Das Atomprogramm der Lula-Regierung

Kernkraftwerk Angra dos Reis: Harmlos sieht es aus für den europäischen Betrachter, fast wie eine Moschee, fehlen doch die für hiesige Kernkraftwerke so typischen Kühltürme...  Der Schein trügt, das KKW Angra liegt in einem erdbebengefährdeten Gebiet, die verbrauchten Brennelemente strahlen auf seinem Gelände weiter und seine Reaktoren sind veraltet.
Foto: Rodrigo Soldon. Dieses Foto steht unter einer Creative-Commons-Lizenz
Teaerfoto: Agência de Notícias do Acre. Dieses Foto steht unter einer Creative-Commons-Lizenz.

25. Januar 2010
Nach Informationen von Sérgio Dialetachi

Nach Informationen von Sérgio Dialetachi

Der Bau des 3. Atomreaktors in dem Küstenstädtchen Angra dos Reis, zwischen Rio de Janeiro und São Paulo gelegen (Angra 3), ist Teil des brasilianischen Energieplans 2007 – 2016. Der Reaktor sollte ursprünglich im September 2014 in Betrieb genommen werden. Inzwischen ist von Juli 2015 die Rede. Der Baubeginn war zunächst für September 2009 vorgesehen und später auf Februar 2010 verschoben worden. Noch fehlt die Baugenehmigung der nationalen Atomenergiebehörde CNEN - die Staatsanwaltschaft von Angra dos Reis hatte die die bereits 2009 von der Regulierungsbehörde erteilte Teilgenehmigung für ungültig erklären lassen. Die Entscheidung des Richters steht noch aus, die staatliche Betreiberfirma Eletronuclear zeigte sich aber zuversichtlich, dass die gesetzlichen Hürden bis Februar zu beseitigen sein.

Lanfgfristiges Atomprogramm der Lula-Regierung bis 2030

Das Atomprogramm der Regierung Lula ist jedoch sehr viel umfassender und Teil des nationalen Energieplans bis 2030. Vorgesehen sind zwei neue Atomkraftwerkkomplexe: einer im Nordosten des Landes, der andere im Südosten. Jeder dieser Komplexe soll zunächst aus zwei Reaktoren bestehen, die auf jeweils sechs Reaktoren ausgeweitet werden können.

Die Entscheidung für den Standort des geplanten Reaktorkomplexes im Nordosten ist bereits gefallen. Laut Setorial News Energia vom 19.01.10 hat die staatlichen Gesellschaft Eletronuclear die Untersuchungen abgeschlossen und in den vier Bundesstaaten Bahia, Alagoas, Sergipe und Pernambuco die Mikroregionen für den Nordost-Standort festgelegt. Genaue Informationen, um welche Orte es sich handelt, sollen aber erst nach einer weiteren Qualitätskontrolle im Februar an Eletrobrás und das Ministerium für Bergbau und Energie weitergegeben und veröffentlicht werden. Eine politische Entscheidung soll im März fallen. Laut eines Artikels vom 14.01.10 in der Tageszeitung Folha de São Paulo favorisieren die Untersuchungen den São-Francisco-Fluss als möglichen Standort.

Der São Francisco ist bereits ein wesentlicher Baustein im brasilianischen Wachstumsbeschleunigungsprogramm PAC. Die Umleitung des Flusses in die semiariden Gebiete der vier nordöstlichen Bundesstaaten Pernambuco, Ceará, Paraíba und Rio Grande do Norte ist eines der umstrittensten Großprojekte der Regierung Lula. Doch ungeachtet der Proteste zahlreicher sozialer Bewegungen wird zügig gebaut. Der erste Teil dieses Megaprojektes soll bis Ende 2010 eingeweiht werden.

Der Bau von Atomkraftwerken am Ufer des São Francisco wurde bereits in der Vergangenheit durch die Nationale Kommission für Atomenergie (CNEN) favorisiert, noch bevor die Regierung entschied, bis 2030 zwei weitere Atomkraftwerke im Nordosten zu bauen. Ein wesentliches Argument ist neben der Verfügbarkeit von Wasser die Tatsache, dass der Nordosten Investitionen anziehen soll, um das Einkommen der Region zu erhöhen.

