Bei den gestrigen Präsidentschaftswahlen in Chile erzielte der Kandidat der rechten UDI und konservativen RN, Sebastián Piñera, mit 44% ein ausgezeichnetes Ergebnis, konnte aber wie erwartet nicht im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen. In die Stichwahl am 17. Januar muss er nun gegen den Kandidaten der Regierungskoalition Concertación, den Christdemokraten Eduardo Frei, der mit 29% enttäuschte. Der linksliberale Außenseiter Marco Enríquez-Ominami konnte zwar 20% der Stimmen für sich verbuchen, jedoch nicht das selbst gesteckte Ziel erreichen, in die Stichwahl zu gehen. Der für die Kommunisten angetretene, unabhängige Jorge Arrate erzielte mit über 6% zwar einen Achtungserfolg, erfüllte aber ebenfalls nicht die von seinen guten Wahlkampfauftritten geweckten Erwartungen.
Ein wenig gewöhnungsbedürftig ist es –zumindest für Europäer- schon: Ausgerechnet die Streitkräfte waren, wie bereits zu vergangenen Wahlen und nach dem Gesetz, zusammen mit der nationalen Polizei Carabineros für „Sicherheit und einen ordnunggemäßen Verlauf der Wahlen“ verantwortlich. So prägten neben den allgegenwärtigen Carabineros auch zahlreiche in Tarnanzügen uniformierte Soldaten das Bild vor und in den Wahllokalen in allen Landesteilen.
Arbeiten am Wahltag
Bereits früh um 7.00 Uhr öffneten die ersten Wahllokale, einige jedoch blieben wider Erwarten und ohne weitere Ankündigung zunächst geschlossen, was für viele Wähler ein Ärgernis bedeutete – inbesondere, wenn sie denn am Wahlsonntag noch zur Arbeit erscheinen mussten. Das betraf Angestellte der großen Supermarktketten und des kleinen Einzelhandels, die nach langem Hin und Her und Verhandlungen unter Einschaltung der Arbeitsministerin schließlich von den Arbeitgebern einen freien Wahl-Vormittag bis 14.00 Uhr zugestanden bekamen.
Im ansonsten sehr katholischen und religiösen Chile existiert kein verkaufsfreier Sonntag, die großen Ketten und Malls haben in der Regel von Montag bis Montag, zwischen 7.00 und 22.00 Uhr durchgehend geöffnet. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2005 hatten zahlreiche der miserabel entlohnten Angestellten im Einzelhandel Abmahnungen, Gehaltskürzungen und andere disziplinarische Strafmaßnahmen zu erleiden, weil sie aufgrund ihrer Stimmabgabe verspätet zur Arbeit erschienen - in Chile herrscht Wahlpflicht, aber es besteht keine Möglichkeit der Briefwahl. Die tagelangen Diskussionen mit den Arbeitgeber-Verbänden und dem Verband des Einzelhandels um einen freien Wahltag an einem umsatzstarken Sonntag vor Weihnachten muteten streckenweise absurd an. Die Ministerin „bat“ die Arbeitgeber um Verständnis und Großmut, bis schließlich am Verhandlungstisch der mühselige Kompromiss um eine spätere Ladenöffnungszeit ab 14.00 Uhr erzielt wurde.
Chilenisches Wahlrecht als Hürdenlauf
Die verspätete Öffnung der Wahllokale war aber auch noch aus einem anderen Grund für viele ärgerlich: Chilen_innen müssen oft mehrere Stunden Fahrtzeit auf sich nehmen, um in dem Distrikt ihre Stimme abzugeben, in dem sie sich zum ersten Mal im Wahlregister eingetragen haben – es gibt kein zentrales Melderegister, das automatisch bei Umzug auch die notwendigen Aktualisierungen für die Wahlunterlagen vornimmt. Auch der erstmalige Eintrag als Neuwähler gestaltet sich eher als eine Art Hürdenlauf.
