Unbeeindruckt von Fukushima: Das brasilianische Atomprogramm

Kernkraftwerk Angra (Block 2 li, Block 1 re) in Angra dos Reis, Brasilien, Foto: Rodrigo_Soldom, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY 2.0

20. April 2011
Dawid Danilo Bartelt
Auf einem verlassenen Klinikgelände in der Stadt Goiânia fanden Altmaterialsammler einen Metallzylinder. Sie verkauften ihn an einen Schrotthändler, der den Zylinder aufbrach. Heraus fielen, geheimnisvoll schimmernd, Kristalle von hoch radioaktivem Cäsiumchlorid. Bei dem Bleizylinder handelte es sich um den inneren Teil einer radiotherapeutischen Apparatur, die nach der Aufgabe der Klinik schlicht zurückgelassen worden war. Das Cäsium 137 verbreitete sich unter den ahnungslosen Freunden und Familienangehörigen, verstrahlte schließlich ganze Straßenzüge Goiânias und setzte Tausende von Menschen der gefährlichen Strahlung aus. Vier Menschen starben binnen weniger Wochen, darunter eine Sechsjährige, die einige der Kristalle verschluckte und in einem strahlensicheren Bleisarg beerdigt werden musste. Viele weitere starben in den nächsten Jahren an den Folgen ihrer Verstrahlung. Knapp 470 Menschen sind heute als Opfer der gigantischen Nachlässigkeit anerkannt. Nach Recherchen der Vereinigung der Cäsium-137-Opfer in Goiânia sind etwa 1600 Menschen in Kontakt mit dem Cäsium gekommen.

Brasilien ist eine Atommacht

Das Land verfügt über das sechstgrößte Uraniumvorkommen der Welt – und wahrscheinlich ist sogar weit mehr, als bisher bekannt, vorhanden  –, das derzeit in einer Mine im Nordosten des Landes abgebaut wird. Eine weitere Mine ist in Vorbereitung, eine andere stillgelegt. Im Bundesstaat Rio de Janeiro arbeitet eine Urananreicherungsanlage. Dort operieren auch die zwei Atomreaktoren, die Brasilien bisher betreibt; ein dritter ist in Bau und soll 2016 den Betrieb aufnehmen. Alle drei stehen nebeneinander direkt an der Küste nahe der Stadt Angra dos Reis, 160 Kilometer südlich von Rio de Janeiro und knapp 400 Kilometer nördlich von Sao Paulo. Angra 1 ist ein Reaktor vom Typ Westinghouse mit 657 MW installierter Leistung, der nach 14 Jahren Bauzeit 1985 den Betrieb aufnahm. Angra 2 und Angra 3 sind Teil des ambitionierten Abkommens zwischen Brasilien – damals unter einer Militärdiktatur – und der BRD von 1975. Es sah vor, dass die Deutschen den Brasilianern die Technik für den vollständigen Kreislauf vom Uranabbau bis zur Brennstoffproduktion und zur Wiederaufbereitung liefern. Siemens KWU sollte insgesamt acht Reaktoren bauen.

Ehrgeizige Pläne

Bis zum Jahr 2000 sollte Brasilien die Hälfte seines Energiebedarfs aus der Kernkraft decken. Dies hatte eine Vorgeschichte und stets eine militärische Komponente. Schon 1953 versuchte Admiral Álvaro Alberto da Mota e Silva (nachdem die AKW-Anlage in Angra benannt ist), in Deutschland drei Zentrifugen zur Urananreicherung zu erstehen. Die USA bekamen Wind von dem Vorhaben und unterbanden es.

