Am Ende war es eine peinliche Niederlage für die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff. Nach monatelangem Hin und Her nahm das Abgeordnetenhaus in Brasília am 26. Mai mit 410 zu 63 Stimmen das neue Waldgesetz an, den so genannten Código Florestal. Die Mehrheit der Abgeordneten der Mehrparteienkoalition Rousseffs stimmte für das Gesetz und damit gegen die eigene Regierung. Die Abstimmung im Abgeordnetenhaus setzte ein Semikolon hinter eine jahrelange politische Auseinandersetzung: In der Kritik standen und stehen insbesondere die Amnestien für alle illegalen Abholzungen vor Juli 2008 und für Landeigentum bis vierhundert Hektar, also der Dispens von der Auflage, illegal entwaldete Fläche wieder aufzuforsten. Das neue Gesetz erklärt illegale Rodungen von geschützter Flussufervegetation teilweise für rechtmäßig. Der Código Florestal schreibt jedem Landeigentümer vor, einen Anteil seiner Flächen als Naturreservat (Reserva Legal) vorzuhalten. Dieser Anteil liegt seit 1996 im Regenwald des Amazonas bei achtzig Prozent, das neue Gesetz erlaubt nun, diesen Anteil auf fünfzig Prozent zu mindern.
Der Sieg ging klar an die Agrarlobby. Sie hat sich im Parlament zur so genannten bancada ruralista organisiert. Zu diesem vielleicht bestorganisierten interfraktionellen Parlamentierverbund zählen 141 Bundesabgeordnete und 18 Senatoren. Dass die bancada seit Jahren – und nun mit einem ersten großen Erfolg – gegen das geltende Waldgesetz Sturm lief, hatte einen einfachen Grund: Die Regierungen von Fernando Henrique Cardoso und Lula da Silva hatten begonnen, die darin enthaltenen Schutz- und Sanktionsbestimmungen auch umzusetzen. Der Druck auf die großen Agrarbetriebe wuchs. Insbesondere die Strafzahlungen für die vielen illegalen Entwaldungen vor Juni 2008 rückten jetzt in den Bereich des Möglichen.
Die noch gültige Fassung von 1965 setzte fest, dass in Amazonien die Hälfte jedes privaten Landeigentums geschützt ist. Wer mehr rodet, muss wiederaufforsten. In der Praxis jedoch hatte Brasilien dreißig Jahre später Entwaldungsraten wie nie zuvor. Sie erschreckten die Welt. Und veranlassten den damaligen Präsidenten Cardoso, per Dekret die Reservatsanteile so festzulegen, wie sie heute gültig sind. Außerdem begannen die Behörden, illegale Holzeinschläge stärker zu verfolgen und Landbesitzer zum Beispiel mit Kreditrestriktionen zu belegen, wenn sie sich Umweltauflagen nicht fügten. Der Druck auf die großen Agrarbetriebe wuchs. Insbesondere Strafzahlungen für illegale Entwaldungen vor Juni 2008 rückten jetzt in den Bereich des Möglichen.
Die Agrarlobby behauptete, die alte Gesetzesfassung sei überholt und bilde weder die Modernisierungserfolge in der Landwirtschaft, noch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse oder die Realität auf dem Land ab. Die bestehenden Regelungen und drohenden Strafzahlungen kriminalisierten produktive Bauern und zwängen sie, produktive Anbauflächen einzuebnen. Das bedrohe gerade die kleinen unter ihnen in ihrer Existenz und verhindere insgesamt das nötige Wachstum der Landwirtschaft, der es an Anbauflächen fehle. Weitere Abholzungen würde die geänderte Gesetzesfassung nicht erlauben, sondern sie nur legalisieren.
