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Vorwärts in die Vergangenheit

Das Verfassungsgerichts der Ukraine
Foto: Dezidor (Quelle: Wikimedia.org). Dieses Foto steht unter einer GNU-Lizenz für freie Dokumentation.

30. September 2010
Von Kyryl Savin und Andreas Stein
 Die Rücknahme der Verfassungsreform 2004 steht auf der Tagesordnung

Wiktor Janukowytsch und seine „Partei der Regionen“ haben de facto bereits beinahe die gesamte Macht in der Ukraine konsolidiert. Selbst die Legislative steht nach der sogenannten Reform des Gerichtswesens unter der Kontrolle der Partei der Regionen. Doch das scheint Janukowytsch bzw. seiner engsten Umgebung nicht genug zu sein: Nun streben sie eine Änderung der Verfassung an, um die präsidiale Demokratie in der Ukraine verfassungsrechtlich zu verankern.

Verfassung von 1996 als Ziel von Janukowytsch

Zu diesem großen Ziel können verschiedene Wege führen. Noch vor der Sommerpause versuchte Janukowytsch ein neues Gesetz über Referenden in der Ukraine durchs Parlament  zu bringen. Ein Gesetz das eine Verfassungsänderung bzw. die Rücknahme einer Verfassungsänderung per Volksreferendum möglich machen sollte. Zu diesem Zweck wurde versucht, eine Allianz mit Wiktor Baloha und seiner Partei „Jedynyj Zent“ (Einheitliches Zentrum) zu bilden. Das Vorhaben ist jedoch grandios gescheitert, da die Kommunisten diesem umstrittenen Gesetz nicht zustimmen wollten.
Mit dem Beginn der politischen Herbstsaison setzt Janukowytsch nun offensichtlich auf die Rücknahme der Verfassungsreform von 2004, was er mit Hilfe des Verfassungsgerichts der Ukraine (VerfG) durchsetzen will. Man hofft in der Präsidialadministration, dass dadurch automatisch die Verfassung in der Form von 1996 in Kraft treten wird. Die Verfassung würde somit dem Präsidenten die sehr breiten Vollmachten und Befugnisse einbringen, wie sie zu Zeiten Kutschmas (Präsident der Ukraine von 1994 bis 2005) festgeschrieben und praktiziert wurden. Am 13.07 haben 252 Abgeordnete der Regierungskoalition eine Verfassungsklage eingereicht, die auf dem Vorwurf beruht, dass im Zuge der Verfassungsreform 2004 dem Verfassungsänderungsentwurf Nr. 2222 nach der ersten Lesung und Prüfung durch das VerfG zahlreiche inhaltlich relevante Änderungen zugefügt worden seien. Dies widerspräche der Verfassung, die eine präventive Kontrolle des VerfG bei Verfassungsänderungen vorschreibt. Das VerfG hat nun darüber zu entscheiden, ob die Verfassungsreform von 2004 ohne Verfahrensfehler verabschiedet wurde und damit selbst verfassungskonform gewesen ist oder nicht.

Vorbereitung des Verfassungsgerichtes zum Beschluss des Jahres

Das Verfassungsgericht der Ukraine galt schon nach seinem skandalösen Beschluss vom 06.04.2010 über die Rechtsmäßigkeit der Bildung der neuen Koalition (Partei der Regionen, Lytwyn-Bündnis und Kommunisten) im ukrainischen Parlament als politisches Instrument in den Händen des Präsidenten. Aber nach dem Wechsel des VerfG-Vorsitzenden im Juli (Anatolij Holowin aus Makejewka wurde zum neuen VerfG-Vorsitzenden gewählt), den „freiwilligen“ Rücktritten von vier Verfassungsrichtern am 10.09 und der Vereidigung der neuen Verfassungsrichter am 21.09., die der Präsidialadministration gegenüber als ausgesprochen loyal gelten, gibt es überhaupt keinen Zweifel mehr über die Regierungstreue und damit die Entscheidung des VerfG im Falle der Verfassungsreform von 2004. Es ist interessant, dass die vier zurückgetretenen Verfassungsrichter bei der Abstimmung am 06.04 über die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens der Koalition ihre Stimme entweder enthalten, dagegen gestimmt haben oder schlicht abwesend waren. „Zufälligerweise“ wurde Serhij Wdowitschenko (geboren in Donezk Oblast, ohne Fachausbildung und ein guter Bekannte von Wiktor Janukowytsch) zum berichterstattenden Richter im Fall der Rücknahme der Verfassungsreform 2004 bestimmt.