Das voluminöse deutsch-brasilianische Programm von 1975 war den Regierungen insbesondere nach dem Abgang der Militärs 1985 zu teuer und wurde erheblich gedrosselt. Daher ging Angra 2 erst 25 Jahre nach Vertragsunterzeichnung ans Netz. Derzeit produzieren die beiden Reaktoren etwa zwei Prozent des gesamten in Brasilien erzeugten Stroms. Die Arbeiten am baugleichen Reaktor Angra 3 begannen 1984, wurden aber 1986 schon wieder eingestellt und die bereits erworbenen Teile eingelagert. 2007 entschied die Regierung Lula, das Atomprogramm wieder aufzunehmen. Seit 2010 wird daher in Angra wieder gebaut. Abgesichert mit einer Hermesbürgschaft in Höhe von 1,3 Mrd. Euro der Bundesregierung, liefert das deutsch-französische Gemeinschaftsunternehmen Siemens-Areva (aus dem Siemens allerdings im April 2011 ausgestiegen ist) die zivile Technik.

Bis 2016 wird Brasilien also einen Reaktor der so genannten zweiten Generation vom Typ Biblis/Grafenrheinfeld neu in Betrieb nehmen, der heute in Deutschland keine Genehmigung mehr erhielte und in den nächsten Jahren sukzessive vom Netz gehen wird. Bis 2030 sind nach Regierungsangaben weitere vier Reaktoren an noch nicht festgelegten Standorten geplant. Der Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung soll auf fünf bis sechs Prozent steigen. Der alte und neue Energieminister Edison Lobão hatte zu Jahresbeginn sogar von 50 Reaktoren bis zur Jahrhundertmitte geschwärmt.

Brasilien sei besser geschützt

Derselbe Minister war es auch, der kurz nach dem Zusammenbruch der Reaktoren in Fukushima verbreitete, Brasilien habe keinerlei Anlass, sein Nuklearprogramm zu überdenken: „Die Schwierigkeiten, die die Japaner haben, würden wir nicht haben, wir sind besser geschützt.“ Ein wenig später kündigte er an, Brasilien werde in seiner Nuklearpolitik „besondere Sorgfalt“ walten lassen. Die staatliche Betreibergesellschaft Eletronuclear will nun einige Landungsstege bauen lassen, um die betroffene Bevölkerung auch über das Meer evakuieren zu können. Bislang steht dafür lediglich eine größtenteils nur zweispurige Straße zur Verfügung, auf der im Wochenrhythmus Erdrutsche für Blockaden sorgen. 1985 zerstörte ein großer Erdrutsch das Laboratorium für Radioökologie auf dem Gelände von Angra 1 und hätte fast den Kühlwasserabfluss des Reaktors blockiert.

Indem Eletronuclear den Evakuierungsradius auf lediglich fünf Kilometer festlegte, hält sie die Zahl der Betroffenen künstlich klein und die Stadt Angra dos Reis außen vor, die etwa 16 Kilometer entfernt liegt. Der Eletronuclear zufolge werde die Bevölkerung der Region Angra über das Verhalten im Störfall informiert und es würden Notfallübungen durchgeführt. Anwohner haben diese Angaben mehrfach bestritten. Das mangelhafte Sicherheitskonzept für Angra war auch Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Landtag von Rio de Janeiro Ende März sowie ähnlicher Anhörungen im Abgeordnetenhaus und im Senat in Brasília. Der Präsident der Eletronuclear, Othon Luiz Pinheiro da Silva, verglich eine mögliche Evakuierung mit der Schlacht von Dünkirchen während des Zweiten Weltkrieges, bei der 300.000 von einer deutschen Panzerdivision eingekesselte britische und französische Soldaten über den Atlantik evakuiert wurden. In der Region um Angra dos Reis wohnen etwa 200.000 Menschen.

Fehlen politischer Debatten

Insgesamt wird man feststellen müssen: Eine politische Debatte um das Atomprogramm der Regierung findet in Brasilien nicht statt. Die Medien lassen Kritiker durchaus zu Wort kommen und haben einige Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, etwa, dass Angra 2 seit 10 Jahren ohne gültige Genehmigung operiert. Und es hat zwar keine Parlamentsdebatte gegeben, wohl aber parlamentarische Initiative: Beide Häuser des brasilianischen Kongresses haben öffentliche Anhörungen durchgeführt, eine Kommission von 13 Senatoren hat die Anlage in Angra besucht. Einer Umfrage vom April zufolge sollen 57 Prozent der Brasilianer einen Atomunfall im Land befürchten.

