Einführung
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Die Parlamentswahlen im Libanon am 7. Juni 2009 dürften zu einem Wendepunkt für das Land werden, das seit der Ermordung von Ex-Ministerpräsident Rafik Hariri im Februar 2005 von Krise zu Krise taumelt. In den letzten vier Jahren erlebte der Zedernstaat zahlreiche politische Morde und Bombenanschläge, einen einmonatigen, verheerenden Krieg mit Israel und mehrwöchige Gefechte zwischen der libanesischen Armee und radikal-islamischen Gruppierungen im nordlibanesischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared. Im Dezember 2006 begann die Opposition einen unbefristeten Sitzstreik in der Beiruter Innenstadt. Der Streik und die daraus folgende politische Polarisierung legten die wichtigsten Institutionen des Landes lahm und verstärkten die Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Am 7. Mai 2008 kam es dann zu einer Eskalation der Gewalt und zur Besetzung von Westbeirut durch die Hisbollah. Dieses Ereignis war ein Alarmsignal, nicht nur für die beiden politischen Lager im Libanon, sondern für die ganze arabische Region und die internationale Gemeinschaft. Um ein katastrophales Abgleiten der Situation in einen Bürgerkrieg zu verhindern, wurde in Katar das Abkommen von Doha ausgehandelt, das am 21. Mai 2008 von allen großen politischen Parteien des Libanons unterzeichnet wurde und neue politische Spielregeln für die Konfliktparteien etablierte. Das Doha-Abkommen hatte drei wichtige Resultate (zumindest im Hinblick auf die Parlamentswahlen 2009): die Wahl eines neuen Präsidenten (des ehemaligen Armeechefs Michel Suleiman), nachdem das Amt zuvor trotz zahlreicher Vermittlungsversuche zwischen den Parteien monatelang unbesetzt war, die Gründung einer Regierung der Nationalen Einheit, in der die Opposition ein Vetorecht im Kabinett erhielt, und schließlich die Einführung eines neuen Wahlsystems auf der Basis des vor dem libanesischen Bürgerkrieg geltenden Wahlrechts von 1960.
Die für den 7. Juni 2009 angesetzten Parlamentswahlen werden sich zweifelsohne stark auf den politischen Machtkampf im Libanon auswirken. Der Urnengang wird entweder zu einer Neuordnung der Machtstrukturen und einer Verschiebung der politischen Allianzen im Land führen, oder aber zu einer Fortsetzung der derzeitigen politischen Stagnation, weil beide Seiten alle wesentlichen Gesetzesvorschläge und Reformen blockieren können.
Beiden Lagern geht es bei den Wahlen 2009 darum, möglichst viele Mandate zu gewinnen und sich die Vormacht im Parlament zu sichern, damit sie ihre Zukunftsvorstellungen für den Libanon umsetzen können. Für beide Seiten steht also viel auf dem Spiel. Das pro-westliche Bündnis des 14. März unter Führung von Saad Hariri (Future Movement) und dem Drusen Walid Dschumblatt bemüht sich um die Bestätigung durch die Wähler nach den wenig ruhmreichen Ereignissen des 7. Mai (weitverbreitet als „schiitische Besetzung von sunnitischem Territorium“ gesehen) und der Freilassung der vier als Hauptverdächtige im Mordfall Rafik Hariri inhaftierten Generäle im April 2009 auf mehrfache Forderung des Bündnisses, welche Zweifel am internationalen Tribunal aufkommen ließ. Für die Opposition, deren wichtigste Parteien die Hisbollah und das Free Patriotic Movement (angeführt von Michel Aoun) sind, geht es bei den Wahlen darum, die Anzahl ihrer Sitze im Parlament zu erhöhen und ihren Einfluss in den staatlichen Institutionen zu verstärken (wobei allerdings nur schwer zu sagen ist, inwieweit die Hisbollah tatsächlich hieran interessiert ist – siehe nähere Ausführungen weiter unten), sowie im Fall der Hisbollah um den Schutz ihrer Waffen.
