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Umstrittene Wahlen in Nicaragua

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16. Dezember 2008
Lina Pohl, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in El Salvador

Von Lina Pohl, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in El Salvador

Selten hat ein Land so viel internationale Solidarität erfahren wie Nicaragua, wo 1979 die Sandinistische Bewegung eine der grausamsten Diktaturen Lateinamerikas besiegte. Fast 30 Jahre später bezichtigen ehemalige Kampfgefährten (und viele andere) den früheren Comandante und jetzigen Präsidenten Ortega ebenfalls diktatorischer Praktiken. Seit Monaten gibt es Verleumdungen gegen Organisationen der Zivilgesellschaft, besonders gegen Frauenorganisationen, im Nachklapp der Kommunalwahlen vom 9. November lassen die Gerüchte über Wahlfälschungen nicht nach.

Die Geschichte Mittelamerikas scheint mit dem Aufstieg und einer gewissen Kontinuität linker Regierungen in einen neuen Zyklus einzutreten. Anders als in der Vergangenheit kommen nichttraditionelle politische Kräfte – von Mitte-Links bis Links – durch Wahlen an die Macht und nicht durch blutige Staatsstreiche oder Aufstände.
Mit Ausnahme von El Salvador regieren heute von Guatemala bis Panama Parteien, die zur Sozialdemokratie gehören oder ihr zugeordnet werden und mal mehr, mal weniger links stehen. Die politische Landkarte in Mittelamerika ist anders als noch vor einem Jahrzehnt, als konservative und neoliberale Parteien an der Macht waren, die auch als Regierungen des „Washington-Konsens” bezeichnet wurden.
In diesem Umfeld fanden in Nicaragua, wo die Machtübernahme durch die sandinistische FSLN im Januar 2007 als Rückkehr der von 1979-1990 herrschenden Sandinistischen Revolution angesehen wurde, Kommunalwahlen statt. Diese Revolution hatte eine der schändlichsten Diktaturen Lateinamerikas gestürzt und zog einen von Washington gelenkten Bürgerkrieg, wirtschaftliches Chaos und einen tiefen Bruch in der Gesellschaft nach sich.
Nach einem „revolutionären“ Jahrzehnt in den 80er Jahren schlug Nicaragua mit den Wahlen 1990 einen „demokratischen Kurs” ein: drei rechtsgerichtete Regierungen folgten einander, bis Daniel Ortega, als Kandidat der FSLN, im November 2006 die Wahlen gewann und im Januar 2007 in das Präsidentenamt zurückkehrte.
Vor, während und nach den Kommunalwahlen am 9. November 2008 standen der Wahlgang und das Wahlsystem sowohl in Nicaragua als auch im Ausland „im Auge des Hurrikans”.

Konkrete Ergebnisse

Selten hat eine Kommunalwahl zu so vielen Widersprüchen, Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten geführt. Die Spannung ergab sich daraus, dass die Opposition diese Wahlen – mehr als ein Jahr nach Ortegas Machtübernahme - als Plebiszit bzw. Referendum über seine Regierung verstand.
Ein weiterer Grund für die Polarisierung war die von der Opposition in Umlauf gebrachte These, dass Ortega, gestärkt durch eine Legitimation bei den Kommunalwahlen, eine Verfassungsreform zur Wiederwahl des Präsidenten einleiten könnte, die im Moment in Nicaragua unzulässig ist.
Gewiss ist, dass die FSLN dem Obersten Wahlrat (CSE) zufolge 105 der 146 zur Wahl stehenden Bürgermeisterämter gewonnen hat; die liberale Partei „Partido Liberal Constitucionalista“ (PLC) gewann nur 37 Bürgermeisterämter und eine Minderheitspartei, die „Alianza Liberal Nicaragüense“ (ALN) eroberte vier. Die FSLN gewann in 13 der 16 Provinzhauptstädte.
Am heftigsten umkämpft war bei diesen Wahlen die Hauptstadt Managua: einmal wegen ihrer Bedeutung als Hauptstadt, in der alle staatliche Gewalt konzentriert ist, zum anderen aber, weil der Gegenkandidat der FSLN – die den dreifachen Boxweltmeister Alexis Argüello aufgestellt hatte – der Bankier und ehemalige Außenminister Eduardo Montealegre war, der bei den Präsidentschaftswahlen gegen Ortega verloren hatte.
Alle Zeichen standen auf Rivalität und Konfrontation. Zum ersten Mal seit vielen Jahren vereinte sich die PLC um Montealegre (der zu der Fraktion gehört, die den ehemaligen Präsidenten Arnoldo Alemán ins Gefängnis brachte); ihm schlossen sich Sandinismus-Dissidenten, Unternehmer und Vertreter der Mittelschichten an, die befürchteten, dass Ortega eine „neue Diktatur“ errichten würde. Es war ein Kampf „Alle gegen Ortega”.