Bei all diesem steht das Sicherheitskonzept von Angra im Mittelpunkt und in der Kritik, nicht das Atomprogramm als solches. Weder die Arbeiterpartei (PT) der Präsidentin Dilma Rousseff noch die Parteien ihrer Regierungskoalition lassen öffentliche Kritik daran verlauten. Im Gegenteil. Unstimmigkeiten, wie zuletzt zwischen dem neuen Energieminister Aloisio Mercadante und den von Koalitionsparteien kontrollierten Durchführungsstellen im Nuklearbereich, ergeben sich eher daraus, dass Brasilien zuletzt Uranium importieren musste, weil die derzeit einzige Uranmine in Caetité im Bundesstaat Bahia 2010 aus technischen Gründen monatelang nicht fördern konnte.

Weit entfernt davon, sich mit den von Greenpeace, aber auch lokalen und regionalen staatlichen Stellen erhobenen Vorwürfen um Grundwasserverseuchung in Caetité sowie einer Kette von Zwischenfällen in der Mine zu befassen, erteilte Mercadante der staatlichen Betreiberfirma Instituto Nuclear Brasileiro (INB) die ständige Fördergenehmigung. Dabei hat die für die INB verantwortliche Nationale Atomenergiekommission (CNEN) kürzlich in einer Presseerklärung erstmals zugegeben, dass innerhalb der Mine in mehreren Fällen radioaktive Flüssigkeiten in die Umwelt ausgetreten seien.

Die Opposition sieht im Atomthema offenbar keinerlei politisches Potential. Von der wichtigsten Oppositionspartei PSDB sind nur einzelne Parlamentarier mit kritischen Anfragen an das Atomprogramm an die Öffentlichkeit gegangen. Sie kommen vornehmlich aus dem Staat Sao Paulo, wo PSDB und Partido Verde (PV), also die Grüne Partei, traditionell gute Beziehungen pflegen. Die PV vertritt als einzige Partei zwar eine atomkritische Position, dies aber auch eher leise. Ihre Kapazitäten sind derzeit durch heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen gebunden. Die ehemalige Spitzenkandidatin der Partei im Präsidentschaftswahlkampf 2010, Marina Silva, spricht sich persönlich gegen Kernenergie aus, hat allerdings derzeit weder Amt noch Mandat.

Im Wahlkampf hatte die PV lediglich ein Moratorium über den weiteren Ausbau der Kernenergie gefordert, nicht jedoch, die beiden bestehenden Reaktoren abzuschalten. Marina Silva  forderte kürzlich eine Volksabstimmung über die Fortsetzung des Nuklearprogramms. Doch man wird feststellen müssen: Für diese Frage interessiert sich das Volk nicht sonderlich. An der offiziellen Logik, wonach die Kernenergie nötig sei, um Schwankungen in der auf Wasserkraft basierenden Stromversorgung  auszugleichen und ihren Beitrag dazu leiste, den stetig wachsenden Bedarf Brasiliens an Energie zu decken, zweifelt die Mehrheit offenbar nicht. Die Kritik am Atomprogramm der Regierung hat derzeit keine Mobilisierungskraft, eine Antiatombewegung ist in Brasilien nicht in Sicht.

Dass mit Lula ausgerechnet eine volksnahe Regierung umweltschädigende Großprojekte, wie die großmaßstäbige Umleitung des Flusses Rio São Francisco im Nordosten, Megakraftwerke wie Belo Monte am Xingu-Fluss oder eben das Atomprogramm aus der Schublade holte, hat zusätzlich demotivierend gewirkt. Greenpeace Brasilien stellte seine Antinuklearkampagne Ende 2010 ein. Profilierte Kritik findet sich bei einzelnen Wissenschaftlern, die zum Teil eine Vergangenheit in der Nuklearindustrie hinter sich haben, Widerstand gibt es nur lokal und schwach in Angra und in Caetité. Die dortigen Gruppen haben sich nach Fukushima zu einigen Aktionen aufgerappelt, doch gelingt es ihnen nicht, ein größeres Umfeld vor Ort zu mobilisieren.