Damit ist vor allem gemeint, dass viele Landbesitzer in den letzten Jahrzehnten fortlaufend gegen das geltende Gesetz gerodet haben. Je nach Breite des Flusses müssen zwischen 30 und 500 Meter Ufervegetation auf jeder Uferseite unangetastet bleiben. Daran wurde sich nicht gehalten. Außerdem wurde auf Berggipfeln und -hängen mit mehr als 45 Grad Neigung gerodet, was ebenfalls verboten ist.
Umweltexperten und Ökonomen haben längst nachgewiesen, dass es an Anbauflächen nicht fehlt und nicht fehlen muss: Auf 61 Millionen Hektar bestellbaren fruchtbarem Landes hat sich eine extrem unrentable extensive Viehwirtschaft ausgebreitet. Auch von einer Existenzbedrohung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft kann nicht die Rede sein, da weniger als fünf Prozent der heutigen landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus den sogenannten Permanenten Schutzgebieten an Flussufern und Hängen stammen. Führende Wissenschaftsinstitutionen wie die Brasilianische Wissenschaftsakademie haben sich für die alte Gesetzesfassung ausgesprochen. Forscher dreier Universitäten in São Paulo haben in der Zeitschrift Science davor gewarnt, dass das neue Gesetz die Biodiversität verringern, die Gefahr von Erosion und Überschwemmungen erhöhen und insgesamt die CO2-Emissionen erhöhen würde. Das renommierte Wirtschaftsforschungsinstitut Ipea bezifferte die entgangenen Emissionseinsparungen durch Senken (vor allem Wälder werden als Senken bezeichnet) auf 18,6 Gigatonnen und warnte, dass Brasilien wohlmöglich seine Emissionsziele nicht fristgemäß einhalten kann.
Eine Amnestie macht weitere illegale Abholzungen umso wahrscheinlicher. Und das wichtigste zentrale Argument, der Schutz der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, greift auch nicht: Die wichtigsten Landarbeitergewerkschaften, kleinbäuerlichen Verbände und sozialen Bewegungen haben sich gemeinsam klar gegen das neue Gesetz und für die Aufrechterhaltung der Naturschutzgebiete ausgesprochen. Die Befreiung von der Auflage, illegal entwaldete Flächen wieder aufzuforsten, zielt gar nicht in erster Linie auf Kleinbetriebe. Sie gilt für bis zu vier Flächen der so genannten Fiskalmodule. Diese sind in Brasilien unterschiedlich groß, nur fünf Hektar in Gebieten des entwickelteren Südens und bis zu 100 Hektar in Amazonien. 400 Hektar oder vier Quadratkilometer Land kann man wahrlich nicht mehr einen kleinbäuerlichen Acker nennen. Zudem lädt diese Regelung Großbetriebe dazu ein, sich in Einheiten von je vier Modulen zu teilen und dadurch die amnestierte Fläche zu vervielfachen.
Das neue Waldgesetz schafft nicht nur umweltschädigende Fakten. Es bringt einen Paradigmenwechsel in Gesetzesform. Das bisherige Gesetz gab dem Waldschutz und der nachhaltigen, extraktiven Nutzung des Waldes, etwa durch Sammeln von Waldfrüchten, Kautschukgewinnung und selektivem oder genau kontrolliertem Holzeinschlag, viel mehr Gewicht. Die Fassung, die nun im Abgeordnetenhaus angenommen wurde, verleiht dagegen jener Entwicklungslogik Gesetzeskraft, die unter der Regierung Lula mit Macht zurückgekehrt ist: Steigerung des Bruttosozialprodukts und damit staatlicher Einnahmen, die unter anderem zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden können. Der Anker dieses Modells ist die staatlich gestützte Produktion und Exportleistung. Diese kann nur durch intensive und in Großprojekten organisierte Ausbeutung und Vermarktung von Rohstoffen und Agrarprodukten, welche hauptsächlich für den Export bestimmt sind, stattfinden. Die Region Amazoniens ist für dieses Konzept zentral: Sie ist die letzte Grenzregion Brasiliens, wo die Rohstoffe, die neuen Anbau- und Weideflächen und die energetische Zukunft des Landes liegen.
