während die Integration des Binnenmarktes fleißig voranschritt, hinkt die soziale Absicherung dieser wirtschaftlichen Integration deutlich hinterher. Lange war dies auch so gewollt. Denn soziale Belange konnten gut auf der nationalen Ebene geregelt werden. Und so betrifft die sozialregulative Politik der EU aktuell vor allem arbeitsrechtliche Standards, die als integraler Bestandteil des gemeinsamen Binnenmarktes entstanden sind.
Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrags und spätestens mit der Eurokrise, wurde der Ruf nach einem sozialeren Europa immer lauter. Nur präziser wird er leider nicht. So kreisen viele Vorschläge zum sozialen Europa um eine Verbesserung bestehender, vor allem arbeitsrechtlicher Regelungen, wie dem Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Die entscheidende Frage, ob klassische nationalstaatliche Kompetenzen der Sozialpolitik – wie die sozialen Sicherungssysteme – stärker harmonisiert werden sollten, wird jedoch ausgespart.
Negative Integration reicht nicht
Wir brauchen daher dringend eine ehrliche Diskussion darüber, was wir mit der oft gestellten Forderung nach mehr “sozialem Europa” wirklich meinen. Die elementare Frage ist, ob diese aus der Binnenmarktlogik, also aus der Entfernung der Binnengrenzen, folgende Integration („negative Integration“) weiterhin ausreicht, um dem Anspruch „Europa muss sozialer werden“ gerecht zu werden. Unsere These ist, dass sie nicht ausreicht, sondern dass wir auch in diesem Bereich einen besseren Ordnungsrahmen brauchen.
Schon heute haben wir auf Grundlage des Artikels 137 EG-Vertrag einige “positive” sozialregulative Richtlinien, wie u.a. zur Arbeitssicherheit und zum Arbeitsschutz (inkl. Familienpolitik), Teilzeitarbeit, Gleichstellung und Antidiskriminierung sowie europäischen Betriebsräten. Allerdings bedürfen diese Fragen überwiegend der Einstimmigkeit im Rat, der regelmäßig blockiert (siehe Antidiskriminierungspolitik). Hinzu kommt, dass dies vor allem Grauzonenbereiche sind, was die diesbezüglichen Diskussionen um Subsidiaritätsrügen verdeutlichen.
Der von Grünen in anderen Zusammenhängen geforderte neue Konvent müsste sich daher dieser Aspekte annehmen und das Einstimmigkeitprinzip beenden, so dass "negative" und "positive" sozialpolitische Regulierungen endlich auf gleicher Augenhöhe stehen.
Nationale Sozialsysteme unter Druck
Eine weitere Herausforderung ist, dass die Mitgliedstaaten angesichts riesiger Integrationsschritte im Binnenmarkt und einer voranschreitenden weltweiten Vernetzung nicht mehr allein über ihre traditionellen sozialstaatlichen Instrumente des (Um-)Verteilens verfügen bzw. die sozialstaatlichen Sicherungsinstitutionen unter Druck stehen. Wie in der von der Heinrich-Böll Stiftung-herausgegebene Studie „Solidarität und Stärke: Zur Zukunft Europas“ beschrieben, besteht das Integrationsparadox darin, dass je mehr sich die Mitgliedsregierungen an ihre Restsouveränität auf dem Gebiet der Sozialpolitik klammern und sich einer Befassung mit sozialstaatlichen Grundfragen auf EU-Ebene verweigern, desto mehr sozialpolitische Gestaltungsmacht drohen sie in diesem Zuge zu verlieren.
Dies gilt umso mehr, wenn die europäische Ebene, wie jetzt diskutiert, im Bereich der Haushaltspolitik weitere Kompetenzen bekommen soll. Die Diskussionen über Griechenlands Staatsausgaben machen mehr als deutlich, dass es brandgefährlich ist, eine europäische Debatte über staatliche Ausgaben zu führen, in der die Fragen, was der Staat leisten soll und was unsere sozialen und ökologischen Ziele sind, nicht vorkommen. So werden von der europäischen Seite einseitig Sparvorgaben – siehe die Austeritätsprogramme der Troika oder den Fiskalpakt – gemacht, ohne eine rote Linie mit Blick auf soziale Mindeststandards einzuziehen. Die Folge ist ein Abbau von sozialen Errungenschaften über Nacht. So richtig ein Abbau von ungerechtfertigten und überdimensionierten Privilegien im öffentlichen Dienst ist, so falsch ist es, Renten so zu kürzen, dass ein großer Teil der Bevölkerung plötzlich unter dem Existenzminimum lebt.
Soziale Sicherungssysteme europäisch denken
Wenn in Zukunft die europäische Ebene mehr in Bezug auf eine abgestimmte Haushaltspolitik zu sagen hat, aber auch, wenn wir bei steuerpolitischen Fragen enger zusammen arbeiten wollen, dann kommen wir gar nicht darum herum auch über fundamentale soziale Fragen und die bis dato heiligen nationalen sozialen Sicherungssysteme europäisch zu diskutieren – ohne alles zu vereinheitlichen. Und zwar nicht nur anhand abstrakter Ziele, sondern entlang der Frage, wie die soziale Absicherung in Europa gestaltet wird und welche Systeme mit welchen Standards wie greifen. Dabei spielt aus unserer Sicht dann eben nicht nur der Aspekt der Kompatibilität der sozialen Sicherungssysteme eine Rolle, sondern auch die Frage der europäischen Solidarität und Umverteilung, wie beispielsweise im Rahmen einer europäischen Basis-Arbeitslosenversicherung.
Diese Diskussion wird keine einfache sein, betreffen doch die sozialen Sicherungssysteme einen Kernbestandteil unserer nationalen Identität. Gelingen wird dieser Schritt daher nur, wenn wir der sozialpolitischen Integration den bisherigen Anschein der Richtungslosigkeit und den BürgerInnen ihre Sorge vor sozialen Kahlschlägen nehmen. Aus unserer Sicht braucht es auch dafür den bereits erwähnten neuen europäischen Konvent.
Annalena Baerbock ist Vorstandsmitglied der Europäischen Grünen Partei und Sprecherin der BAG Europa von Bündnis 90/Die Grünen
Anna Cavazzini ist Sprecherin der BAG Europa von Bündnis 90/Die Grünen