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Historische Zäsur in Chile: Konservativer Unternehmer Piñera neuer Präsident

Die Straßenarbeiter gegenüber des Eingangs zum Museo de la Memoria y de los Derechos Humanos (Museum der Erinnerung und der Menschenrechte) hatten offenbar den richtigen Riecher: Als rund eine Woche vor der Stichwahl eine Gruppe geladener Gäste zur feierlichen Eröffnung im Beisein der Präsidentin Michelle Bachelet auf die Einlasskontrolle zustrebte, riefen sie, halb ironisch, halb ernst gemeint: „Geht nur rein, Ihr habt jetzt gerade noch für fünf Tage ein Erinnerungsmuseum.“ Auch wenn nicht klar wurde, wie die Anspielung auf den erwarteten Wahlsieg des rechten Kandidaten Piñera politisch einzuordnen wäre, verstärkte dies bei der Gruppe, allesamt Anhänger der Concertación, wenn auch nicht unbedingt des Kandidaten Frei, ein ungutes Gefühl über die zunehmende Distanz der Regierungskoalition der „arbeitenden Bevölkerung“ gegenüber.

Kleinster gemeinsamer Nenner

Und das, obschon der ansonsten wenig attraktive Kandidat Frei in den letzten Wochen vor der Stichwahl einiges an verlorenem Terrain wieder gutmachen und den monatelangen Abstand in den Umfragen zu Piñera deutlich reduzieren konnte. Eine letzte Umfrage vor der Wahl prognostizierte sogar ein „technisches Patt“. Was allerdings nicht unbedingt an einem dynamischeren Wahlkampf der Concertación lag: Auch zur Stichwahl blieb die Kampagne enttäuschend kraftlos und beschränkte sich eher auf eine „Anti“-Piñera(-und-Rechte)-Strategie, als dass sie deutlicher ein in die Zukunft gerichtetes politisches Projekt für das gesamte Land präsentierte. Auch dies ein Zeichen für den inneren Zustand nach 20 Jahren Regierung.

Insofern passte auch die groß angelegte und inszenierte Eröffnung des Erinnerungs- und Menschenrechts-Museums im Beisein aller ehemaligen Concertación-Präsidenten, eben auch des Kandidaten Frei (Präsident von 1995 – 2000), in diese Strategie des kleinsten gemeinsamen politischen Nenners, den der Widerstand gegen die Diktatur und ihre Überwindung sowie die eindeutige Positionierung gegen die Menschenrechtsverletzungen unter Pinochet darstellt.

Zwischenfall bei Eröffnung des Museo de la Memoria

Bezeichnenderweise irritierte ein weiterer Zwischenfall bei der Eröffnungsfeier des Museums die Präsidentin sichtlich, ebenso wie die über 1.000 Gäste, von denen viele selbst Folteropfer oder Angehörige von Opfern der Dikatur waren: Eine junge Mapuche-Aktivistin kletterte auf eine der Beleuchtungsanlagen inmitten der Zuhörer und unterbrach in offensichtlicher Rage und mit einem Unterton der Verzweiflung die Ansprache der Präsidentin mit ihrer Forderung nach einer – nach zwei Jahren immer noch nicht erfolgten – juristischen Aufarbeitung der Erschießung ihres Bruders durch Carabinero-Einheiten. Selbst wenn Michelle Bachelet schnell wieder die Fassung erlangte und sehr ruhig und klar auf die Zwischenrufe antwortete, sorgte die Szene und die entschiedene Abführung der Störer durch Sicherheitspersonal und Carabineros bei vielen der Anwesenden für Nachdenklichkeit über die möglichen Defizite der Concertación in der Handhabung des seit Monaten eskalierenden Konfliktes mit einigen der Mapuche-Gemeinschaften im Süden des Landes. Dort geht es vor allem um Land- und-Wasser-Konflikte zwischen Mapuche-Gemeinschaften, Nachkommen der ersten Siedlergenerationen seit Mitte des 19. Jahrhunderts und den großen, riesige Flächen beanspruchenden Forstindustrien, die vor allem für den Export produzieren.