Schwierige Verhältnisse

Die Lage ist heikel. Der Oberste Wahlrat (CSE) Nicaraguas ließ eine Wahlbeobachtung durch unabhängige lokale und internationale Vertreter nicht zu. Bei früheren Wahlen waren in Nicaragua u.a. die Organisation „Transparencia y Ética”, das Carter-Zentrum aus den USA oder die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) akkreditiert. Resultat ist, dass die Opposition andere Zahlen hat als die offizielle Seite. Wirklich glaubwürdig sind allerdings weder die von der Opposition ausgezählten noch die offiziell ausgezählten Stimmen.
Washington kündigte an, die Mittel aus dem Millenium Challenge Account (MCA) – 65 Millionen Dollar – einzufrieren, was die Ortega-Regierung als „Erpressung” bezeichnete. „Es ist eine absolut unerklärliche Einmischung, im Zusammenhang mit Fragen der Investition und Kooperation Entscheidungen zu treffen, die ausschließlich Sache der Nicaraguaner sind”, sagte der Sekretär für Wirtschaftsbeziehungen und Zusammenarbeit des nicaraguanischen Außenministeriums Valdrack Jaentschke.
John Danilovich, Exekutivdirektor des MCA, wurde deutlich: „Freie und gerechte Wahlen sind dafür eine Grundvoraussetzung.“ Doch Jaentschke erklärte gegenüber einem lokalen Radiosender, Washington habe das Ziel, Nicaragua zu „destabilisieren“ und der Welt „ein negatives Bild von Präsident Daniel Ortega“ zu verkaufen. Er fügte hinzu, die nicaraguanische Regierung überrasche die Entscheidung nicht und die Maßnahme sei eine Verletzung der bestehenden Abkommen zwischen Nicaragua und den USA.
Auch EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner brachte ihre „Sorge angesichts der Entwicklung in Nicaragua nach den Kommunalwahlen vom 9. November” zum Ausdruck und teilte Außenminister Samuel Santos mit, dass die notwendigen Mittel zur Verfügung stünden, um „den Wunsch nach Transparenz der Wahlergebnisse und nach konsequenter Achtung des Wählerwillens der Nicaraguaner” zu unterstützen. „Sollte das eine Neuauszählung der Stimmen oder gar eine Wahlwiederholung erfordern, ist die Kommission bereit, die Regierung Nicaraguas mit allen Mitteln zu unterstützen“, erklärte Frau Ferrero-Waldner.
 „Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass unter Beachtung der Gesetze eine Lösung innerhalb Nicaraguas gefunden wird, jedoch auch die Grundprinzipien der Demokratie und die notwendige Wiederherstellung des Vertrauens der Bürger in ihre politischen Institutionen berücksichtigt werden”, sagte die europäische Vertreterin abschließend.
Der Kampf der liberalen Partei (PLC) richtet sich derzeit auf die Annullierung der Wahlergebnisse und die Ausrufung neuer, beaufsichtigter Wahlen im kommenden Januar. Bisher sind solche Absichten an der Position der Sandinisten abgeprallt, der zufolge die Wahlen rechtmäßig verlaufen sind.
Über die Auswirkungen der Wahlen hinaus haben sich in Nicaragua Ungewissheit und Misstrauen breit gemacht und die politische Polarisierung hat sich vertieft. Das ist die direkte Folge des politischen Pakts, den der jetzige Präsident Daniel Ortega mit dem ehemaligen Präsidenten Arnoldo Alemán für mehrere Jahre geschlossen hatte und bei dem die staatlichen Institutionen und die politische Gewalt untereinander aufgeteilt wurden.
Parallel zu diesem Prozess kommt es zurzeit zu ständigen Angriffen der sandinistischen Regierung auf die Zivilgesellschaft, insbesondere und verstärkt auf die Organisationen, die für politische Mitsprache, Transparenz, Demokratie und Genderfragen stehen.
Für die Heinrich-Böll-Stiftung ist Demokratie ein zentrales Thema. Aus unserer Sicht waren die Wahlen in Nicaragua nicht nur ein Pulsmesser für die Regierung Daniel Ortegas, sondern auch ein Thermometer für die Anfälligkeit der Demokratie in Nicaragua. Diese Wahlen haben Politik und Politiker noch mehr in Verruf gebracht.
Die FSLN mit ihrem aggressiven Stil, ihrer Ablehnung von Wahlbeobachtern und ihrem oft eher rechtsgerichteten denn der demokratischen Linken zuzuordnenden Diskurs – ganz besonders im Angriff auf die Frauen und die Medien – hat breite Kreise der politikverdrossenen, jedoch von der Demokratie überzeugten Bürger dazu gebracht, „um jeden Preis gegen Ortega” zu stimmen.
Andererseits verweist jedoch die hohe Stimmabgabe für die von Daniel Ortega geführten Sandinisten auf das Risiko, bestehende Beziehungen zwischen Demokratie und Wirtschaft zu ignorieren oder herunterzuspielen und stattdessen - wie die Opposition dies tut - eine demokratische Bürgerkultur in einem Land in den Vordergrund zu rücken, in dem mehr als 50% der Bevölkerung in Armut lebt.

