Die EU und Bosnien: Politikwechsel oder Realitätsverweigerung?

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7. Juli 2010
Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung     


Sehr geehrte Damen und Herren,

erlauben Sie mir, ein paar Worte zum Hintergrund dieser Veranstaltung zu sagen.

Bosnien-Herzegowina ist in den letzten Jahren zunehmend vom Radarschirm der öffentlichen Aufmerksamkeit in der Bundesrepublik verschwunden. Das ist kurzsichtig. Auch 15 Jahre nach dem Ende des Krieges sind das Land und der Staat noch immer nicht auf einem selbsttragenden Entwicklungsweg. Die Lage ist gekennzeichnet durch fortdauernde Konfrontation zwischen den ethnisch-nationalistischen Parteien, einen hartnäckigen Reformstau, grassierende Armut und ein Zurückfallen im EU-Integrationsprozess.

Eine Atmosphäre der Angst kehrt zurück – verschärft durch Sezessionsdrohungen aus der Republika Srpska und einzelne Fälle ethnisch motivierter Gewalt.

Ein Beispiel für die „gespaltene Erinnerung“ des Landes war kürzlich, am 4. Mai 2010, in Sarajevo zu beobachten: Zum ersten Mal nutzten etwa 100 Bürger der Republika Srpska (RS) den Jahrestag eines Angriffs auf Soldaten der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) zu Beginn des Krieges für eine öffentliche Demonstration und legten Blumen und Kerzen am Ort des Geschehens nieder. Ihr Gedenken galt allerdings allein den getöte-ten Soldaten. Zu der Gruppe zählten Familienmitglieder der Gefallenen, Parlamentarier und Regierungsvertreter aus der RS. Milorad Dodik, dessen Anwesenheit im Vorfeld angekündigt worden war, nahm letztendlich doch nicht persönlich teil.

Auf der anderen Seite fanden sich mehrere Hundert Anhänger der Veteranenvereinigung "Grüne Barette", aber auch Bürger/innen der Stadt, die auf ihre Weise (wie jedes Jahr) der Belagerung Sarajevos gedenken wollten. Ein hohes Polizeiaufgebot trennte beide Gruppen. Zu den befürchteten Ausschreitungen kam es zum Glück nicht.

Dieser Jahrestag zeigt schlaglichtartig, wie weit Bosnien-Herzegowina davon entfernt ist, eine gemeinsame Sprache für seine jüngste Vergangenheit zu finden. Der Staat ist lediglich eine äußere Hülle für ethnisch definierte „Entitäten“, die sich stärker gegeneinander abgrenzen als miteinander zu kooperieren.

Dieser ethnische Partikularismus wurde durch den Friedensvertrag von Dayton zum Konstitutionsprinzip des Staates erklärt – das ist und bleibt die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft. Und er wird immer wieder von nationalistischen Kräften geschürt, die ihre Macht und ihre Pfründe aus der Separierung ziehen.

Dabei gibt es selbst innerhalb der ethnischen Logik ein grundlegendes Ungleichgewicht zwischen denjenigen, die sich an Serbien oder Kroatien als eigentliches „Mutterland“ anlehnen – und oft genug auch über zwei Pässe verfügen – und denjenigen, die auf Gedeih und Verderb auf ein funktionsfähiges Gemeinwesen Bosnien und Herzegowina angewiesen sind. Diesen Unterschied zu ignorieren, wie es die EU bei ihrer Visapolitik tut, ist zutiefst unpolitisch und ungerecht.

Es scheint mir richtig, die Politiker in Bosnien verstärkt in die Verantwortung für die Zukunft ihres Landes zu nehmen. Aber das heißt nicht, dass sich die EU aus ihrer Verantwortung für funktionierende Rahmenbedingungen im Land zurückziehen und ihre Hände in Unschuld waschen kann.
Für die Heinrich-Böll-Stiftung hat die Arbeit unseres 1999 in Sarajevo eröffneten Büros eine hohe Bedeutung.

Wir wollen:

  • Beihilfe für die Entstehung einer zivilen, demokratischen politischen Kultur in Bosnien und Herzegowina leisten
  • eine Reform der Dayton-Verfassung ermutigen
  • in Deutschland und in der EU mehr Aufmerksamkeit für den mühsamen Prozess der europäischen Integration Bosniens und Herzegowinas wecken
  • sowie Anstöße für die nachhaltige Entwicklung und ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft geben.

Dies sind Fragen, die uns in Berlin und in Sarajevo ständig begleiten. Darüber, was für die demokratische Entwicklung Bosniens notwendig ist, und was im internationalen Kontext dafür geschehen muss, diskutieren unsere Gäste, die Ihnen die Moderatorin des heutigen Abends vorstellen wird. Damit übergebe ich das Wort an Mirela Grünther-Decevic, unsere Büroleiterin in Sarajevo.

Vielen Dank für Ihr Interesse und für Ihre Aufmerksamkeit!

Dossier

Europa und der Westliche Balkan

Wollte man im Juli 2010 ein allgemeines Charakteristikum für die Lage auf dem West-Balkan und seine Zukunftsaussichten formulieren, dann müsste man wohl von einer „alten Unübersichtlichkeit“ sprechen. Das Dossier bietet aktuelle Artikel zu Staatlichkeit, Demokratie, Bürgerrechten, Aufarbeitung und der Beziehung der Länder des westlichen Balkans zur EU.

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Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.