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Das Jahresgutachten „Einwanderungsgesellschaft 2010“ – politische Implikationen

Dr. Friedrich Heckmann ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg und Leiter des Europäischen Forums für Migrationsstudien (efms). Foto: privat.

9. Juli 2010
Von Friedrich Heckmann
Das im Frühsommer 2010 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellte Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) sieht sich in der Tradition der Arbeit bisheriger nationaler Beratungsgremien: der „Unabhängigen Kommission Zuwanderung“ (2000/01), auch als Süssmuth Kommission bekannt, und des „Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration“ (2003/04), der ebenfalls von Rita Süssmuth geleitet wurde. Waren letztere jedoch amtliche, von der Bundesregierung eingesetzte Gremien, handelt es sich bei dem SVR um eine zivilgesellschaftliche Initiative von Experten unter der Leitung von Professor Klaus J. Bade, die von acht führenden deutschen Stiftungen mit beträchtlichem Mitteleinsatz getragen wird. Kritische Politikbegleitung, eine der zentralen, selbst gestellten Aufgaben des Gutachtens, wird darum leichter als das in quasi regierungsamtlichen Publikationen möglich ist.

Inhaltliche Bezüge des Gutachtens bestehen weiterhin zum jährlichen  „Migrationsbericht“ der Bundesregierung und zu dem zweijährigen „Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“, wie er umständlich und in alter Terminologie heißt. Berichterstattung zu Integration ist ebenfalls Gegenstand des „Integrationsreports“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.

Neben kritischer Politikbegleitung stellt sich das Jahresgutachten die Aufgabe der Prozessbeobachtung mit Folgenabschätzung von Entscheidungen. Weiterhin sollen Empfehlungen entwickelt werden  und die Öffentlichkeit informiert werden. In seinem umfassenden Zugriff auf Migration und Integration hat das Jahresgutachten sowohl den Charakter breit angelegter gesellschaftlicher Berichterstattung als auch der Politikberatung durch Interpretation und Bewertung von Entwicklungen einschließlich der Formulierung von Politikempfehlungen.

Das Jahresgutachten besteht aus zwei Teilen: zum einem aus dem so genannten Integrationsbarometer, für dessen Erstellung eine eigene umfassende und für bestimmte Regionen repräsentative Erhebung mit Befragung von Personen mit und ohne Migrationshintergrund in Auftrag gegeben wurde, die subjektive Wahrnehmungen, Erwartungen und Einstellungen erfasst ; zum anderen aus einer umfassenden Analyse von rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen, demografischen und soziokulturellen Bedingungen von Migration und Integration, sowie einer (fast) vollständigen Erfassung von Strukturen und Entwicklungen in unterschiedlichen Integrationsfeldern (Billdung, Erwerbstätigkeit, soziale Sicherung, politische Partizipation, Wohnen und Wohnquartiere, Gesundheit, Medien, Kriminalität). In dieser Besprechung stellen wir politische Implikationen von einigen der wichtigsten Analysen und Empfehlungen in den Vordergrund. Wir beginnen damit, welches „framing“ das Gutachten zur Kennzeichnung der Situation in Deutschland entwickelt.

Zur Definition der Situation

Über Jahrzehnte gehörte Klaus Bade zu den hartnäckigsten Vertretern der These, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Man muss aufhorchen, wenn das Gutachten unter Leitung von Bade nun plötzlich von Deutschland als „Migrationsland“ mit tendenziell ausgeglichenem Wanderungssaldo spricht. Die terminologische Veränderung soll wohl darauf verweisen, dass Abwanderung, und speziell von (qualifizierten) Deutschen, ein bisher wissenschaftlich und politisch vernachlässigter Bereich sei. Die Datenbasis für das Vorliegen relevanter Abwanderung ist allerdings nach wie vor schwach und auch aus einem negativen Saldo von einigen Tausend Personen der letzten vier Jahre, auf den das Gutachten hinweist, nicht sicher belegbar, da die deutsche Wanderungsstatistik eben nur Umzüge über Grenzen erfasst. Die Tatsache, dass im internationalen Vergleich relativ wenige Hochqualifizierte nach Deutschland kommen und zugleich qualifizierte Deutsche abzuwandern scheinen, sollte allerdings eine demografisch schrumpfende Wissensgesellschaft motivieren, der Frage der Abwanderung Einheimischer mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Hierzu motiviert der Text durchaus.

