Die Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und Romanautorin Silvia Bovenschen wurde 1946 in Oberbayern geboren; in Frankfurt am Main studierte sie Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie. 1977 promovierte sie mit ihrer Studie „Die imaginierte Weiblichkeit“, einem bis heute wegweisenden Werk über Frauen in der europäischen Literaturgeschichte, über „weibliche“ Empfindsamkeit und Gelehrsamkeit (...) und die romantisch-idealisierte Frau. 1978 gab sie gemeinsam mit u.a. Helmut Brackert ein Buch über Hexenwahn und Hexenverfolgung heraus. Sie schrieb zahlreiche Essays u.a. über Tiere, Mode, Freundschaft, Pornographie. 2000 erschien ihr Buch über die „Spielformen der Idiosynkrasie“ Insgesamt lehrte sie zwanzig Jahre am Fachbereich Neuere Deutsche Literatur der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt. Seit 2002 lebt Bovenschen als freie Publizistin in Berlin. 2006 erschienen ihre „Notizen“ übers „Älter werden“, 2007 Erzählungen unter dem Titel „Verschwunden“.
Der Roman „Wer weiß was?“ erschien 2009 und „Wie geht es Georg Laub?“ 2011. Bovenschen hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (2000) und den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (2009). 2011 wurde Bovenschen 2011 zum Mitglied der Akademie der Künste (Berlin) gewählt.
Georg lebt ziemlich zurückgezogen in dieser Bauruine und durchlebt dort eine Art Purgatorium. Woran leidet eigentlich dieser Schriftsteller?
Bovenschen: Nun, er hat erlebt, was eigentlich jedem Autor mal passieren kann: Sein Ruhm, oder eher: sein Rühmlein hat sich verflüchtigt, es kommen nicht mehr genug Einnahmen herein. Er hat dieses Haus geerbt, das, vorsichtig gesagt, in keinem guten Zustand ist. Momentan hat er von dort auch wenig Verbindung nach außen, den Internetanschluss hat er abgeschafft. Zuvor hatte er noch versucht, eine Anti-Internetgemeinde zu organisieren, aber auch das war gescheitert – er scheitert also sogar im Scheitern, und er findet keinen Ort hienieden mehr. Er gibt noch einige Kneipenbekanntschaften, und eine neue Liebe bahnt sich an, oder er bildet es sich zumindest ein… Aber ob er das mit dieser Frau nun hinkriegt?
Man hat aber schon den Eindruck, dass Laub sein Scheitern auch zelebriert, oder?
Bovenschen: Natürlich zelebriert er dieses Scheitern, und diese ganze Verkargung. Aber das ist ambivalent, das ist nicht nur eine neue Masche, es ist schon sehr ernst. Er glaubt sich irgendwann selbst nicht mehr recht, er kommt ins Taumeln, er hat sogar richtige Schwindelanfälle. Auf der anderen Seite gewinnt er, auf eine undeutliche Weise, doch auch Land. Nur wo das wieder hinführt… Wirklich, wenn ich das alles so genau wüsste, dann würde ich keine Romane schreiben, dann wäre ich bei der Theorie geblieben.
Auch bei diesen dubiosen Leuten, die ihn da so immer wieder heimsuchen, wissen wir ja nicht, ob das stimmt. Dass er geheimnisvolle Notizen in seinem Briefkasten findet, das stimmt wohl. Aber wenn er niederschreibt, dass er den Anweisungen auf diesen Notizen folgt und da hingeht wohin man ihn befiehlt– schwer zu sagen, ob er sich das ausgedacht hat oder wirklich erlebt hat. Ich weiß es auch nicht!