Hier liegt der Zusammenhang zwischen Waldgesetz, und dem, was man das „Gesetz des Waldes“ nennen könnte. Denn dieses Entwicklungsmodell wird mit Gewalt durchgesetzt. Am Tag der Abstimmung im Abgeordnetenhaus wurden José Claudio Ribeiro da Silva und seine Frau Maria do Espírito Santo, zwei bekannte Waldfrüchtesammler und Waldschützer im Amazonasgebiet, von Auftragskillern erschossen. In den Folgetagen wurden im Amazonasgebiet drei weitere Landarbeiteraktivisten ermordet. Vier der fünf Ermordeten lebten in Pará, dem Bundesstaat, in dem die Motorsäge und die Pistole am häufigsten gezückt werden. Nach neuesten offiziellen Zahlen kam es in Pará von 2001 bis 2010 zu 219 Morden im Zusammenhang mit der Landfrage. Das ist mehr als die Hälfte der 401 Fälle in Gesamtbrasilien.
Pará, ein Gebiet im Osten des brasilianischen Amazonasdeltas, ist nach dem Bundestaat Amazonas der zweitgrößte Bundesstaat. In diesen riesigen Territorien ist „Staat“ noch immer eine weitgehend virtuelle Größe, Rechtsstaat eine papierne Referenz, das staatliche Gewaltmonopol eine Fiktion. Nach Regierungsangaben sind in Brasilien 100 Millionen Hektar Land, eine Fläche fast dreimal so groß wie Deutschland, illegal angeeignet. Zwar hat sich einiges gebessert in den letzten Jahren, aber noch immer sind Behörden wie Umweltämter oder die Polizei personell unterbesetzt und schlecht ausgerüstet und daher nicht in der Lage, effektive Kontrollen durchzuführen und geltendes Recht durchzusetzen,- wenn sie denn überhaupt wollen und dürfen. Die private ökonomische Macht – also die Verfügung über großen Grundbesitz – übersetzt sich hier direkt in politische Macht, vor allem in effektive Kontrolle von Wählerstimmen. Politiker und Inhaber öffentlicher Ämter tauschen bei den Inhabern der ökonomischen Macht politische Unterstützung gegen Vorteilsgewährung ein. Das kann eine illegale Landzuteilung sein, eine Besitzurkundenfälschung. Landesministerien genehmigen überzogene Subventionen, Bürgermeister und Polizeichefs drücken die Augen zu, wenn der Landbesitzer Konflikte nach „eigenem Gesetz“´ löst. 98 Prozent der Morde auf dem Land in Pará sind unaufgeklärt – eine fast lupenreine Straflosigkeit.
450 Jahre seiner bisherigen 510-jährigen Geschichte war Brasilien ein Agrarland. Diese patrimonialen und klientelistischen Strukturen – die brasilianische Soziologie spricht hier von coronelismo – hat es nicht nur immer gegeben, sie prägen das politische Leben in Brasilien bis heute. In Amazonien ist der coronelismo höchst lebendig. Begünstigt werden diese Verhältnisse durch das politische System Brasiliens, das Wahlkämpfe auf Personen statt Parteien und Programme abstimmt und den Siegern viel Einfluss gerade in den „eigenen“ Wahlkreisen zubilligt.
Nun muss das Gesetz noch durch den Senat. Dort hofft die Regierung, einige der umstrittenen Punkte wieder rückgängig zu machen oder zumindest abzumildern. Aber die Logik der Regierungspolitik selbst hat die Kräfte gestärkt, die das neue Waldgesetz nun durchsetzen. Und dieselbe Logik fördert damit, wenn auch vielleicht ungewollt, jene Strukturen, die das „Gesetz des Waldes“ wirken lassen.
Dawid Danilo Bartelt ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.