Positives Verfassungsgerichts-Urteil vorprogrammiert

Somit ist eine positive Entscheidung des VerfG, das seit dem 23.09 den Fall öffentlich bearbeitet, nun vorprogrammiert. Die Entscheidung wird zwischen dem 01.10 und 05.10 erwartet.
Tatsächlich gibt es gute Gründe für eine Nachbearbeitung der heute gültigen Verfassung. Diese wurde im Dezember 2004 verabschiedet und ist somit zum einen und wesentlich als Teil des Prozesses der Demokratisierung des politischen Systems zu verstehen, wie er in der Ukraine in der Phase nach der Orangen Revolution stattgefunden hat. So ging es denn in der damaligen Verfassungsreform im Kern auch um die Übertragung von Vollmachten vom Präsidenten auf das Parlament, welches damit deutlich gestärkt wurde. Gleichwohl gab es substantielle Defizite im Verfahren der Verfassungsänderung, und zwar nicht nur was die formelle Prüfung der Änderungen durch das VerfG angeht (an diesem Punkt alleine setzt die jetzige Verfassungsklage an), sondern auch aufgrund eines Mangels an politischen Debatten, Einbezug der Öffentlichkeit und Transparenz des damaligen Verfahrens. Letztlich fehlt es dem heutigen Verfassungstext damit tatsächlich an demokratischer Legitimität. Ein Umstand, der es der Regierung nun ausgesprochen leicht macht, ihr Vorgehen zu legitimieren. Dabei wäre eine öffentliche politische Debatte um die Verfassungsreform und eine demokratisch fundierte Nachbearbeitung sehr zu begrüßen.
Allerdings zielt der derzeitige Vorstoß der Regierung genau in die entgegengesetzte Richtung: die gesamte Frage wird zu einer formal-rechtlichen Angelegenheit reduziert und damit angeblich depolitisiert. Das damalige Verfahren sei eben nicht verfassungskonform gewesen,, müsse nun geprüft und gegebenenfalls rückgängig gemacht werden, so lautet die verkürzte Argumentation. Die Zeit der Orangen Revolution wird in diesem Zug auch schon mal als Phase politischen Chaos oder gar der tiefen politischen Krise dargestellt, in der adäquates politisches Handeln nicht möglich gewesen sei. Was damit geleugnet wird, sind die tatsächlichen demokratischen Zugewinne, die die Reformen damals mit sich gebracht haben, und so sind einige der Errungenschaften aus jener Zeit, so unvollkommen und unausgegoren sie zunächst auch gewesen sein mögen, heute in Gefahr.