Nur für wenige Wochen vor den Wahlen öffnen die Verschläge mit den handschriftlich geführten Registerbüchern in Einkaufspassagen, auf Plätzen oder sonstigen nicht ohne Weiteres zu findenden Orten. Es gehört also schon eine gewisse staatsbürgerliche Hartnäckigkeit dazu, die Voraussetzungen für eine Stimmabgabe zu erfüllen. Zudem haben die Chilen_innen dann nicht nur das Wahlrecht, sondern vor allem auch die Wahlpflicht, was bei Umzug oder Verhinderung eher ein weiteres Problem darstellt, dem nur durch eine Meldung bei der Carabinero-Wache des jeweiligen aktuellen Aufenthaltsortes entgangen werden kann.
Vor diesem Hintergrund mag es auch kaum verwundern, dass in der Regel unter Jüngeren und Erstwähler_innen die Wahlbeteiligung deutlich niedriger ausfällt. Dem wird wohl erst bei den nächsten Wahlen mit einem automatischen Wahlregister Abhilfe geschaffen; den Gesetzesentwurf konnte die Regierung nicht mehr rechtzeitig durch den Kongress bringen.
Kleiner Zwischenfall im Süden des Landes
Der Wahltag selbst verlief ruhig, bis auf einen kleineren Zwischenfall in der südlichen Bio-Bio-Region, bei dem Unbekannte offenbar zwei Baumstämme fällten und damit eine Straßensperre errichteten. Da sich in der Region seit Monaten ein historischer Konflikt um Landrechte zwischen großen Forstkonzernen und indigenen Mapuche-Gemeinden zuspitzt, rückten bis an die Zähne bewaffnete und gepanzerte Carabinero-Sondereinheiten aus, um - nach einigem Hin und Her und ohne der Täter habhaft zu werden - die Straße wieder frei zu räumen.
Dennoch gehören auch fast 80 Verhaftungen zur Bilanz des Wahltages: In verschiedenen Städten weigerten sich mehrere berufene Wahlhelfer_innen aus vermeintlichen Zeitgründen, ihren Dienst in den Wahllokalen anzutreten, worauf sie von Carabineros umgehend festgenommen wurden – ebenso wie verschiedene Personen, denen aktive Wahlwerbung oder Trunkenheit vorgeworfen wurde.
Hohe Anzahl ungültiger Wahlzettel
Die Wahlhelfer_innen waren, wie später in den vielfach live im TV übertragenen Auszählungen zu sehen waren, offensichtlich aufgrund mangelnder Vorbereitung und Kenntnis ein wunder Punkt im Ablauf der Wahlen: Es herrschte an vielen Wahltischen große Unsicherheit, ab wann ein Wahlzettel als ungültig zu betrachten sei. Laut Gesetz müssen die auf einem einzigen Zettel aufgeführten und mit einem Unterstrich eingeleiteten Namen der Kandidaten mit einem senkrechten Strich durch den Unterstrich so gekreuzt werden, dass eine klare Wahl-Absicht erkennbar ist – in vielen Fällen kreuzten die Striche zwar nicht exakt den Unterstrich, war aber dennoch eine klare Auswahl erkennbar. Und doch sorgten diese Zettel für heftige Diskussionen zwischen den Wahlhelfer_innen, ebenso wie eingerissene Wahlzettel, die ebenfalls trotz erkennbarer Wahlabsicht von einigen nicht anerkannt wurden. Dies mag zum Teil den mit bis zu 8% hohen Anteil an ungültigen Stimmen erklären.
Mit Spannung wurde bereits um 16.00 Uhr, rund zwei Stunden vor Schließung aller Wahllokale, das Ergebnis des eines Wahllokales des nicht gerade in einem der besten Viertel gelegenen „Estadio Nacional“ verfolgt: Die Auszählung ergab eine deutliche Mehrheit von 88 Stimmen für den Kandidaten der rechten Opposition Sebastián Piñera, 41 für den Kandidaten der Concertación, Eudardo Frei, 12 für Marco Enríquez-Ominami (ME-O), und 8 für den Kandidaten der Kommunisten, den unabhängigen Jorge Arrate. Das auf den ersten Blick für Piñera erstklassige Ergebnis relativierte sich mit einem Blick auf das der Wahl 2005 – am selben Tisch hatten Piñera und Lavin zusammen 97 Stimmen erreicht, während Bachelet auf 80 Stimmen kam.
