Die außenpolitische Debatte in den USA
Der letzte „Zwischenruf“ galt Robert Kagan und Richard Haass. Für Kagan ist eines sicher: Die Welt funktioniert polar, allerdings neuerdings in gleich drei Varianten. Mit den USA als einziger Supermacht bleibt die Welt unipolar, doch ist zugleich der internationale Wettstreit unter großen Mächten zurückgekehrt. Insofern herrscht Multipolarität. Letzten Endes stehen sich freilich Demokratien und Autokratien gegenüber. Also läuft alles wieder auf die vertraute Bipolarität hinaus. Zu solch analytischer Beliebigkeit kommt es, wenn sich die Welt zwar nicht mehr ganz über einen groben Leisten schlagen lässt, Polarität aber das einzig verfügbare Denkmuster ist. Erst kommt man per Subtraktion des Sowjetimperiums zur einzig verbliebenen Supermacht, dann werden ihr nolens volens per Multiplikation andere Mächte beigesellt, um schließlich per Division wieder bei der Bipolarität mit eindeutig entgegen gesetzten Vorzeichen zu landen. Wenn sich eine gewisse Komplexität der Welt nicht ganz leugnen lässt, so meint Kagan ihr doch mit dem kleinen Einmaleins ohne weiteres beizukommen. Als Analytiker überschätzt, ist Robert Kagan vor allem Ideologe – und John McCains außenpolitischer Berater.
Das kleine Einmaleins der Polaritäten
Räumt man dagegen mit Richard Haass ein, dass wir uns gegenwärtig in einer nichtpolaren Welt zurechtfinden müssen, steht die internationale Politik vor der Frage, ob und wie der Gefahr, immer tiefer ins Chaos zu geraten, mit einer Politik entgegengewirkt werden kann, die sich neben dem Westen auch andere Kräfte und Mächte rund um den Globus zu eigen machen können. Die Mühe, die verschiedenen Kräfte und Mächte zu sortieren, bleibt einem allerdings nicht erspart.
In ihrem Artikel „A World without the West“ in The National Interest meinen Nazneen Barma, Ely Ratner und Steven Weber, die an der University of California in Berkeley arbeiten, den jüngsten internationalen Entwicklungen sei nicht länger mit dem eingeübten binären Paradigma beizukommen, wonach die Beziehungen Chinas und anderer aufstrebenden Mächte zu den USA entweder durch Konvergenz in Richtung vertiefter Kooperation, Stabilität und Frieden oder durch wachsende Rivalität, vielleicht sogar Krieg geprägt seien. Die Techniken der Globalisierung stärkten die Fähigkeit, Verbindungen zu knüpfen, diktierten aber keine bestimmte Art von Verbindungen. Deshalb seien die aufsteigenden Mächte nicht vor die Alternative von Konflikt oder Anpassung gestellt, sondern kämen zunehmend in die Lage, den Westen zu umgehen: Indem sie vorzugsweise die Verbindungen untereinander vertieften, bildeten sie ein eigenes System der internationalen Politik, das weder auf Konflikt mit dem Westen, noch auf Anpassung an ihn hinauslaufe. Vielmehr solle der Westen und insbesondere die Macht der USA zunehmend irrelevant gemacht werden.
Alternative von Konflikt oder Anpassung ?
Auf diese Art bilde sich eine eigene Welt von Verbindungen heraus, deren Waren- und Finanzströme, deren Migration von Menschen und Ideen sich der Kontrolle durch den Westen entziehe. Eine wachsende Zahl von Staaten nutze die Kräfte der Globalisierung, um nach und nach ihre Verknüpfung mit der westlichen Welt zu revidieren und ihre Autonomie zu stärken. Verweise auf die Außenhandelsstatistik und Beispiele wie die chinesische Afrikapolitik sollen die These belegen.
