Fukushima und seine Auswirkungen auf den Atomenergiediskurs in Indien

25. März 2011
Michael Köberlein
Von Michael Köberlein


Indien und seine politischen Entscheidungsträger folgen seit der Gründung der Republik einer enormen Technologiegläubigkeit und vertrauen in vielen Sektoren auf technikbasierte Lösungen. Premierminister Manmohan Singh, ähnlich wie Kanzlerin Merkel, wird oft als Technokrat verschrien und folgt politisch seiner Vision der Entwicklung Indiens, die vom Ausbau und der Nutzung moderner Technologien wie der Atomkraft getragen werden soll. Moderne Technologien, die dazu beitragen sollen, die Grundbedürfnisse der Menschen zu erfüllen und den allgemeinen Lebensstandard zu erhöhen. Die politische Bedeutung, die schon fast zu einer Obsession der indischen Regierung mutierte und Atomkraft als Heilsbringer für die zukünftige Energiegewinnung und den Fortschritt des Landes anpries, wurde bei den Verhandlungen zum Nuklearabkommen zwischen Indien und den USA im Jahr 2007 augenfällig. Der nationale und internationale Prestigegewinn durch diesen Deal führte zu dem (Irr-)glauben, die eigene wirtschaftliche Entwicklung mit der Macht über die Atomkraft zu korrelieren und auf ein ambitioniertes Atomprogramm, das viele internationale Fachleute als völlig unrealisierbar deklarieren, zur Steigerung der Stromproduktion zu bauen.

Bislang sind 20 Atomkraftwerke in Indien mit einer Kapazität von etwa 4.800 MW in Betrieb und fünf weitere im Bau. Dies macht etwa drei Prozent der nationalen Stromerzeugung aus. Nach Abschluss des Nuklearabkommens mit den USA entwickelte die indische Regierung Pläne, mit Unterstützung ausländischer Firmen den Ausbau der Kapazitäten auf 63.000 MW bis zum Jahr 2032 auszuweiten und den Anteil auf knapp zehn Prozent des Gesamtbedarfs zu steigern. Zudem hat Indien laut S. Banerjee, Chairman der Atomic Energy Commission (AEC), sogar Bestrebungen in Zukunft Nukleartechnologie zu exportieren und führend in der Entwicklung dieser Technologie sowie bei der Ausbildung von Fachleuten zu werden. Dass die Atomkraft keine neue, entwicklungsfähige Technologie ist, sondern eine ausgereifte, ausgediente Technologie, deren Standards und Effizienz technologisch nur schwer und unter hohem finanziellen Aufwand verbessert werden können, und die neben ihrer ökonomischen Unkalkulierbarkeit auch gewisse Risiken und Schattenseiten wie die Problemen der Entsorgung hoch radioaktiver Abfälle, die Gefährdung des Betriebspersonals und Menschen im Umfeld der Reaktoren durch radioaktive Strahlen, unvorhersehbare Naturereignisse oder menschliches Versagen, aufweist, findet in der Vision Manmohan Singhs und den Strategien des Department of Atomic Energy (DAE) keinen Platz. Risiken und Gefährdungspotentiale der Atomkraft spielen in der Bewertung der Atomkraft durch die indische Atombehörde kaum eine Rolle, da das Land bislang keinen Super-Gau bzw. schwerwiegenden Unfall erfahren musste. Zudem ist die Atomtechnologie ausschließlich die Domäne des Staates und ein kritischer Diskurs fand bis heute nicht statt. Der Diskurs wird demgemäß von Expertokraten des DAE bestimmt, die fast dogmatisch die Sicherheit und Unfehlbarkeit der indischen Atomkraftwerke predigen und den Stimmen der Zivilgesellschaft, die potentielle Gefahren beschreiben und auf die bislang bekannten Störfälle wie letztes Jahr im Kernkraftwerk Kaiga hinweisen, wenig Gehör schenken. Auch wenn diese in den letzten Jahren immer lauter und vehementer wurden.

Fukushima und das Unglück im Hochtechnologieland Japan zeigen aber vor allem, dass es schwer, aber nicht unmöglich ist, diese Vision des Fortschritts durch Technologie und die tiefe Technologiegläubigkeit der Entscheidungsträger zu erschüttern. Die ersten Reaktionen der indischen Atombehörden waren, den Fall zu bagatellisieren und auf die außergewöhnlichen Umstände in Japan, die in Indien ausschließbar sind, hinzuweisen. Seit Bekanntwerden der Ausmaße der Katastrophe stecken die Behörden, wie auch in der Vergangenheit, den Kopf in den Sand, bekunden gebetsmühlenartig die Sicherheit der indischen Kraftwerke und warten ab, bis Gras über die Ereignisse in Japan gewachsen ist, um dann mit „Business as usual“ weiterzumachen.

Die Medien hingegen nutzten die Ereignisse in Fukushima, um das Thema politisch, aber auch eigennützig auszuschlachten. Zum ersten Mal kamen zahlreiche Atomkraftkritiker, die in der Vergangenheit in der breiten Öffentlichkeit eher ignoriert wurden, in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendern zu Wort, um auf die Defizite und Gefahren dieser Technologie hinzuweisen und das indische Atomprogramm zu kritisieren. Diese Medienberichterstattung macht neben einem innigen Mitgefühl für das japanische Volk auch die Sorgen und Ängste im Volk offenkundig. Ängste und Skepsis hinsichtlich dieser komplexen Technologie, die in der politischen Debatte jedoch kaum eine Rolle spielen.