Zur Definition der Situation durch das Gutachten gehört die These, dass sich in den Grenzen des Migrationslandes eine Einwanderungsgesellschaft, also wohl eine Gesellschaft der Einwanderer, entfalte. „Ihre Heterogenität wächst auch bei abnehmender Zuwanderung aus demografischen Gründen eigendynamisch weiter.“ (S. 15) In der Tat wächst der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund; die These einer quasi notwendig damit wachsenden Heterogenität der Gesamtgesellschaft, die das Gutachten aufstellt, übersieht jedoch, dass der über Generationen verlaufende Integrationsprozess auch starke Angleichungsprozesse zwischen Zuwanderern und Einheimischen produziert, in dessen Verlauf die ethnischen und auf Herkunft bezogenen Merkmale immer mehr an Bedeutung verlieren und zur symbolischen Ethnizität mutieren.

Integrationsoptimismus

Ein Leitmotiv des Gutachtens ist die These, dass Integration in Deutschland keineswegs gescheitert sei. „Sie ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Bereichen durchaus zufriedenstellend oder gar gut gelungen.“ (S. 15) Damit hebt sich der Sachverständigenrat wohl tuend von den vielen öffentlichen Scheiternsdiskursen ab, die den Fehler begehen, vor allem auf die Probleme der Neueinwanderer zu schauen und dann das Scheitern des gesamten Prozesses beklagen. Daten aus dem Integrationsbarometer zeigen Vertrauensbestände zwischen Zuwanderern und Einheimischen, die keineswegs ein Scheitern der Integration belegen. Historische Erfahrungen klassischer Einwanderungsländer mit nativistischen Bewegungen von Einheimischen gegen Zuwanderer in Zeiten gesellschaftlicher und Migration bezogener Krisen verweisen allerdings darauf, dass die Mobilisierung von ethnisch - sozialen Spannungspotenzialen Erreichtes stark gefährden können. Latente Strukturen ethnischer Vorurteile und von Rassismus können zu manifesten werden und diskriminierendes Verhalten evozieren.

Baustelle Bildung

Das Jahresgutachten verweist auf die große „Baustelle“ der Bildung von Migrantenkindern, die vor allem das optimistische Integrationsbild relativiert. Hier stellt der Text kompetent Sachverhalte dar, die inzwischen von einer breiten politischen und Fachöffentlichkeit diskutiert werden und welche angesichts der demografischen Entwicklung einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert besitzen. Aufgefallen ist mir nur Folgendes: die Sachverständigen meinen im Bildungsbereich ein merkwürdiges „Paradox“ entdeckt zu haben: „Normativ widersetzt sich kaum jemand Vorstellungen von und Forderungen nach Gleichberechtigung im Bildungssystem. Zuwanderer wie Mehrheitsbevölkerung halten auch die eigenen Erfahrungen im Umgang mit ethnischer Heterogenität in den Institutionen des Bildungssystems durchaus für ‚gut’.

Diese Position ändert sich jedoch bei der Einschätzung von ethnisch gemischten Schulen, deren Leistungsfähigkeit nur noch ein ‚befriedigend’ bescheinigt wird. Ähnlich steht es um die Bereitschaft, die eigenen Kinder in gemischte Schulen zu schicken. Eltern der Mehrheits- wie der Zuwandererbevölkerung sind nur in geringem Maß bereit, die eigenen Kinder an Schulen mit einem hohen Zuwandereranteil anzumelden.“ (S. 22) Das wird dann auch noch als ‚struktureller Konservativismus’ kritisiert. Gegenüber diesen Aussagen kann man zunächst fragen, ob es paradox und nicht doch ein häufig zu beobachtendes Phänomen menschlichen Verhaltens ist, dass geäußerte Meinungen und Einstellungen mit dem Verhalten nicht unbedingt konsistent sind. Aber wichtiger noch: darf man Eltern einen Vorwurf machen, wenn sie optimale Bildungsbedingungen für ihre Kinder suchen, oder sollten sie aus bildungspolitischem Idealismus darauf verzichten? „White flight“ oder ethnische Segregation des Bildungssystems, überall in Einwanderungsländern zu beobachten, kann man eher durch eine der Segregation entgegenwirkende Wohnungspolitik bekämpfen, die das Gutachten an anderer Stelle (Kap. 12) auch kompetent darstellt, als durch Appelle für Einstellungsänderungen. Höhere Investitionen in bisher segregierte Schulen zu tätigen, um sie dadurch attraktiver zu machen (Magnetschulen), ist ein weiteres Instrument gegen die schulische Segregation und wird auch von den Sachverständigen empfohlen.