Jetzt bringen Sie uns in eine Zwickmühle. Es ist ja nichts nerviger als diese Leute, die ständig darüber diskutieren, ob eine Romanfigur verrückt oder depressiv ist. Also fragen wir das jetzt nicht. Aber der Gedanke, ob wir es hier mit psychopathologischem Geschehen zu tun haben, drängt sich schon auf…
Bovenschen: Gut, dass Sie das nicht fragen! In den zwanzig Jahren, die ich an der Uni gelehrt habe, hab ich einen Don-Quixote-ähnlichen – ach, was sag ich, Don Quixote war erfolgreich gegen mich! – hab ich einen unermüdlichen Kampf gegen Biographismus und Psychologismus in der Literatur geführt. Es interessiert mich nicht, ob Kleist schwul war oder nicht, es interessiert mich nicht, ob Goethe impotent war, es interessiert mich nicht, ob jemand ein Furunkel hatte. Ich war immer froh, wenn ich mich mit der Literatur des Mittelhochdeutschen beschäftigen durfte – man weiß einfach nicht, wer Wolfram von Eschenbach genau war, und infolgedessen weiß man auch nicht, was für ein Verhältnis er zu seiner Mutter hatte. Das war so erholsam!
Das ist ulkig, dass Sie jetzt Don Quixote erwähnt haben, denn an der Uni Frankfurt waren Sie auch dafür berühmt, die einzige Person weit und breit zu sein, die zugegeben hat, dass sie Don Quixote nie gelesen hat. Einführung in die Literaturwissenschaft, 200 Leute im Hörsaal, und Sie sagen: Ich gestehe Ihnen jetzt etwas: „Ich habe nie Don Quixote gelesen.“
Bovenschen: Wobei der Witz ist, den hatte ich sehr wohl gelesen, mir fiel bloß kein anderes Beispiel ein. Die Leute in diesen Einführungen sind ja immer so eingeschüchtert, ich wollte nur, dass die sich etwas entspannen.
Also eine pädagogische Lüge!
Bovenschen: Ja, ich gebe zu, das war nur pädagogisch. Aber ich hätte viele andere wichtige Bücher nennen können, die ich nicht gelesen hatte.
Frage: Kommen wir noch einmal auf Georg Laub zurück: Ein bisschen ist dieser Roman doch auch Krimi, oder? Er geschehen sonderbare Dinge, bei denen niemand weiß, auf wen sie zurückgehen, ein Kommissar kommt vorbei, der alles aufklären will, und auf dem Deckblatt des Manuskripts steht die Anweisung „Folge der Fährte!“
Bovenschen: „Folge der Fährte!“ – das lesen Sie als Hinweis auf einen Krimi? Für mich ist es ein Zitat aus dem Mittelalter, Wolfram von Eschenbach. Aber wenn Sie damit einen Krimi assoziieren, bitte, das ist alles legitim. Deswegen hat Umberto Ecco auch ein Buch darüber geschrieben, „Das offene Kunstwerk“. Man kann zum Beispiel Faust I aufführen, wo mittendrin ein Atompilz hochgeht. Das hat der Gründgens damals gemacht, das funktioniert, so etwas verträgt das Stück. Jedenfalls hat „Georg Laub“ für mich nicht viel von einem Krimi. Geheimnisvolles passiert in jedem Roman. Uneindeutigkeiten, oder Zweideutigkeiten, oder Fünfdeutigkeiten, oder Unheimlichkeiten – die gibt’s in jedem Buch. Wenn es danach ginge, wäre alles Krimi.
Ob nun Krimi oder nicht, viel Humor hat das Buch auf jeden Fall auch. Wir haben bei der Lektüre viel gelacht. Amüsieren Sie sich auch beim Schreiben?
Bovenschen: Ja, ich habe sehr viel Spaß beim Schreiben, oft amüsiere ich mich dabei richtig! Andererseits: Wenn man einen Text schreibt, egal ob das ein wissenschaftlicher oder ein literarischer Text ist, quält man sich natürlich auch fortwährend im Bemühen um die sprachliche Form, um das richtige, das beste Wort. Ich finde, auch wissenschaftliche Texte müssen nicht unschön sein. Aber literarische Texte erfordern schon eine andere Art von Disziplin. Zunächst hat man ja eine unglaubliche Freiheit, man entdeckt, wenn ich meine Hauptfigur nicht mehr mag, lass ich sie vor einen Bus laufen, oder sie springt von der Klippe. Andererseits muss man sich bei jedem Wort unglaublich disziplinieren, auch weil immer unbewusste Steuerungsmechanismen im Spiel sind. Bei meinem letzten Buch zum Beispiel, „Wer weiß was?“, (...) da wurde eine Figur sympathischer, als sie geplant war. Und da war dann auch nichts mehr zu machen. Und das ist auch das Tolle, dass man selber überrascht wird.