Gouverneure befürworten Investitionen

Da es für die Standortbestimmung keine brasilianischen Normen gibt, wurden internationale Kriterien, nämlich die des Electric Power Research Institute (EPRI) herangezogen. Abgesehen von ausreichend Kühlwasser spielen die stabile geologische Struktur, die Nähe zu Stromnetzen, eine niedrige Bevölkerungsdichte und das Vorhandensein einer angemessenen Infrastruktur, wie z.B. Straßen, eine Rolle. So technisch und unparteiisch der gesamte Auswahlprozess auf den ersten Blick scheinen mag, die endgültige Entscheidung für den Standort - da sind sich alle Beteiligten einig - ist eine politische. Die Gouverneure aller vier Bundesstaaten des Nordostens, die als Standorte in Frage kommen, zeigten bereits großes Interesse. Nicht nur die drei Gouverneure, die den Parteien der Lula-Regierung angehören, sondern auch der Gouverneur von Alagoas von der Oppositionspartei PSDB. Sein Bundesstaat weise den niedrigsten Index für die menschliche Entwicklung ganz Brasilien auf und sei deshalb am dringendsten auf Investitionen angewiesen.

Die Untersuchungen zu möglichen Standorten für die geplanten Atomkraftwerke in der Region Südosten sollen noch in diesem Jahr beginnen.

Atomprogramm ermöglicht

Der geplante Baubeginn für das Kernkraftwerk Angra 3 sowie die beiden geplanten Kraftwerke im Nordosten sind allerdings nur die Spitze des atomaren Eisbergs. Die brasilianische Umweltbewegung weist schon seit Jahren auf sehr viel weiter reichende Pläne der einheimischen Atomindustrie hin. Fakt ist: Der Bau neuer Reaktoren verlangt die Erhöhung der Produktion von Brennelementen, also auch die Ausweitung des nationalen Uranabbaus und bessere Technologien für die Urananreicherung. Inwieweit damit eine auch militärische Nutzung möglich ist, veranschaulicht der Fakt, dass der Bau des ersten brasilianischen Atom-U-Bootes zwischen 2015 und 2020 bereits konkret geplant ist.

Weitere Bestandteile des Atomprogramms der Regierung Lula sind der Bau eines Atommüll-Endlagers bis 2018 und der Bau eines neuen Forschungsreaktors bis 2014, wahrscheinlich an der staatlichen Universität von Pernambuco (UFPE). Bislang gibt es in Brasilien bereits vier Forschungsreaktoren.

Zersplitterung des Widerstandes der sozialen Bewegungen

Die brasilianische Atomindustrie hat ein hohes Interesse daran, möglichst schnell möglichst viele Teilstücke des Atomprogramms umzusetzen, um Fakten zu schaffen. Besonders seit Beginn der Lula-Regierung wird dazu eine Reihe von offensiven Strategien angewandt:

Um den Widerstand der sozialen Bewegungen zu spalten, werden die Projekte mit großer Schnelligkeit umgesetzt und das an verschiedenen Fronten gleichzeitig. Die Atomlobby investiert zudem vermehrt in die öffentliche Meinung - ganz besonders in die Werbung- und speziell auch in Forschung und Wissenschaft. Dadurch sollen wichtige Sektoren der Gesellschaft wie Akademiker_innen, Journalist_innen und Parlamentarier_innen gewonnen werden.

Eine andere Strategie besteht darin, die lokale Bevölkerung für sich zu gewinnen und so erst gar keine Opposition entstehen zu lassen. Die Industrie übernimmt soziale Verantwortung und stellt Fortschritt und Entwicklung in Form von Arbeitsplätzen, Bonuszahlungen oder Gewinnbeteiligungen in Aussicht.

Widerlegte Erfahrungen

Drausio Lima Atala, der zuständige Leiter für neue Kraftwerke bei Eletronuclear, rechnet vor, dass die Kraftwerke in Angra dos Reis Steuereinnahmen in Höhe von 500 Millionen Reais eingebracht und Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen hätten. Er ist nicht der einzige, der überzeugt davon ist, dass der Bau der Atomkraftwerke die Entwicklung im Nordosten lawinenartig vorantreiben wird. Eine nachhaltige Entwicklung wird das mit Sicherheit nicht sein, nicht einmal in Bezug auf die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Erfahrung mit deutschen Kernkraftwerken hat dieses Argument schon seit Jahrzehnten widerlegt.

 

Sérgio Dialetachi berät das Büro Brasilien der Heinrich-Böll-Stiftung zu Atomkraft-Fragen

 

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