Ökonomisch beruhe die alternative Ordnung auf Kapital, das aus der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der industriellen Produktion unter Niedriglohnverhältnissen gewonnen werde. Poltisch folge sie einer „neo-westfälischen“ Konzeption, in der hartschalige Staaten ihre äußeren Beziehungen aushandelten, sich jedoch das Recht einräumten, ihre innere Ordnung ohne jede äußere Einmischung selbst zu gestalten. Beziehungen zum wechselseitigen Nutzen unter Ausschluss von Einmischung in die jeweiligen inneren Angelegenheiten: Das waren die Prinzipien der Blockfreienbewegung. Die VR China bestand immer schon auf ihrer Aufnahme in jede Vereinbarung, etwa in das Shanghaier Kommuniqué mit den USA anlässlich von Nixons China-Besuch Anfang der siebziger Jahre.
Beziehungen zum wechselseitigen Nutzen
Die Autoren behaupten, dass sich mit diesen Prinzipien auf Basis spezifischer ökonomischer Voraussetzungen in der globalisierten Welt eine eigene Welt neben dem Westen errichten, entwickeln und stabilisieren lässt. Der universelle Anspruch westlicher Werte müsse dabei weder bekämpft noch akzeptiert werden. Sie machten wenig Sinn in großen Teilen der Welt und würden einfach ignoriert: „Märkte und Geschäfte sind Gegenstand der Weltpolitik, nicht Menschenrechte und transzendente moralische Normen. Staaten verhandeln in geeigneter Weise miteinander über technische Standards und Handelsabkommen. Sie urteilen nicht über die jeweiligen Wahl- und Rechtssysteme.“
Sowie es freilich nicht mehr nur um Austauschbeziehungen geht, in denen Waren an der Grenze die Hände wechseln, sondern zum Beispiel um Investitionen, hören die inneren Verhältnisse im Verhältnis von Staaten untereinander auf, füreinander gleichgültig zu sein. In den deutsch-chinesischen Beziehungen entstand so der Rechtsstaatdialog. Zurecht wurde in der Diskussion über die Thesen der Autoren auch darauf verwiesen, dass internationale Umfragen eine weitgehende Übereinstimmung über wünschbare politische Freiheiten zeigen.
Die eine Welt ist keine einheitliche Welt. Schon aus der Spannung von Staatenwelt und Weltwirtschaft folgt ein Doppelverhältnis von Neben- und Miteinander. Die Autoren beschreiben Tendenzen in der einen Welt, aus denen sie zu weit reichende Schlüsse ziehen. Die stärkeren Beziehungen zwischen China und Afrika ändern zum Beispiel nichts an der Tatsache, dass zwischen China und dem Westen, speziell den USA, ein Verhältnis „wechselseitig gesicherter ökonomischer Vernichtung“ (Ian Bremmer) herrscht, das einen vorsichtigen Umgang mit den Problemen des anderen einschließt. Diese enge Verknüpfung wird durch die Verbindungen innerhalb einer „Welt ohne den Westen“ relativiert, aber nicht um ihre existentielle Bedeutung gebracht.
Welt ohne den Westen
Die politischen Sanktionsmöglichkeiten des Westens werden freilich eingeschränkt. Dies zeigt sich gegenwärtig vor allem in der Politik gegenüber dem Iran. Es gelingt nicht, ihn wirksam zu isolieren. Einer wie Chavez wäre unter früheren Bedingungen längst weggeputscht. Es hat sich etwas verändert. Aber wenn die Vorherrschaft des Westens schwindet, muss das nicht heißen, dass eine „Welt ohne den Westen“ entsteht. Der Westen muss lernen mit der Welt und nicht nur mit sich selbst zu rechnen.
