Was sich seit Frühjahr 2007 auf der südasiatischen Bühne in Pakistan abspielt, könnte als bizarres Politstück mit hohem Unterhaltungswert bezeichnet werden. Es gibt immer neue Wendungen, neue Aufzüge und bekannte Akteure in neuen Rollen. Als orchestrale Begleitung fungieren Stammeskriege und Al Quaida. Nur ist das Ganze ein gefährliches Staatstrauerspiel mit schlechter Dramaturgie, miserabler Regie und unreifen Hauptdarstellern. Es handelt von der inneren Verfasstheit Pakistans im 60. Jahr seiner Gründung. In der 165 Millionen Einwohner zählenden Republik ist der Islam Gründungsmythos und Ordnungsrahmen zugleich. Die Armee dominiert die Gesellschaft und jeder – vom Bazaar bis zu intellektuellen Zirkeln – ist stolz darauf, die einzige muslimische Nation mit Nuklearwaffen zu sein. Wenn der Vorhang in diesem Stück endlich fällt, ganz gleich ob mit oder ohne Parlamentswahlen, wird es nur Verlierer geben – sowohl in Pakistan als auch auf der internationalen (Zuschauer-)Tribüne.
Die Erstürmung der Roten Moschee mitten in der Hauptstadt Islamabad verdeutlichte im Juli 2007 schlagartig, wie weit in dem Land die Talibanisierung vorgedrungen ist. Im Herbst übernahmen die Taliban weite Teile des in der Nordwestgrenzprovinz gelegenen Swat-Valleys. In der Region leben 1,5 Millionen Menschen, hunderte Hotels zeugen davon, dass hier eine der wenigen touristischen Oasen Pakistans war. Als General Musharraf am 3. November 2007 den Ausnahmezustand verkündete, begründete er ihn damit, dass die Armee nun besser gegen Al Quaida und sonstige Terroristen kämpfen könne. Danach erklärte er bei öffentlichen Auftritten, dass er persönlich habe handeln müssen, um das Nuklearwaffenpotential nicht in die Hände von Islamisten fallen zu lassen, dass er Pakistan vor dem politischen Selbstmord habe retten müssen und vor allem, dass sein Land vom Staatszerfall bedroht sei. Eine bemerkenswerte Selbsterkenntnis für einen Alleinherrscher, der 1999 seinen ersten Militärputsch damit erklärte, Pakistan davor zu bewahren, ein zweites Somalia zu werden.
Allen Pakistani war klar, dass der wahre Grund für den Ausnahmezustand der drohende Machtverlust von Pervez Musharraf war. Denn der Oberste Gerichtshofs versuchte, die gerade erfolgte Wahl von Musharraf zum Präsidenten für nichtig zu erklären. Seitdem überschlagen sich täglich die Ereignisse: Zum Machterhalt werden alte Feinde zu neuen Freunden. Hinter den Kulissen versucht die Schutzmacht Amerika verzweifelt, ihren Einfluss zu bewahren. Ihr Vize-Außenminister kann nur hilflos feststellen, dass Pakistan „entgleist“ sei. Musharraf lässt zu Tausenden diejenigen verhaften, die eigentlich natürliche Verbündete im Kampf gegen Islamisten und Taliban wären: Vertreter von Zivilgesellschaft, Medien und Anwaltschaft. Dabei sucht er verzweifelt nach Überlebensstrategien. Er streckt die Fühler aus nach Benanzir Bhutto, der vor einem Jahrzehnt abgesetzten und aus dem Exil wieder aufgetauchten Premierministern, und Nawaz Sharif. Er bietet ihnen eine neue Bühne und beide verbünden sich wiederum prompt gegen ihn.
Es ist bisweilen ein Schurkenstück, das die deutsche Öffentlichkeit und deutsche Entscheidungsträger zu Anfang ratlos bis konsterniert verfolgten. Angesichts von Titelgeschichten wie „Terrorbasis Pakistan“ oder „Das gefährlichste Land der Welt“ in führenden Wochenzeitungen war die Desorientierung in Deutschland groß. Vergleichbar ist die innere Lage in Pakistan: Die politisch denkende Elite betrachtet frustriert und ernüchtert die Schwäche von Parlament und dynastischer Parteipolitik. Die Pakistani räumen selbstkritisch ein, dass es innerhalb der Gesellschaft keinerlei demokratisches Selbsterneuerungspotential gibt, dass keine verantwortlich denkende neue politische Führungsklasse in Sicht ist und dass mehr als 30 Jahre Kriegsrecht eine fast irreversible Militarisierung der Gesellschaft zur Folge hatten.
In Pakistan stellt man daher zunehmend die Identitätsfrage und fordert einen radikalen Neubeginn - ohne allerdings zu wissen, wo man die Hebel dafür ansetzen könnte. Eine Art Neubeginn wünscht man sich auch von der europäischen Außenpolitik, die in den letzten Jahrzehnten um Pakistan einen Bogen geschlagen hat. Sie muss das Land umgehend in eine kohärente asiatische Gesamtstrategie einbinden – schließlich ist der Antiamerikanismus in Pakistan fast zu einer zweiten Staatsreligion geworden.
Auch die deutsche politische Wissenschaft, Forschung und Lehre sollten sich einige Fragen zu Pakistan völlig neu stellen und schnell die akademische Vernachlässigung der Südasienwissenschaften aufhalten. Nicht zuletzt wünscht man sich von der deutschen Entwicklungspolitik eine selbstkritische Bilanz nach über 50 Jahren bilateraler Hilfe – besonders weil Pakistan eines der größten Partnerländer des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ist. Wenn es Chancen für eine radikaldemokratische Umkehr und eine Abkehr von schleichender Islamisierung gibt, kann sie nur von Kräften kommen, die vehement Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Dritten Gewalt einfordern. Großes Potential bieten auch die politisch erwachende Studentenschaft an nicht-staatlichen Universitäten und die elitären Inseln der Zivilgesellschaft. Sie benötigen sowohl Aufforderung und Ermunterung als auch Anleitung, um endlich vereint ihrer Verantwortung zur politischen Mitgestaltung gerecht zu werden. Dieser Aspekt kam in der Entwicklungszusammenarbeit bisher zu kurz.
Das etwas in der Versenkung verschwundene Ankerlandkonzept des BMZ könnte eine erste Grundlage für eine realistische Bestandsaufnahme jenseits der Routine von Ländergesprächen sein. Wenn General Präsident Musharraf ungestraft behaupten darf, „zuerst komme Pakistan und dann erst die Demokratie“, dann ist die externe Demokratieförderung, die auch politische Stiftungen unterstützen, gründlich schief gelaufen für diese, in der neuen Weltordnung so wichtigen Schlüsselregion.
Gregor Enste ist Leiter des Auslandsbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore (Pakistan).