Angstkampagne gegen die „Wiederkehr“ der Pinochet-Rechten

Insofern konnte auch die in den letzten Tagen angestrengte Kampagne der Concertación gegen Piñera und die „Wiederkehr“ der Pinochet-Rechten nicht die erwünschte Wirkung erzielen – nicht ganz zu Unrecht bezeichneten einige Beobachter diese „Angstkampagne“ zumindest Piñera gegenüber als nicht besonders fair: Zwar ist unstrittig, dass im Umfeld insbesondere des Koalitionspartners UDI noch ein ordentlicher Bodensatz knallharter Pinochet-Apologeten auszumachen ist und bei den Sieges-Feiern am Sonntagabend konnte auch das ein oder andere Porträt des verstorbenen Diktators ausgemacht werden. Dennoch hat Piñera bei dem Referendum im Jahr 1988 mit dem demokratischen Spektrum gegen eine Fortführung der Diktatur gestimmt, und auch ansonsten immer wieder Ärger mit dem rechteren Teil der UDI gehabt, bis hin zu einer gegen ihn gerichteten Abhöraffäre und sogar einer bis heute ungeklärten Entführung seines damals zehnjährigen Sohnes im Jahr 1993.

Andererseits hat sich Piñera mit einem ausgesprochenen „Realitätssinn“ oder außerordentlichen Opportunismus nie geziert, mit eben diesem Spektrum politisch gemeinsame Sache zu machen, wenn es denn seinen politischen und auch unternehmerischen Interessen dienlich war. So sind die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheitsbewältigung ebenso wie ein nicht öffentliches Treffen mit Offizieren zu einem Ende der juristischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ein Teil seiner politischen Strategie, sowohl nach rechts wie auch in der Mitte zu fischen.

Andererseits unterstrich er am Tag nach der Wahl vor ausländischen Korrespondent_innen die Gültigkeit internationaler Abkommen, die Chile unterzeichnet habe und zu einer juristischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen verpflichte.

Sieg der Konservativen oder Wahlniederlage der Concertación?

Piñera konnte am Sonntag mit 3.563.050 Stimmen ein Plus gegenüber dem Concertación-Kandidaten Frei (3.340.308) verbuchen – ein Zugewinn von über 200.000 Stimmen aus der häufig beschworenen Mitte, aber vielfach auch aus der Wählerschaft Marco Enríquez-Ominamis.

Doch diese Zahlen verdeutlichen zugleich einen anderen Teil der Wahrheit: Gegen einen anderen Kandidaten der Concertación, selbst gegen die Michelle Bachelet des Jahres 2005, hätte Piñera auch dieses Mal verloren – der entscheidende Unterschied liegt in den fast 400.000 Stimmen, die die Concertación mit ihrem Kandidaten Frei gegenüber 2005 verlor – sie versagte vor allem in der Mobilisierung eines bedeutenden Teiles des linksliberalen Spektrums, das schlicht nicht wählen ging oder ungültige Stimmen abgab. Und, vergleicht man Piñeras jetziges Ergebnis mit dem des UDI-Kandidaten Joaquín Lavin in der Stichwahl des Jahres 1999 gegen den Sozialisten Ricardo Lagos, so erzielte Piñera gerade mal rund 60.000 Stimmen mehr.

So hat der Christdemokrat Sergio Micco nicht ganz Unrecht, wenn er feststellt, dass weniger ein Rechtsruck konstatiert werden kann, denn das Paradoxon der Wahl einer rechten Regierung in einer eher linksliberalen Gesellschaft, in der sich die Wählerschaft teilweise aufgrund der nicht automatisierten Wahleinschreibung die Wählerschaft seit den 90er Jahren nicht nennenswert verändert hat und Wahlenthaltung der Enttäuschten den Ausschlag gab.

Piñeras Botschaft der Versöhnung und nationalen Einheit

Dies mag auch ein Grund für den außerordentlich versöhnlichen Tonfall in Piñeras ersten Auftritten am Wahlabend sein. In einem Gratulationstelefonat der Präsidentin mit dem Wahlsieger lobte dieser die Leistung Bachelets und die in ihrer Amtszeit erzielten Erfolge und bat sie um ihren Rat und ihre Unterstützung. Seine Ansprache vor rund 30.000 Anhängern auf der Hauptstraße Santiagos, der Alameda, begann er mit einer Anerkennung der zwanzigjährigen Regierungszeit der Concertación und versprach, viele der begonnenen politischen Projekte und den konsensuierten Politikstil fortzuführen. Er rief zu einer Regierung der nationalen Einheit auf, in die er auch Mitglieder anderer politischer Kräfte, namentlich der Concertación einlud. Damit zielt er, der selbst aus christdemokratischem Hause kommt, vor allem auf die Democracia Cristiana (DC), die damit womöglich vor der Herausforderung stehen wird, zugleich Opposition zu sein und Regierungsmitglieder zu stellen.