Fukushima hat immerhin ein neues Bewusstsein geschaffen, das dazu führt, dass es erstmals größere Demonstrationen in der Hauptstadt Delhi gegen die Atomenergie und eine breite öffentliche Debatte zu dem Thema gibt. Die jüngsten Diskussionen und lokalen Konflikte um die Beauftragung des französischen Unternehmens Areva für das vermeintlich größte Atomkraftwerk der Welt mit sechs Reaktoren mit einer Kapazität von fast 10.000 MW in Jaitapur, Maharashtra, zeigen ebenfalls, dass die Bevölkerung, wenn sie betroffen ist oder in Nachbarschaft eines Atomreaktors lebt, den Kurs der Regierung nicht ohne Weiteres mitträgt. Das Kraftwerk soll nahe dem Meer an der Konkanküste in einem ökologisch sensiblen Gebiet gebaut werden, das auch einer Gefährdung durch Erdstöße und mittelschweren Beben ausgesetzt ist. Auch auf potentielle Gefahren durch einen Tsunami wurde nach den Ereignissen in Japan hingewiesen. Auch die Angst vor Auswirkungen auf die Fischerei, die die eigentliche Lebensgrundlage der Menschen in der Region darstellt, wurde betont. Die im Dezember letzten Jahres getroffene Entscheidung zur Umsetzung dieses Megaprojektes wurde folglich auch von einigen Umweltorganisationen und Aktivisten aufs heftigste angeprangert und führte zu massiven lokalen Konflikten, die sich nach den Ereignissen in Japan nochmals intensiviert haben.

Trotz der tragischen Bilder und Berichte aus Fukushima wurden die Pläne bzw. Strategien des indischen Atom-Etablissements hinsichtlich politischer, ökonomischer und ökologischer Risiken nicht hinterfragt, sondern lediglich von Regierungsseite nach technischen Rechtfertigungen gesucht und die Bedürfnisse der Menschen nach mehr Energie als Pro-Argument für die Atomkraft in den Vordergrund gestellt. Insider wie Sudhinder Thakur, Direktor des Betreiberunternehmens Nuclear Power Corporation of India (NPCIL) äußern bereits jetzt öffentliche Zweifel, dass der Unfall in Fukushima Auswirkungen auf das indische Atomprogramm haben wird, da die Atomkraftwerke in Indien außer Narora in Uttar Pradesh einerseits nicht in erbebengefährdeten Regionen lägen und anderseits Neubauten sowieso mit Reaktoren der neueren Generation mit modernen, sicheren Technologien ausgestattet würden.

Prime Minister Manmohan Singh kündigte aufgrund des öffentlichen Drucks, da die beiden ältesten Atomreaktoren Indiens in Tarapur nahe Mumbai derselbe Bautyp wie in Fukushima sind und auch dieselbe Technologie nutzen, im Lok Sabha (Unterhaus des indischen Parlamentes) an, dass die indischen Atombehörden angehalten werden, die Sicherheitsstandards hinsichtlich Beben und Tsunamis neu zu überprüfen. Atomgegner kritisieren allerdings, dass es nicht vorsorgend bzw. glaubhaft ist, Dienststellen und Gremien, die ein sehr starkes Eigeninteresse an Atomkraft und ein Anrecht auf die alleinige Hoheit über die Atomtechnologie inne haben, für diese Überprüfung einzusetzen. Die Bevölkerung jedenfalls hat kaum Vertrauen in das Atomic Energy Regulatory Board (AERB), das für die Aufsicht und Sicherheitsstandards verantwortlich ist, da es mehr für seine Parteilichkeit und Geheimhaltungstaktiken verschrien ist und unter der Schirmherrschaft des allmächtigen Department of Atomic Energy operiert. Dies hatte immerhin zur Folge, dass seit dem Unglück in Japan regierungsnahe Berater und selbst der Umweltminister Jairam Ramesh immer mehr eine unabhängige Regulierungsbehörde fordern, die dem Parlament rechenschaftspflichtig ist. Betriebsprüfungen, wie im letzten Jahr nach dem Störfall im Kraftwerk Kaiga, bringen immer wieder Lücken und Sicherheitsdefizite hervor. Diese werden jedoch in der Regel nicht öffentlich gemacht und Insider behaupten, es werden auch keine Lehren bzw. Konsequenzen daraus gezogen.

Der Widerstand gegen die Atomkraft in Indien ist bisweilen ausschließlich lokal, landesweit aber wenig kohärent organisiert und nimmt im politischen Alltag Indiens keinen bedeutenden Platz ein. Die CPI (M) lehnt als einzige Partei das Atomprogramm der indischen Regierung ab, was allerdings weniger mit den technischen, finanziellen oder ökologischen Risiken der Atomkraft zu tun hat, sondern vor allem ideologisch und militärisch begründet ist. Im öffentlichen Diskurs nehmen sich nur wenige zivilgesellschaftliche Organisationen des Themas an, es gibt auch nur ganz wenige politisch relevante Fachleute und Organisationen, die sich gegen Atomenergie aussprechen. Von einer Anti-Atomkraft-Bewegung in Indien kann sicherlich in keinster Weise gesprochen werden. Deshalb werden auch die Ereignisse in Fukushima, die neue öffentliche Debatte sowie Reaktionen und Maßnahmen anderer Länder wenig an der Umsetzung der Vision von Fortschritt und Entwicklung durch Atomkraft in Indien ändern. Indien wird neben China das Land sein, in dem zukünftig die Expansion des Nuklearsektors stattfindet. Die indische Regierung hat schon Verträge über mehrere Milliarden Dollar abgeschlossen und einen Weg eingeschlagen, den sie auch nach der Katastrophe in Japan nicht verlassen wird.

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