Die gesamte Angelegenheit wird also zur Verfahrenssache erklärt und damit das offensichtliche politische Kalkül (Stärkung der Macht des Präsidenten durch die Umgehung von Parlament und demokratischer Prozesse), das hinter dem Vorstoß steht, zu verschleiern versucht. In dieses Bild passt auch, dass sich Vertreter/innen der Regierung einer Diskussion über die Folgen einer möglichen Rücknahme der Verfassungsreform mit der Begründung verweigern. Der Prozess der Überarbeitung sei offen und läge in der Hand des Parlaments. Wie offen und demokratisch dieser Prozess tatsächlich sein wird und ob es überhaupt zu einer Überarbeitung kommen wird bleibt abzuwarten. Es kursieren bereits Gerüchte denen nach das Parlament völlig umgangen werden soll. Aber darüber kann bisher nur gemutmaßt werden und so bleibt die große offene Frage zu diesem Zeitpunkt tatsächlich: Was passiert nach der Rücknahme der Reformen von 2004?
Wenn das Annahmeverfahren des Verfassungsänderungsgesetzes Nr. 2222 für nicht verfassungskonform erklärt wird, würde des bedeuten, dass damit automatisch die alte Verfassung von 1996 wieder in Kraft tritt? Die meisten Jurist/innen und Verfassungsrechtler/innen antworten auf diese Frage negativ. Sollte das Verfassungsgericht sich dafür entscheiden, woran jetzt eigentlich kein Zweifel mehr besteht, obliegt es dem Parlament, die Änderungen der Verfassung durchzuführen. Die Ukraine wird im Verfassungsvakuum leben müssen, solange das Parlament keine neuen Änderungen oder gar eine komplett neue Form verabschiedet.
Für Verfassungsänderungen fehlen der Koalition bzw. dem Präsidenten noch circa 30 Stimmen, da die Koalition heute mit 269-270 Stimmen rechen kann. Gerüchten zufolge wird so ein Verfassungsänderungsgesetz auch einen für Parlamentsabgeordnete motivierenden Punkt beinhalten: die jetzige parlamentarische Legislatur soll um 3 Jahre verlängert werden und die nächste Parlamentswahl würde erst 2015 statt 2012 stattfinden. Mit dieser Norm im Änderungsentwurf können wohl über 300 Stimmen für die notwendige Verfassungsänderung gefunden werden.

Entscheidend wird hierbei auch das Abschneiden der „Partei der Regionen“ bei den Kommunalwahlen sein. Je überzeugender der Sieg oder die Niederlage, um so überzeugender die Argumente entweder der Koalition beizutreten oder bei entscheidenden Abstimmungen seinem Gewissen „zum Wohl der Ukraine“ zu folgen und den Regierungsentwurf zu unterstützen. Von Olexandr Jefremow, dem Fraktionsvorsitzenden der „Partei der Regionen“, wurde jedoch auch der Weg über eine Volksabstimmung nicht ausgeschlossen. Hierfür fehlen jedoch noch einige gesetzliche Grundlagen, die wohl aber nur geringe Hindernisse darstellen werden in Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse im Verfassungsgericht und in der Werchowna Rada.

Verfassungsrechtliches Chaos danach?

So wird es wohl weiter gehen, wenn die Annahme stimmt, dass die alte Verfassung von 1996 nicht automatisch in Kraft treten wird, sobald das VerfG die Verfassungsänderung von 2004 für ungültig erklärt. Alle in Kiew sind nun gespannt, was im Urteil des VerfG genau stehen wird und wie die Verfassungsrichter diese schwere verfassungsrechtliche Situation interpretieren werden. Es kursieren derzeit noch zwei Optionen: Die Verfassungsrichter schreiben im Urteil schwarz auf weiß, dass die Ukraine zur Verfassung von 1996 zurückkehrt, oder sie lassen diese Schlüsselfrage ganz offen. Bei der zweiten Option kommt es dann auf die Auslegung des Urteils durch Präsidialadministration an. Welche von beiden Optionen gewählt wird, wird gerade mit Hilfe zahlreicher „Versuchsballone“ in den Medien getestet.
Der Ukraine steht auf jedem Fall eine rechtlich abenteuerliche Zeit bevor. Denn wenn die alte Verfassung von 1996 von heute auf morgen wieder gelten sollte, gibt es überhaupt keine Antwort auf die Frage, was mit der ganzen ukrainischen Gesetzgebung passieren wird, die nach 2005 verabschiedet wurde und auf der neuen Verfassung basiert.

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Dr. Kyryl Savin ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew (Ukraine)
Andreas Stein ist freier Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung Kiew und Herausgeber des Web-Portals www.ukraine-nachrichten.de

Dossier

Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie

Seit 1991 ist die Ukraine unabhängig. Trotz Reformen hat die Demokratie in der Ukraine immer noch große Defizite. Die Orangene Revolution 2004 hat den Prozess der Demokratisierung beschleunigt, doch ist die Demokratie im Lande weiter instabil und die Zivilgesellschaft zu schwach, um Politiker und Politikerinnen kontrollieren zu können. Ein Schritt zurück zur Autokratie ist bei der andauernden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht ausgeschlossen. Das Dossier begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Artikeln und Hintergrundberichten.