Spagat der DC?

Ob insbesondere das progressivere Spektrum der DC diesen Spagat mitmachen wird, ist noch fraglich. Der unterlegene christdemokratische Kandidat Eduardo Frei jedenfalls machte dem Wahlsieger noch am selben Abend seine freundlichste Aufwartung, in einer atemberaubend antiquierten Ästhetik der fünfziger Jahre. Das breite, erleichterte und zugleich gelassene Grinsen Freis auf der Bühne, umringt von Ehefrau, Kindern und Enkeln, so als ob er Teil des siegreichen Wahlbündnisses gewesen sei, irritierte dann doch auch einige Christdemokraten – man fragte sich, wer hier gerade gewonnen und wer verloren hatte.

Für Piñera und sein Wahlbündnis ist dies auf jeden Fall die richtige Strategie, um eine Regierungsperspektive auch über die nächsten vier Jahre hinaus für 2014 zu entwickeln – kein triumphales Geschrei oder rechte Rabauken-Rhetorik, sondern eine gelassene und beinahe demutsvolle Botschaft der Freude und Zuversicht für das ganze Land, eine Botschaft demokratischer Normalität eines Regierungswechsels und vor allem eine Botschaft, dass es nicht wieder zurück in die düstere Zeit der achtziger Jahre gehe. Sarkozy statt Pinochet, könnte man sein Motto beschreiben, und er selbst erwähnt den französischen Präsidenten und seine Politik auch immer wieder als eine Art Vorbild.

Weichspül-Rhetorik

Doch darf die Weichspül-Rhetorik nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Think-Tank der rechten Koalition für den Wechsel, das vom Pinochet-Finanzminister Hernán Buechi mitbegründete Instituto Libertad y Desarrollo (Freiheit und Entwicklung) bereits klare Pläne für die Regierungsübernahme und auch eine Reihe von Gesetzesvorhaben in der Schublade liegen hat. Das jedenfalls teilte der Direktor des Instituts, Cristián Larroulet, noch am Wahlabend in einem Studiogespräch eher beiläufig mit. Larroulet, zu Zeiten der Diktatur im staatlichen Planungsministerium angestellt, wird zurzeit als möglicher Kandidat für das Amt des Kabinettschefs Piñeras gehandelt. Interessanterweise kam die diese Äußerung im Studio des nationalen TV-Sender TVN, nachdem kurz zuvor RN-Senator Andrés Allamand im selben Studio noch erläutert hatte, dass keine Flut an Gesetzesänderungen zu erwarten sei, schließlich habe man als konservative Koalition für den Wechsel im Senat und Abgeordnetenhaus bereits seit Jahren Gesetzesvorhaben der Concertación konsensuiert und sozusagen mitregiert – was zum Einen stimmt und tatsächlich bei Einigen die Hoffnung aufkommen lässt, dass Piñera dies nun seinerseits fortführt, zum Anderen aber auch nochmals erklären mag, warum die Unzufriedenheit vieler Chilen_innen mit der Regierungsarbeit der Concertación und der Mutlosigkeit in vielen Reformvorhaben in den letzten Jahren zugenommen hat.

Dass die in Transitionszeiten und angesichts oftmals unklarer Kongressmehrheiten notwendige Konsens-Strategie im Laufe der Zeit die Concertación technokratisierte und schließlich jeder politischen Vision beraubte, konstatierte am Wahlabend auch die scharfsinnige Carolina Tohá, ehemalige Staatsministerin von Bachelet und Sprecherin des Wahlkampfteams von Frei. Die Ex-Ministerin der Partido por la Democracia PPD gilt als eine der vielversprechendsten Nachwuchskräfte der Concertación und soll nun mit dem Sozialisten Ricardo Lagos Weber, dem Sohn des Ex-Präsidenten und dem ebenfalls jüngeren Christdemokraten Claudio Orrego für einen Neuanfang der Concertación in der Opposition stehen. Mit ihrem Plädoyer für ein Ende der Konsenspolitik zeigte Tohá, dass sie offensichtlich die Sprengkraft erkannt hat, die in Piñeras Kuschelkurs für die Concertación steckt: Lassen sich Exponenten der Concertación auf eine Regierungsbeteiligung a la Sarkozy ein, könnte einzelnen oder allen Parteien der Concertación, allen voran der kleinen PPD, das gleiche Schicksal wie den französischen Sozialisten drohen – ohne das zugleich ein chilenischer Cohn-Bendit auszumachen wäre.

