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Wohin des Wegs, Türkiye? Literatur und Diskussionen

Lesedauer: 5 Minuten

Rio, Istanbul, Berlin – Schreiben als Reise

5. November 2008

9.Oktober 2008

Über "Die Stadt mit der roten Pelerine"

Der Abend begann in türkischer Sprache. Aslı Erdoğan las aus ihrem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“, die Geschichte einer fluchtartigen Reise nach Rio de Janeiro. Erdoğan beschreibt hier den Sog Rios, jener Stadt am "Januarfluss", die ihre "rote Pelerine" (gemeint ist hier der Umhang aus Blut und Gewalt) um einen legt und ihn nicht mehr freigibt, und dem ihre Protagonistin verfallen ist wie eine Süchtige. Das ist grandios beschrieben und zog auch das Publikum merklich in seinen Bann: Spätestens bei den kunstvoll vorgetragenen deutschen Passagen durch Recai Hallaç konnte man im Saal eine Stecknadel fallen hören.

Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse lud die Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Türkischen Bund Berlin-Brandenburg zwei herausragende Autorinnen der Türkei dazu ein, ihre Werke vorzustellen und über ihre Selbstwahrnehmung als Schriftstellerinnen zu sprechen: die diesjährige Böll-Stipendiatin Aslı Erdoğan sowie Şebnem İşigüzel, die während der Buchmesse als Frankfurter Stadtschreiberin tätig war.

Noch nie war das Interesse an der türkischen Literatur so groß

Moderiert wurde die Veranstaltung von Sigrid Löffler, (Noch-)Herausgeberin der Zeitschrift „Literaturen“, die im Gespräch auch politischen Fragen nachspürte: Wie beurteilen diese beiden Frauen die gegenwärtige Lage ihres Heimatlandes, zerrissen zwischen den politischen Kräften und voller Sehnsucht nach Stabilität? Mit welchen gesellschaftlichen Tabus hat eine Literatur zu kämpfen, die den strengen Blick des Zensors fürchten muss? Und welche Rolle haben insbesondere Autorinnen in einer Situation, in der weibliche Körper gerne in symbolischen Kämpfen benutzt werden?

Die Gelegenheit für einen Austausch mit türkischen Autorinnen scheint günstiger denn je. Denn vielleicht war das das Interesse hierzulande an türkischer Literatur noch nie so groß wie jetzt. Dies liegt gewiss zum einen an der hohen Zahl der Neuübersetzungen, die durch deutsche Verlage im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse auf den Literaturmarkt gebracht werden. Entsprechende Beilagen von Tageszeitungen und Zeitschriften machen neugierig auf die Begegnung mit einer Literatur, die ihr osmanisches Kulturerbe und ihre multiethnische Gegenwart in einer reichhaltigen Formensprache verhandelt. Zum anderen, und dies betrifft die Heinrich-Böll-Stiftung als Akteurin politischer Bildung natürlich ganz besonders, ist dieses Interesse wohl auch der prekären politischen Lage der Türkei geschuldet, die uns in den letzten Monaten und Jahren zuweilen die Sorgenfalten auf die Stirn trieb.

Türkei - ein Laboratorium gesellschaftlicher Widersprüche

Der Versuch, die eigene Regierung für verfassungswidrig zu erklären, brachte die Türkei in diesem Sommer kurzzeitig an den Rand des Abgrunds. Sogar Putschgerüchte machten die Runde. Bereits der Mord am armenischen Journalisten Hrant Dink im vergangenen Jahr hatte der Welt gezeigt, dass der innertürkische Kampf um kulturelle Deutungshoheit an Schärfe gewinnt. In ihrem nationalistischen Furor wussten radikale Gruppen den Staat hinter sich: Durch den berüchtigten Paragraf 301, der die „Beleidigung des Türkentums“ unter Strafe stellt, sollten kritische Schriftsteller eingeschüchtert werden.

Dass der derzeit wohl berühmteste und auch angefeindetste türkische Schriftsteller, der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, zusammen mit dem türkischen Staatspräsidenten und AKP-Politiker Abdullah Gül die Frankfurter Buchmesse eröffnete, wurde von kemalistischer Seite im Vorfeld stark kritisiert. Welche Nähe zu einer islamisch-konservativen Regierung ist zulässig, welche Politik der Repräsentation gerade noch gangbar? Die SchriftstellerInnen und Intellektuellen der Türkei tun sich erkennbar schwer, zwischen den unversöhnlichen Lagern Gehör zu finden und die Gegenmacht der Kunst als geschützten Raum zu behaupten.

Istanbul, das Zentrum türkischer Literaturproduktion, ist zu einem Laboratorium der gesellschaftlichen Widersprüche geworden. Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak, wie Pamuk ebenfalls ein Opfer des Paragrafen 301, verglich das Leben am Bosporus einmal mit der Reise auf einem großen, lauten Schiff. Die eine Strömung ziehe in Richtung Verwestlichung und Demokratisierung, die andere in Richtung Nationalismus und Isolation.

"Faszinierend farbig"

Obwohl die Gefahr einer (politischen) Havarie durch diese Hin- und Hergerissenheit allgegenwärtig ist, wird diese schwankende Befindlichkeit häufig auch als ästhetischer Gewinn verbucht. „Faszinierend farbig“ heißt das Motto, mit dem sich die Türkei als Ehrengast auf der Buchmesse präsentierte. Ein Motto, das vielleicht etwas zu sehr nach Tourismus-Marketing klingt. Dabei verweist es recht clever auf einen unstrittigen Befund: Faszinierend ist die Türkei, weil ihre geschichtlichen Ambivalenzen und heutigen Differenzen so offen zu Tage liegen.

Von Aslı Erdoğan stammt die Formel, wonach „Schreiben eine Reise in die Ganzheit des Seins“ sei. Doch diese Suche nach Welterfahrung und Erkenntnis braucht offenbar konkrete Orte, an denen sie sich festmachen und erden kann. So sind es zumeist Städte mit einer langen Geschichte und einem hohen Migrationsanteil, die gesellschaftliche Widersprüche lebensweltlich greifbar machen und die künstlerische Phantasie beflügeln.

Aslı Erdoğan sagt: „Für mich repräsentieren die Städte Labyrinthe voller Spiegel, Echos, Fallstricke, und das Schicksal des heutigen Menschen. Sie alle sind Reisen, zu denen ich aufbrach ohne zu wissen, was ich suchte.“  Das Leitmotiv einer intellektuellen Reise in spannende Städte hat sich dieser Literaturabend in gelungener Art und Weise zu Eigen gemacht.

» Kurzbiografien: Sigrid Löffler, Aslı Erdoğan und Sebnem Isigüzel
» Begrüßung und Eröffnung durch die Moderatorin Sigrid Löffler
» Einführung von Sigrid Löffler zu Sebnem Isigüzels Roman «Am Rand»