Personalprobleme der Firma Deutschland

Mit dieser plakativen und zutreffenden Formulierung weisen die Sachverständigen auf ein gravierendes gesamtgesellschaftliches Problem hin, das sich in Zukunft auf Grund der demografischen Entwicklung noch verschärfen wird. Mit der in der Gegenwart offenbar steigenden Abwanderung von Deutschen und der sinkenden Zuwanderung von Ausländern habe Deutschland nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Migrationsproblem: deshalb müsse Deutschland neben einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive auch eine proaktive Zuwanderungspolitik betreiben. Das bedeute im Einzelnen, für qualifizierte Zuwanderer attraktiver zu werden, zugleich aber auch die Bedingungen für das Bleiben potenzieller qualifizierter Abwanderer zu verbessern.

Mit diesen Analysen und Forderungen kann der Sachverständigenrat dazu beitragen, die gegenüber Zuwanderung überwiegend noch immer restriktive Haltung von Politik und Verwaltung, die in den 1990er Jahren angesichts der großen Zahl von Zuwanderern und den Aufgaben der deutschen Wiedervereinigung notwendig war, zu verändern und für eine Neuorientierung der Migrationspolitik zu sorgen. Die einzelnen Betriebe der ‚Firma Deutschland’ haben das gesamtgesellschaftliche Problem schon erkannt und in der gegenwärtigen Krise ihr Personal weitgehend gehalten.

Migrationspolitik und Humanität

Migrationspolitik steuert Zuwanderung, dient dabei wirtschaftlichen und politischen Zielen, hat aber auch humanitäre Aufgaben. Gesteuerte Zuwanderung ist zugleich eine Voraussetzung gelingender Integration. Die für gesteuerte Zuwanderung notwendigen Grenzkontrollen haben sich mit den Schengen Abkommen an die Außengrenzen des europäischen Schengenraums verlagert. Auf Grund der Neuregelung des Asylrechts 1993 und seiner geografischen Lage wird Deutschland nur noch von vergleichsweise wenigen Flüchtlingen erreicht. Vor allem die südeuropäischen Länder Griechenland, Italien, Spanien, Zypern und Malta nehmen dagegen große Zahlen von Flüchtlingen auf, die ihre Aufnahmekapazitäten überschreiten und die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen mit sich bringen. Das Gutachten empfiehlt in dieser Situation ein europäisches burden sharing und greift einen Vorschlag der Europäischen Kommission auf, eine europäische  Resettlement Politik zu entwickeln. Resettlement bedeutet die Aufnahme von Flüchtlingen in einem Staat, die in einem anderen Staat Zuflucht gefunden haben, aber weder eine Rückkehrperspektive in ihr Heimatland noch eine Aufenthaltsperspektive in dem aufhältigen Zufluchtsstaat haben, zumeist der Nachbarstaat des Heimatlandes.

Das Gutachten als Ganzes

In dieser Besprechung konnten wir in den obigen Zeilen nur auf einzelne, wenngleich durchaus zentrale Aspekte von Migrations- und Integrationspolitik eingehen. Sie sind nur eine kleine Auswahl aus einer  Darstellung, die ein Gesamtbild anstrebt und das auch erreicht. Das Gutachten bietet umfassende Information und man kann es als Referenz in der täglichen Arbeit einsetzen. Es analysiert Sachverhalte, stellt politische und wissenschaftliche Diskurse zum Sacherhalt dar und gibt politische Empfehlungen. Zugleich werden die Sachverhalte in einer historischen Perspektive entwickelt. Der Text ist außerordentlich lese- und rezeptionsfreundlich. Das Integrationsbarometer, welches die wesentliche Grundlage des ‚Integrationsoptimismus’ im Gutachten bildet, kann und muss sich nach einer ersten Messung bei der Interpretation der ermittelten Werte für Einstellungen, Erwartungen und Bewertungen der Befragten auf den Vergleich von Einheimischen und Zuwanderern beschränken. Sein besonderer Wert wird aber zunehmen und noch deutlicher werden, wenn im nächsten Jahr neue Erhebungen zur Verfügung stehen, die einen ersten Zeitreihenvergleich ermöglichen. Auch aus dieser Sicht kann man hoffen, dass die begonnene Aktivität des Sachverständigenrats weitergeführt wird und das bedeutende Engagement der acht Stiftungen fortgesetzt wird.

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Dr. Friedrich Heckmann ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg und Leiter des Europäischen Forums für Migrationsstudien (efms). Seine Schwerpunkte sind u.a. Soziologie interethnischer Beziehungen und der Migration, Migrantenintegration.