Das “Phänomen” Marco Enríquez-Ominami

Denn Marco Enríquez-Ominami enttäuschte nicht nur mit einer vor der Wahl abgegebenen, windelweichen Wahlempfehlung für Frei, die niemandem – und am wenigsten ihm selbst – nutzte, sondern auch mit einem Interview am Wahlabend, das an nörgeliger Selbstbezogenheit und Unklarheit über den weiteren Verlauf seines politischen „Projektes“ kaum noch zu übertreffen war. In welche Richtung er sich programmatisch mit seinem Parteigründungsprojekt orientieren will, ist nicht auszumachen. Auch nicht, ob es letztlich überhaupt eine Partei nach gängigen Vorstellungen werden soll oder doch eher eine Plattform für verschiedene politische Strömungen, möglicherweise auch für die in Gründung befindliche grüne Partei Chiles.

Zugestanden werden muss jedoch, dass die nun beginnende Umbruchphase selbst für die mit Abgeordneten und Senatoren institutionell verankerten Concertación-Parteien außerordentlich schwierig und auch gefährlich werden kann; umso mehr für ein politisches Projekt, das nur aus der außerparlamentarischen Opposition heraus agieren kann. Doch dies hat MEO nun selbst zu verantworten, denn er hat es bis zum Schluss abgelehnt, seinen 20-Prozent-Stimmenanteil in die politische Waagschale zu werfen und im Gegenzug für eine echte Wahlempfehlung für Frei um eine andere Politik und auch mögliche Posten zu verhandeln.

Abschied von der Macht – auf lange Zeit?

Die größte Hoffnungsträgerin ist, zumindest für die sozialistische Partei, immer noch die amtierende und ab dem 11. März Ex-Präsidentin Michelle Bachelet, die ihre Zustimmungsraten nochmals auf rund 85 Prozent verbessern konnte. Auch wenn derartige Vergleiche ihre Tücken haben, so drängt sich doch die Erinnerung an die letzten Wochen Bill Clintons vor der Amtsübergabe an seinen Nachfolger auf: Ein wenig Nostalgie schwingt in solchen Umfrageergebnissen schon mit, selbst wenn Piñera, um fair zu bleiben, ansonsten eher nicht mit dem unbeliebtesten US-Präsidenten seit Jahrzehnten in einen Topf geworfen werden kann. Doch ob Bachelet in vier Jahren noch dieselbe Strahlkraft hat wie zur Zeit, und erst recht, ob sie in der Lage ist, in den „Niederungen“ der Parteireorganisation in der Opposition zu überleben, ist äußerst ungewiss. Die notwendige Erneuerung aller Concertación Parteien bezieht sich nicht nur auf eine Redemokratisierung der Parteistrukturen und der Verabschiedung der alten, „strippenziehenden“ Männer in den Vorständen, sondern auf einen demokratischen Streit um neue Visionen und eine programmatische Erneuerung – insbesondere auf die großen Herausforderungen wie die ökologische und soziale Transformation Chiles und der Region. In Zeiten paralleler globaler Krisen müssen die Parteien der Concertación Antworten finden, die über ein rein technokratisches Interessensmanagment hinausgehen.

Piñeras Aktienkurse

In Sachen Interessensmanagment könnte der Druck auf den mittlerweile bereits als Präsidenten des Bicentenario bezeichneten Piñera bald wachsen: Noch hat er entgegen mehrfachen Beteuerungen und Versprechen seine zahlreichen Unternehmensbeteiligungen, u.a. an der chilenischen Fluglinie LAN, nicht veräußert, und prompt stiegen am Tag nach der Wahl die Aktienkurse der Fluglinie wie auch des Unternehmens, das Piñeras Anteile an LAN managt, um satte 8 Prozent. Falls er seine Anteile nun doch noch vor dem 11. März verkauft, wird er jedenfalls mit einem anständigen Gewinn honoriert. Zu dieser Angelegenheit war aus dem Umfeld des Wahlsieger nichts zu vernehmen, auch nicht, ob schließlich nicht doch eher das Modell einer Treuhandgesellschaft für die Zeit seiner Präsidentschaft gewählt würde, und erst recht nicht, ob mit der anhaltender Unklarheit nicht grundsätzlich auf Dauer ein unzulässiger Interessenskonflikt angelegt sei. Der Präsident des Bicentenario wird sich jedenfalls daran gewöhnen müssen, dass seine wirtschafts- und unternehmenspolitisch relevanten Entscheidungen sehr genau beobachtet werden.

