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Nach Musharrafs Erklärung des Ausnahmezustands

Interview mit Gregor Enste, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Pakistan

21. April 2008
Bernd Herrmann, 5. November 2007
Montag, 5. November 2007

Nach dem Putsch vom 3. November 2007 hat General Musharraf den Ausnahmezustand erklärt und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Es folgte die Festnahme von Führern oppositioneller Parteien, von Aktivisten und von Anwälten, die gegen den Putsch prostestierten. Auch Projektpartner der Heinrich-Böll-Stiftung wurden verhaftet oder stehen unter Hausarrest. Die Lage in Pakistan ist weiterhin unübersichtlich, das Land weitgehend von ausländischen Medien abgeschnitten.
Eine erste Einschätzung von Gregor Enste.

Herr Enste, wie man hier in den Medien hört, herrscht in Pakistan der Ausnahmezustand – andererseits werden zahlreiche Demonstrationen und Zusammenstöße gemeldet. Wie erleben Sie die Lage im Land?

Ich habe in den letzten beiden Tagen in Islamabad und Lahore bei der dortigen Bevölkerung eine große Orientierungslosigkeit und eine große Wut und Depression feststellen können – jedenfalls bei denen, die über die Konsequenzen eines Ausnahmeszustands halbwegs informiert sind.

Orientierungslos deshalb, weil verlässliche Informationen fehlen, die landesweiten unabhängigen pakistanischen Fernsehsender sind abgeschaltet, Telefonverbindungen in die Nordwestgrenzprovinz bleiben gekappt, es herrscht ein Klima der Spekulationen und Gerüchte. Und bei den politisch denkenden und handelnden pakistanischen Bürgern herrscht ohnmächtige Wut vor, man fühlt sich wieder einmal betrogen von den Regierenden. Ja, und man ist auch wütend auf sich selbst, dass man den Versprechungen und Aussichten auf einen demokratischen Wandel überhaupt geglaubt hat. Diese Wut entlädt sich aber noch nicht auf den Straßen, denn gezielt sind diejenigen verhaftet worden, die den Protest organisieren könnten. Allein hier in Lahore sind seit gestern hunderte Parteipolitiker, Intellektuelle und Journalisten festgesetzt worden, in Hausarrest oder Gefängnis. Auch Partner der Heinrich-Böll-Stiftung.


Wie könnte es weitergehen? Sind die ehemaligen Premiers Benazir Bhutto und Nawaz Sharif eine wirkliche Alternative zu den Militärs? Welche anderen Kräfte gibt es?

Um mit der letzten Frage anzufangen: Es ist eines der Dilemmata in Pakistan, dass es keine demokratischen Selbsterneuerungskräfte gibt; deshalb schaut man übrigens immer mit gewissem Neid zum Nachbarn Indien. Die über die letzten Jahrzehnte und besonders über die acht Jahre unter Präsident Musharraf desillusionierte und in Teilen entpolitisierte Gesellschaft hat keine neuen Führungskräfte hervorgebracht – Reformer sind erst recht nicht in Sicht. Und Benazir Bhutto und Nawaz Sharif stehen nicht für Erneuerung, sie sind keine Alternativen, denn sie stehen Parteidynastien vor und haben sich in den Jahren ihrer Herrschaft massiv selbst bereichert.

Trotzdem muss man feststellen, dass Benazir Bhutto – sowohl vom Nimbus ihres Vaters als auch vom eigenen Charisma zehrend – immer noch einen großen Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung hat – und das als Einzige auch bei den nicht-muslimischen Minderheiten. Wenn es jemals noch eine Chance zu einer Transformation in Pakistan gibt, dann bietet sich Benazir Bhutto noch als das kleinere Übel an. Aber auch sie wird die Dominanz des Militärs nicht ohne weiteres brechen können. Ich sehe aber eine andere große Gefahr am Horizont der Islamischen Republik Pakistan in dem Augenblick aufziehen, wenn sich eine charismatische Führungsperson bei den islamistischen Parteien herauskristallieren würde.


Wie schätzen Sie im internationalen Zusammenhang die weitere Entwicklung ein – sowohl was die Nachbarländer Afghanistan und Indien anbetrifft, wie auch die Reaktionen von USA und EU?

Hier ist eine seriöse Einschätzung noch verfrüht. Wenn allerdings sowohl Afghanistan als auch Indien in offiziellen Stellungnahmen ihre Sorge über die Entwicklung im Nachbarland geäußert haben, so ist das tatsächlich so gemeint: Man hat Angst vor einem kollabierenden Staat in Pakistan. Man hat Angst in Afghanistan, dass die Lage in den Grenzprovinzen eskaliert, man fürchtet sich in Indien vor einem Wiederaufflammen des Terrorismus in Kaschmir – und natürlich vor dem pakistanischen Atomwaffenarsenal.

Die Reaktionen der EU und der USA sind ja bisher eher zurückhaltend, man findet den Ausnahmezustand bedauerlich und fordert die Abhaltung von freien Wahlen. Und man denkt zögernd über Sanktionen nach. Wenn es dazu kommt, dann sicherlich nicht zu militärischen Sanktionen von amerikanischer Seite. Denn das würde nach deren Lesart die Streitkräfte treffen und somit indirekt die islamistischen Gruppen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet stärken.


Welche Rolle spielt der „Krieg gegen den Terror“, die Lage in den Grenzprovinzen zu Afghanistan? Ist die Eskalation dort ein Grund für den Putsch – oder benutzt Musharraf die Lage dort als Vorwand?

Ja, er benutzt die Lage dort tatsächlich nur als Vorwand. Denn die Talibanisierung der Nordwestgrenzprovinz, die Militanz in den Stammesgebieten der FATA, das dortige Treiben von Al Qaida und deren Selbstmordattentate auf staatliche Einrichtungen gibt es schon seit anderthalb Jahren – aber erst jetzt, drei Tage bevor der Oberste Gerichtshof über die Verfassungsmäßigkeit der Wahl General Musharrafs zum Präsidenten entscheiden wollte und zehn Tage bevor er die Uniform – seine „zweite Haut“ – hätte ablegen müssen, erklärt er den Ausnahmezustand im Lande. Dies dient dem reinen Machterhalt Pervez Musharrafs; er weiß das auch selbst. Ich habe ihn bei einer öffentlichen Ansprache noch nie so zerfahren und so unkonzentriert erlebt wie in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Die ganze fünfzigminütige Rede war sich selbst widersprechend, voller Wiederholungen und mit einigem Stottern vorgetragen. Musharraf lief dabei der Schweiß aus den Poren; vielleicht war es Angstschweiß, Angst vor der eigenen Bevölkerung und Angst, der Lüge überführt zu werden und zugeben zu müssen, dass er mit dem Rücken an der Wand steht.

Die Fragen stellte Bernd Herrmann.

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