Schnelle Auszählung
In beeindruckender Geschwindigkeit gingen ab 18.00 Uhr die ersten offiziellen Auszählungen und Hochrechnungen im Wahlzentrum der Regierung im ehemaligen Bahnhof „Estación Mapocho“ ein, so dass der Staatssekretär im Innenministerium, Patricio Rosende, bereits gegen 23.00 Uhr auf der Grundlage von 98% gezählter Stimmen ein vorläufiges Ergebnis verkünden konnte: Demnach erreichte Sebastián Piñera mit 44,03% ein ausgezeichnetes Resultat, ebenso Marco Enríquez-Ominami mit 20,12%, enttäuschend schlecht schnitt Eduardo Frei noch unter dreißig Prozent mit 29,62% und auch Jorge Arrate mit 6,21% ab. Irritierend hoch fielen die ungültigen (5,05%) und nicht ausgefüllten Wahlzettel (2,64%) aus, zusammen beinahe 8% der Stimmen.
Stichwahl am 17. Januar
Wie diese Ergebnisse nun mit Blick auf die Stichwahl zu interpretieren seien, darüber entbrannten noch am Wahlabend die ersten heftigen Diskussionen zwischen den so genannten Kampagnen-Kommandos, aber auch zwischen unabhängigen Experten. Verglichen mit dem Ergebnis der ersten Wahlrunde von 2005, als Piñera und Lavin zwar getrennt voneinander antraten, zusammengerechnet jedoch rund 49% erzielten, liegt Piñeras Ergebnis nun mit 44% dann doch deutlich niedriger – er muss also noch Einiges zulegen.
Es kommt auf M-EOs Wähler_innen an
Andererseits kann Frei zwar auf die Stimmen Arrates hoffen, da die Concertación dem Wahlbündnis um die Kommunisten drei Abgeordnetensitze ermöglichte, die Stimmen von ME-O lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres Frei zuschlagen. Einerseits hatte ME-O vor der Wahl bereits eindeutig eine Wahlempfehlung für eine Stichwahl abgelehnt, andererseits ist ein Teil der ME-O-Wählerschaft trotz seines zunehmend linken Diskurses in den Wochen vor der Wahl einem liberalen Spektrum zuzuordnen, das im Zweifel eher für einen als absolut notwendig erachteten Regierungswechsel mit Piñera stimmen würde als für eine Neuauflage einer ausgelaugten Concertación.
Ebenso könnte es gut sein, dass ein Teil der Enríquez-Ominami-Wähler_innen entweder schlicht nicht zur Stichwahl gehen oder aber ungültige, bzw. nicht ausgefüllte Wahlzettel abgeben, die dann nicht proportional den anderen Kandidaten zugeschlagen werden – so oder so, kommen den 20 Prozent des Marco Enríquez-Ominami, vor allem für Frei, eine entscheidende Bedeutung zu.
In ihren ersten Auftritten am Abend formulierten denn auch alle Kandidaten die ersten relevanten Botschaften mit Blick auf die Stichwahl am 17. Januar mehr oder minder unverhohlen: Piñera feierte seinen deutlichen Sieg mit einem Appell an Frei für einen „sauberen Wahlkampf“ um Ideen und Konzepte und an die Wähler_innen ME-Os mit dem Hinweis, dass sowohl er wie auch Marco für einen Wechsel stünden, für eine Ablösung der „verbrauchten“ Concertación. Er wolle seinen „Kreuzzug“ für ein anderes, besseres, sozialeres Chile auch für die Mittelschichten fortsetzen.