Eine andere Anordnung der Kräfte sieht Parag Khanna am Werk. Auch sie verlangt von den USA eine neue Sicht auf die Welt. Khanna, ein Mitarbeiter des American Strategy Program of the New America Foundation, mag von der Kategorie der Supermächte nicht lassen, aber mit einer ist es für ihn nicht getan. Er glaubt drei Supermächte zu erkennen: Die USA, Europa und China. Russland sei mit seiner abnehmenden Bevölkerung schon außer Konkurrenz. Privat würden europäische Politiker kein Hehl daraus machen, dass seine Einverleibung durchaus machbar sei. Indien aber sei noch lange nicht konkurrenzfähig. So spricht Khanna von Tripolarität.
Gemäß klassischer Geopolitik strebten die drei Supermächte an, ihren Teil der Welt von Nord nach Süd zu beherrschen, die USA Amerika, Europa Afrika und China seinen Teil von Sibirien bis Australien. So ganz einfach geht das aber nicht, denn in einer globalisierten und schrumpfenden Welt ist Geographie nicht sakrosankt. Die Staaten der Zweiten Welt, also nicht mehr so arm wie die Dritte Welt, aber auch weit von Supermacht entfernt, wollten die Tripolarität nutzen, um sich der Kontrolle durch eine Supermacht zu entziehen. Daraus entsteht ein Kampf um die Zweite Welt, wobei die neuen Großen Drei ihre unterschiedlichen geopolitischen Ausgangspunkte nutzen und die jeweiligen Stärken ihrer strategischen Konzeptionen zum Einsatz bringen:
Geographie ist nicht sakrosankt
„Je mehr wir die Unterschiede zwischen den amerikanischen, europäischen und chinesischen Weltsichten wahrnehmen, desto eher werden wir die planetarischen Trümpfe im neuen globalen Spiel erkennen. Frühere Epochen des Mächtegleichgewichts waren durch europäische Mächte geprägt, die eine gemeinsame Kultur teilten. Auch der Kalte Krieg war nicht wirklich eine Ost-West-Auseinandersetzung. Er blieb im wesentlichen ein Streit um Europa. Zum ersten Mal in der Geschichte findet heute eine globale, multizivilisatorische, multipolare Auseinandersetzung (battle) statt.“
Dass die Zweite Welt umkämpft ist, macht ihre Stärke aus. Die Staaten dort wollen demnach nicht unterworfen sein. In der Epoche der Macht von Netzwerken, wollen sie sich nicht damit begnügen, bloß Exportmärkte zu sein. Eher sind sie nämlich Orte, wo die Großen Drei kräftig investieren und produktive Einsätze leisten müssen, um ihren Einfluss zu bewahren. So kommt es, dass die Zweite Welt das Machtgleichgewicht in der Welt genau so beeinflussen wird, wie es die Supermächte tun. Doch inwiefern gibt es dann noch Supermächte?
Man sollte die amerikanischen Globalanalysen in erster Linie als innenpolitische Weckrufe und nicht als Lösung des Welträtsels lesen. Sie wollen aus der Selbstgefälligkeit des „unipolar moment“ aufschrecken. Damit die USA die Augen auf die veränderte Welt richten, wird sie in unterschiedlichen Varianten als völlig verändert dargestellt. Tatsächlich ist sie ganz anders, als die Annahme einer unipolaren Welt vermuten oder erhoffen ließ. Aber so anders ist sie auch wieder nicht, dass zu ihrer Beschreibung immer neue und immer mehr Aufsehen erregende Szenarien notwendig würden. Sich der Tatsache einer nichtpolaren Welt stellen zu müssen, scheint nach den Jahrzehnten des Kalten Krieges die eigentliche Herausforderung zu bleiben. Nicht nur für die USA.
Literaturhinweise:
- Naazneen Barma, Ely Ratner and Steven Weber, A World Without the West, The National Interest – Jul./Aug. 2007, S. 23 – 30; Diskussion der Thesen auf The National Interest online
- Parag Khanna, Waving Goodbye to Hegemony, in: NYT magazine January 27, 2008; Khannas Thesen finden sich ausladend und weniger prägnant auch dargestellt in seinem Buch Der Kampf um die Zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Berlin (Berlin Verlag) 2008 (623 S., 24,90 Euro)