So bleibt es derzeit vor allem der Vereinigung der Aufsichtsbeamten für die Nukleare Sicherheit der CNEN, also einer internen Behörde überlassen, eine Überfälligkeit voranzutreiben: die Trennung von Produktion und Aufsicht in der Kernenergie. In Brasilien liegt die Aufsichtspflicht nämlich bei der CNEN, die 99,7% der Aktien der INB hält und auch gegenüber Angra alles andere als unabhängig ist. Ihre Tätigkeit sei eine Farce, sagt nun der Präsident der Vereinigung, Rogério Gomes, ihre Berichte landeten immer direkt in der Schublade der CNEN.

Großmachtsbestrebungen Brasiliens

Dass seitens der Politik so wenig Kritik am Atomprogramm laut wird, mag auch mit dem Ausspruch zu tun haben, den die heutige Präsidentin Rousseff vor einigen Jahren als zuständige Energieministerin während der ersten Amtszeit von Präsident Lula da Silva tat: Wenn Brasilien sein Nuklearprogramm wieder aufnehme, dann nicht aus energiepolitischen Gründen. „Fatalerweise ähneln die Motive von Präsident Lula, das Nuklearprogramm wieder aufzunehmen, denen der Militärs von damals“, sagt Prof. Cecília Mello von der Bundesuniversität Rio de Janeiro, die gerade einen Bericht über mögliche Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Uranmine Caetité verfasst hat: Brasilien soll Großmacht werden. Und in diesem Club fungiert die Atomtechnologie als Eintrittskarte, einschließlich der militärischen Option.

„In Brasilien lagen energiepolitische und militärische Zwecke der Kernkraftnutzung immer schon sehr eng bei einander“, sagt der Nuklearphysiker Heitor Scalambrini Costa. Brasiliens Verfassung verbietet einen nichtfriedlichen Gebrauch der Atomkraft. Der Staat ist auch dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, hat aber das Zusatzprotokoll nicht unterzeichnet, das der Internationalen Atomenergiebehörde unangemeldete und damit effektive Inspektionen in den Beitrittsländern ermöglicht. Dass zivile und militärische Nutzung der Nukleartechnologie nicht zu trennen sei, ist eine verbreitete These und in Brasilien zirkuliert die fundierte Spekulation, dass es hier nicht anders sei.

Seit 1979 habe es ein geheimes militärisches Atomprogramm gegeben, unter anderem in Reaktion auf die Misserfolge der Kooperation mit der deutschen KWU. Zu den Führungskräften dieser Initiative gehörte auch der heutige Chef der Eletronuclear Othon Pinheiro. Berichten zufolge gelang es, Uran auf 20 Prozent anzureichern und Testwaffen zu bauen. Nach dem Ende der Militärdiktatur ließ sich nicht mehr alles geheim halten. 1990 ließ Präsident Collor de Mello einen 320 Meter tiefen Schacht der Luftwaffe zuschütten, den die Luftwaffe nach seinen Angaben für Atomtests genutzt hatte. Treibende Kraft beim Militär ist die Marine. Schon lange verfolgt Brasilien ganz offiziell die Absicht, ein atomgetriebenes U-Boot zu bauen. 2008 schlossen Brasilien und Frankreich ein Abkommen über den Bau von fünf U-Booten mit französischer Technologie in Brasilien, darunter einem Atom-U-Boot. Ob es dabei auch zu dem erwünschten Nukleartechnologietransfer gekommen ist oder kommen wird, muss offen bleiben. Baubeginn des atomgetriebenen U-Boots soll 2015 sein, die Inbetriebnahme ist für 2021 angepeilt.

Dawid Danilo Bartelt ist Leiter des Heinrich-Böll-Stiftung Landesbüros in Rio de Janeiro, Brasilien.

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