Frei schlug in dieselbe Kerbe und machte den Wähler_innen ME-Os und Arrates ein entsprechend klares Politik-Angebot. Zudem unterstrich er in Anspielung auf Piñeras Unternehmensbeteiligungen erneut die Gefahr, die von einer derartigen Konzentration wirtschaftlicher, politischer und medialer Macht ausgehe, falls dieser Präsident werde – vermutlich bezog sich Piñeras Appell für einen „sauberen“ Wahlkampf auf genau dieses, nicht ohne Weiteres wegzuwischende Argument.
Enríquez-Ominami gibt keine Wahlempfehlung
Mit unerwartet deutlichen Worten versuchte Marco Enriquez-Ominami am Abend seine vor der Wahl mehrfach formulierte Strategie zu unterstreichen, keine Verhandlungen über eine offizielle Wahlempfehlung mit dem Frei-Lager einzugehen. Frei und Piñera seien sich zu ähnlich, seien beide „Männer der Vergangenheit“ und nicht der “Zukunft“. An seine Wähler und Wählerinnen gewandt, versprach er, deren Vertrauen in seine Kandidatur und sein politisches Projekt nicht mit einer Wahlempfehlung enttäuschen zu wollen – seine Wähler_innen seien erwachsene Menschen und wüssten schon selbst am besten, was sie angesichts der beiden Kandidaten „der Vergangenheit“ zu entscheiden hätten. Er habe seine Stimmen für sein Projekt eines neuen, gerechteren Chile erhalten, für ein Chile, in dem auch die Ärmeren eine Zukunft haben würden – mit dieser, wenn auch unkonkreten, aber doch politisch-programmatischen Festlegung will ME-O die beiden Kandidaten zwingen, sich in der Auseinandersetzung um „seine“ Wähler_innen noch deutlicher politisch zu positionieren und entsprechende, klare Politik-Angebote zu machen – kein Kampf um Posten also, sondern um eine neue Politik. Was allerdings nun aus seinem politischen Projekt werden soll, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen: ME-O erzielte mit seinem ihn unterstützenden Wahlbündnis keinen einzigen Abgeordneten, kann also die nächsten vier Jahre nur außerparlamentarisch Politik betreiben. Sein Adoptivvater, Senator Carlos Ominami, verlor ebenfalls seinen Sitz im Senat.
Concertación hält Mehrheit in Senat und Abgeordnetenhaus
Auch ansonsten hielten die gleichzeitig stattfindenden Parlaments- und teilweise Senatswahlen für einige Exponenten der politischen Elite unangenehme Überraschungen parat. Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Álvarez, verlor sein Mandat für die rechte UDI, auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat Joaquín Lavin seinen Senatssitz, ebenfalls für die rechte UDI – inwiefern Lavin nun Piñera in der kommenden Stichwahl wie abgesprochen eine Stütze sein kann, bleibt abzuwarten. Einer der Granden der sozialistischen Partei, Jaime Gazmurri, scheiterte ebenfalls mit seiner Wiederwahl in den Senat, dafür hat sich die Frauenquote verdreifacht – von 2 auf 6 Senatorinnen von insgesamt 38 Senatsmandaten. Dennoch hat die Concertación mit dem Ergebnis, wenn auch knappe, Mehrheiten im Senat und im Abgeordnetenhaus.
Insofern ist der Siegesjubel von Piñeras Allianz für den Wechsel noch verfrüht, auch wenn er gute Chancen auf einen Sieg in der Stichwahl hat. Für Eduardo Frei kommt es nun entscheidend darauf an, mit einer überzeugenden positiven und proaktiven Strategie für ein neues politisches Projekt um so viele Stimmen wie möglich aus dem Lager von Marco Enríquez-Ominami zu kämpfen – ein schlichtes „Wir oder die Rechten“ wird es am 17. Januar nicht mehr richten.
Michael Álvarez ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung für das Cono Sur in Chile.
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