Besonders bemerkenswert an den bevorstehenden Wahlen dürfte jedoch die Tatsache sein, dass der eigentliche Wahlkampf hauptsächlich in den christlichen Distrikten stattfindet, die letztlich über den Ausgang entscheiden. In den meisten muslimischen Bezirken steht das Ergebnis praktisch im Voraus fest, weil zu erwarten ist, dass die Mehrheit der schiitischen Wähler für die Hisbollah stimmt, während die meisten Sunniten das Future Movement wählen und die Drusen Walid Dschumblatt treu bleiben. Die Christen dagegen haben keinen dominanten Anführer und verteilen ihre Sympathien auf mehrere Parteien in vielen Bezirken. Das mit der Hisbollah verbündete Free Patriotic Movement (FPM) – offiziell eine säkulare Partei, die jedoch mehrheitlich von Christen unterstützt wird – tritt im Wahlkampf gegen die christlichen Parteien des 14. März an, in erster Linie die Lebanese Forces und die Kataeb.
Hinzu kommt, dass sich das im Doha-Abkommen vereinbarte Wahlsystem äußerst vorteilhaft für die Christen auswirkt. Im Gegensatz zum alten System, bei dem die christlichen Kandidaten in größeren Bezirken Wahlbündnisse mit muslimischen Parteien eingehen mussten, werden unter dem neuen Wahlgesetz die meisten christlichen Parlamentsabgeordneten ihr Mandat christlichen Wählern verdanken und nicht auf die Stimmen muslimischer Wähler angewiesen sein.
Der eigentliche Wahlkampf wird deshalb in folgenden Bezirken stattfinden:
- Bezirken, in denen die Christen sehr stark in der Mehrheit sind (Jbeil, Kisirwan, Metn, Batroun, Koura, Jezzine und Bezirk 1 Beirut)
- Bezirken, in denen die Christen in der Mehrheit sind und in denen andere Religionsgemeinschaften wesentliche Minoritäten bilden (Zahle und Baabda).
Es wird erwartet, dass das Free Patriotic Movement (FPM) die meisten Sitze in den christlichen Wahlbezirken gewinnt. Das heißt, wenn die von der Hisbollah angeführte Opposition als Sieger aus den Wahlen hervorgeht, hat sie das nicht nur ihrer weit verbreiteten Popularität zu verdanken, sondern vor allem auch ihrer strategischen Allianz mit der FPM von Michel Aoun, der wichtigsten christlichen Partei im Libanon.
Die Politik der arabischen Länder in der Region, die seit jeher einen starken Einfluss auf die internen Kräfteverhältnisse und lokale Allianzen im Libanon hat, spielt eine zentrale Rolle in den politischen Erwägungen beider Lager, des Bündnisses des 14. März und der Opposition. Insbesondere die Spannungen zwischen den Ländern der so genannten Iran-Syrien-Achse und den von den USA unterstützten „gemäßigten Staaten“ Saudi-Arabien und Ägypten – wobei erstere vorwiegend die Opposition unterstützen und letztere den 14. März – spiegeln sich im Libanon wider. Einer der Hauptstreitpunkte zwischen den beiden Lagern ist deshalb die Frage, ob man eine mehr oder weniger gemäßigte Außenpolitik verfolgt (vom 14. März befürwortet) oder ob man sich aktiv am bewaffneten Widerstand gegen Israel beteiligt (von der Hisbollah befürwortet).
Die bevorstehenden Wahlen werden diese Probleme allerdings kaum lösen, vor allem, weil das Ergebnis voraussichtlich sehr knapp ausfallen wird mit einer Differenz von nur zwei oder drei Mandaten. Zwar rechnet man damit, dass die Opposition die meisten Sitze im Parlament erlangen wird, angesichts der vorhergesagten geringen Mehrheit wird jedoch bereits darüber diskutiert, wie sich die Regierung nach den Wahlen zusammensetzen wird und welchen Kurs sie auf lokaler und regionaler Ebene einschlagen wird.
Die folgenden Abschnitte befassen sich mit dem im Doha-Abkommen vereinbarten neuen Wahlsystem, den wichtigsten Gruppierungen bei den Parlamentswahlen am 7. Juni sowie den zentralen politischen Themen im Wahlkampf und gehen abschließend auf die potenzielle Situation nach der Wahl ein.
Doreen Khoury ist Programm-Managerin der Heinrich-Böll-Stiftung im Büro Naher Osten, Beirut