Seit März 2005 hat Brasilien ein Gesetz zur „Biosicherheit“: Damit ist in dem größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas die Produktion und der Handel mit genetisch veränderten Organismen sowie die „embryonenverbrauchende“ Stammzellenforschung legalisiert und rechtlich geregelt worden. Das Gesetz wurde von heftigen Debatten um genverändertes Saatgut begleitet, die es dennoch nicht vermochten, dessen Freigabe zu verhindern. Die kritischen Diskussionen um Stammzellenforschung blieben dagegen auf kirchliche Kreise und einige feministische Gruppen beschränkt - gegen die Forschungslobby hatten sie keine Chance.
Biosicherheit
Die Macht des Faktischen setzt sich auch in Brasilien durch Das Gesetz steht beispielhaft dafür, wie gegenwärtig menschliches, tierisches und pflanzliches Leben zunehmend durch technologische Entwicklungen erschlossen und neuen rechtlichen Ordnungen unterworfen wird. Der Erkenntniszuwachs in der Gen-, Bio- und Informationstechnologie ermöglicht, dass die Bausteine des Lebens als „Ressourcen“ erfasst und zu neuartigen Produkten verarbeitet werden können. Sie werden „in Wert“ gesetzt und daher für Forschungsinstitute und Unternehmen ökonomisch interessant. Ein zentraler Aspekt der biopolitischen Regulierung ist es, die biologischen Lebensgrundlagen zu privatisieren. Reichweite und Eingriffstiefe dieser Zugriffe auf die verschiedenen Aspekte des Lebens sind kaum einschätzbar, die möglichen Folgen werden im öffentlichen und politischen Raum wenig diskutiert. Im Namen des „Fortschritts“ und der „Wettbewerbsfähigkeit“ werden mit dieser Entwicklung in Zusammenhang stehende ethische Fragen oder Fragen zu Machtverhältnissen, Kontrolle und Abhängigkeit weitestgehend ausgeblendet.
Im englischen Sprachgebrauch hat sich für diese Entwicklung der anschauliche Ausdruck the second enclosure of nature etabliert: Die erste „Einschließung“ der Natur war die Eroberung und Privatisierung der Erde, die zweite hingegen zielt auf die Strukturen der Materie und des Lebens. Saatgut, DNA-Sequenzen und auch Lebewesen können heute patentiert werden. Ein zweiter wesentlicher Aspekt ist, dass sich durch Stammzellenforschung, pränatale Eingriffe in den Embryo und Klonen die Möglichkeiten der Manipulation menschlichen Lebens dramatisch erweitern. Damit steht die Tür für eine neue Eugenik sperrangelweit offen.
Eine breite gesellschaftliche Debatte …
In Brasilien ist eine breite Diskussion über diesen Trend kaum entwickelt, weder in der Zivilgesellschaft noch unter PolitikerInnen oder gar in einer breiteren Öffentlichkeit. Auch JournalistInnen sind - mit wenigen Ausnahmen - eher schlecht informiert.
Die Heinrich-Böll-Stiftung baut in den nächsten Jahren ihre bisherigen Aktivitäten in diesem Themenbereich zu einer eigenen Programmkomponente aus Sie knüpft dabei an Symposien in 2004 und 2005 sowie Buchveröffentlichungen an, mit denen es ihr gelang, insbesondere feministische Gruppen und andere NROs in einen Diskussionsprozess einzubeziehen, der für viele Beteiligte neue und verwirrende Fragen aufwirft.
Die Heinrich-Böll-Stiftung unternimmt mit dieser neuen Programmkomponente den Versuch, Schlüsselfragen der menschlichen Entwicklungen in einem gesellschaftlich-politischen Kontext zu diskutieren und damit auch Einflussnahme zu ermöglichen. Sie versteht sich als Gegenentwurf zu der Tendenz, Fragen der Biopolitik in Bioethikkommissionen zu entsorgen, und sie zu einem Fachgebiet von SpezialistInnen zu machen.
Biopolitik hat auch unmittelbar entwicklungspolitische Relevanz. Der Zugang zu neuen Techniken (z.B. pränatale Eingriffe) ist aufgrund hoher Preise extrem beschränkt. Wie beeinflussen also diese Techniken die soziale Ungleichheit? Welche Auswirkung hat die Patentierung von indigenem oder traditionellem Wissen auf die Lebensverhältnisse lokaler Gemeinschaften? Wie sind Patente in der Welt verteilt? Wie soll und kann benefit sharing funktionieren?
…und viel gesellschaftliches Engagement sind notwendig
Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen, feministischen Organisationen und Forscherinnen und Forschern hat die Heinrich-Böll-Stiftung ein Netzwerk zu Biopolitik aufgebaut, das Initiativen und Diskussionen anregt sowie politische Strategien der Einflussnahme entwickelt. Darüber hinaus arbeitet die Stiftung daran, das Informationsdefizit zum Thema Biopolitik zu verringern, indem sie gezielt Führungskräften der Zivilgesellschaft und JournalistInnen aktuelle Informationen, Konzepte und Analysen zu den verschiedenen Aspekten von Biopolitik zugänglich macht.