Plurale Medienlandschaft

Dazu zählt auch der weitere Umgang mit der Regierungszeitung La Nacion, zurzeit de facto die einzige landesweite Tageszeitung, die kräftig für die Concetración trommelt, und nicht offen für Piñeras politisches Lager wirbt – die privaten Blätter El Mercurio und La Tercera stehen fest hinter Piñera. Sollte La Nacion in der bisherigen Form als Regierungsblatt weiter geführt werden, oder auch nur in die Selbstfinanzierung entlassen werden, bedeutet dies, abgesehen von den Regional- und Lokalzeitungen das Ende der Minimal-Pluralität in den landesweit erscheinenden Printmedien. Ebenso wird genau hingesehen werden müssen, was die neue Regierung mit dem bislang mehr oder weniger ausgewogen besetzten staatlichen Fernsehsender TVN vorhat: Piñera ist als bisheriger Eigentümer eines anderen großen, privaten Kanals, Chilevisión, bereits überdurchschnittlich gut positioniert, auch wenn Journalist_innen von Chilevisión anerkennen, dass er selbst noch nie in der politischen Berichterstattung interveniert hat. Doch im Regierungsalltag mit seinen unvorhersehbaren kleinen und großen Krisen könnte die Versuchung wachsen.

Piñeras Außenpolitik

Außenpolitisch bis auf seine persönliche Freundschaft zu Uribe bisher eher ein unbeschriebenes Blatt, äußerte sich Piñera am Montag nach der Wahl vor Korrespondent_innen diplomatisch zum außen- und regionalpolitischen Kurs seiner Regierung. Mit Blick auf die Wahlen in Brasilien erklärte er, dass er selbstverständlich die demokratische Entscheidung Brasiliens respektieren werde, jedoch sehr deutlich machen wolle, dass die Popularität eines Präsidenten eine Sache sei und die Notwendigkeit eines Wechsels in einem Land eine andere. Piñeras politische Referenz in Brasilien ist der derzeitige Gouverneur São Paulos und in Umfragen führende Kandidat der Sozialdemokraten, José Serra.

Allerdings unterstrich er seine Hoffnung auf „fruchtbare“ Beziehungen vor allem mit den Nachbarländern Chiles Argentinien, Peru und Bolivien und fügte sogleich hinzu, dass Argentinien und Brasilien zu den ersten Ländern zählten, die er nach der Amtsübernahme besuchen werde. Bezüglich möglicher Differenzen mit der argentinischen Regierung gab er zu, dass es selbstverständlich politische Differenzen gebe, die er nicht weiter ausführen wolle, die aber seinerseits zumindest keinerlei Hindernis im gemeinsamen Integrationsprozess darstellen würden.

Diese eher knappen Ausführungen lassen vermuten, dass Piñeras Chile zwar nicht in eine regionale Isolation strebt, aber doch die wirtschaftlichen Integrationsinteressen in den Vordergrund stellen will – was zunächst nicht stark vom Kurs der Concertación-Regierung in den neunziger Jahren differiert. Doch im Vergleich zu Bachelets aktiver Rolle und klaren Positionierungen in verschiedenen regionalen Krisen ist der Bruch bereits jetzt klar abzusehen. Brasilia und Buenos Aires können sich nicht mehr darauf verlassen, dass Chile in Fällen wie dem Putsch in Honduras gemeinsam und unzweideutig Position bezieht.

Das Ende einer Epoche

Auch wenn möglicherweise nicht alles anders wird und sich die Equipe des neuen Präsidenten nach Kräften bemüht, den Wandel in Kontinuität zu unterstreichen, ist vielen Chilen_innen, trotz der zunehmenden Unzufriedenheit mit der Concertación, am Tag nach der Wahl dann doch eine gewisse Irritation über die plötzliche Erkenntnis anzumerken, dass nun eine Epoche zu Ende geht.

Vor allem im Regierungslager ist die Stimmung mehr als gedämpft; wie viele Posten nun zur Disposition stehen werden und wo sich den Betreffenden neue Perspektiven eröffnen werden, ist nach beinahe 20 Jahren Regierungsmacht noch nicht wirklich klar. Eine Zahl geisterte am Wahlabend noch durch die Medien, angeblich müssten oder könnten 1.300 Posten neu besetzt werden. Viel Zeit zum Lamentieren bleibt jedoch nicht: In sechs Wochen beginnt der Oppositionsalltag.

Michael Álvarez ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung für das Cono Sur in Chile.