Ausstehende staatsbürgerliche Entwicklung

Um eine bürgerschaftliche Demokratie aufbauen zu können, ist Politik unerlässlich. Aber dafür muss die Politik Gewicht haben, sie muss Lösungswege für die wichtigsten Probleme Nicaraguas aufzeigen und alle einschließen. Sie darf kein Projekt „in Opposition zu ...” sein, wie es bei den letzten Wahlen der Fall war. So etwas kann aus dem Staat heraus, aber auch aus der Zivilgesellschaft entstehen.
Die von der Zivilgesellschaft in Nicaragua eroberten Räume waren für die fragilen Demokratisierungsprozesse von großer Bedeutung. Nicht nur, indem der öffentliche Raum durch Formen und Modelle der Bürgerbeteiligung erweitert wurde, sondern auch, indem Forderungen der Bürger zu Wort kamen, die wachsender Ausdruck einer gesunden Vielfalt sind.
Sicher profitiert Ortega im Moment von zweierlei: von der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der klaren Hinwendung vorangegangener Regierungen zum Neoliberalismus und vom „Erbe” der Revolution, das in der Organisation der Gesellschaft und im sozialen Bewusstsein weiter Gültigkeit hat. Deshalb ist auch Nicaraguas Entwicklung nicht mit der in El Salvador, Guatemala und Honduras vergleichbar.
Die Zukunft scheint nicht sehr viel versprechend. Ortega kann aus seinem Sieg falsche Schlüsse ziehen. Möglicherweise wird die politische Willkür im Land noch verstärkt und es kommt zu „politischer Repression” gegen jegliches andere Politikverständnis.
Die Organisationen der Zivilgesellschaft und die politischen Gruppierungen mit demokratischen Vorstellungen und Ideen müssen Handlungsstrategien entwickeln, Prioritäten setzen und neue Bündnisse schaffen, um Nicaragua auf dem Weg der nachhaltigen und demokratischen Entwicklung zu einem stabilen Land zu machen.

San Salvador, 5.12.2008