Wussten Sie am Anfang schon, was und wer Georg Laub alles begegnet?
Bovenschen: Nein, anfangs hatte ich nur dieses Bild: der Mann in diesem verrotteten Häuschen vor diesem Loch in der Wand. Von da aus hab ich ihn langsam entstehen lassen. Was ich nicht kann, ist schreiben nach der Art: Johann Soundso geht aus dem Haus, und an der Ecke trifft er Fräulein Soundso, und dann sagen die beiden… Also linear kann ich nicht, ich mag es zum Beispiel (...), wenn da noch jemand ist, der dem Erzähler auf die Finger schaut, der von außen drauf schaut, da hat dann etwa ein Nachbar von Georg Laub ein Fernglas. Bei dem Buch vorher waren das nicht die Nachbarn, sondern die Außerirdischen, die die Figuren beobachten.
Dieses vorige Buch war eine Art Gesellenprüfung, die ich mir selbst auferlegt hatte, da wollte ich ausprobieren, ob es möglich ist, vier Gattungen in ein Buch zu stopfen: Krimi, Campusroman, Gesellschaftsroman, Science-Fiction. Und als ich das so halbwegs hingekriegt hatte, war ich zufrieden. Und hier für „Georg Laub“ habe ich mir auch eine Aufgabe gestellt, nämlich einen Mann als Hauptfigur zu nehmen. In der Literaturgeschichte sind ja unendlich viele wunderschöne Frauengestalten von Männern geschaffen worden, aber nur wenige Autorinnen haben männliche Figuren in den Vordergrund gestellt. Hier sollte es ein Mann sein, und jünger als ich sollte er auch sein.
Und wie entwickeln Sie das Weitere – planen Sie alles genau durch, oder probieren Sie es schreibend aus?
Bovenschen: Ich lass es auch laufen. Ich schreibe dann einfach mal los, ich habe ein furchtbar schlechtes Gedächtnis, daher schreibe ich lieber erst mal alles auf, was mir durch den Kopf schießt, aber danach überarbeite ich es noch etwa 15 bis 20 Mal. Allerdings habe ich dadurch am Ende auch viele Teile, die leider gar nicht hineinpassen, und dann muss ich schmerzhaft Sachen in den Papierkorbe werfen. Das ist qualvoll, bis es so halbwegs steht; aber wenn ich erst mal das Gefühl habe, das geht so, ab da macht es richtig Spaß. Dieses Polieren, das ist für mich ganz ähnlich wie bei Männern, die sonntags ihr Auto waschen. Da geh ich noch mal und noch mal über die Sätze drüber, das ist ein ganz ähnlicher Lustgewinn.
In einer Szene in „Georg Laub“ sitzen mehrere Freunde in einer Kneipe zusammen, und einer sagt: Wenn die Leute wüssten, dass die Welt untergeht, würden die einfach weitermachen. Ein anderer sagt: Nein, die Menschen würden das Unabänderliche zu ändern versuchen, so ist der Mensch. Und eine dritte Figur sagt, auch das stimmt nicht, denn der Mensch kann bereits den Gedanken der Auslöschung gar nicht fassen, da gerät die menschliche Vorstellungskraft an ihr Ende. – Welche Theorie wäre Ihre?
Bovenschen: Ich glaube, die meisten Menschen wissen gar nicht, dass die Welt wirklich in ferner Zeit verschwinden wird. Die Sonne wird zu einem „Roten Riesen“, es wird dann erst einmal sehr warm, es gibt kein Wasser mehr, es ist kein Leben mehr möglich, dann irgendwann verschwindet die Sonne selbst auch, dann hat sich das Ganze eh erledigt. Aber das ist natürlich noch sehr lange hin, deswegen sagt Georg Laub auch: „Na, da kann ich ja mein Bier noch austrinken.“ Der will dieser fatalistischen Diskussion entrinnen, der hat gerade ganz andere Probleme.