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Eindrücke aus Libyen: Zwischen Bürgerkrieg und Aufbruch

Franziska Brantner (2.v.l.), Hélène Flautre (l.) und Isabelle Duran (2.v.r.) mit libyschen Gesprächspartnern und Sicherheitskräften. Foto: Franziska Brantner Original: Impressionen aus Libyen. Lizenz: CC BY-SA 2.0

4. Oktober 2011
Franziska Brantner
Zusammen mit meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen Hélène Flautre, Isabelle Durant und Yannick Jadot sowie grünen Abgeordneten auf nationaler Ebene aus Frankreich und Belgien besuchte ich vom 20. bis 24. September 2011 Libyen. Ich fand ein Land vor, in dem Unsicherheit und Anspannung den Menschen ebenso ins Gesicht geschrieben war wie ihre Hoffnung und der Wille zum Wiederaufbau.

Ein Land im Krieg

In Libyen wird noch heftig gekämpft. Ein wichtiger Bestandteil der Reise war daher auch der Austausch mit Experten und internationalen Organisationen, die den Konflikt vor Ort beobachten und seine Folgen zu lindern versuchen. Zu unseren Gesprächspartnern zählten das Amt für humanitäre Hilfe der EU (ECHO), das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das Rote Kreuz und die Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Sie berichteten über die noch anhaltenden Kämpfe in Sirte und Bani Walid, wo sich Anhänger des ehemaligen Machthabers Muammar al-Gaddafi und Kämpfern des Nationalen Übergansrates nach wie vor erbitterte Kämpfe liefern. Das Rote Kreuz hat immer noch keinen Zugang zu Sirte und Bani Walid. [Das hat sich mittlerweile geändert - zu diesem Zeitpunkt hatten Gaddafi Getreue jeglichen Zugang für das Rote Kreuz unterbunden]. Die Zahl der Toten wird mittlerweile mit 30 000 beziffert, 50 000 werden vermisst - wobei von letzteren viele schon seit langem vermisst werden, also schon vor Februar 2011. Die genaue Zahl der Toten ist aber noch nicht erfasst. In Tripolis ist die Versorgung wieder normalisiert, Engpässe gibt es im mittleren Bereich der Krankenhäuser (keine Krankenpfleger zum Beispiel - dies waren typische Aufgaben der eingewanderten Arbeiter, die mit Ausbruch des Krieges geflohen sind).

Noch eindrucksvoller als diese Gespräche mit internationalen Experten waren für mich allerdings die Erfahrungen, die ich selbst machen, sehen und erleben konnte. Wir waren in Tripolis, Misrata, Jefren und Az Zawayi. Der anhaltende Konflikt war auch in den befreiten Teilen Libyens allgegenwärtig. In Tripolis und auf dem Land, überall erinnern Checkpoints, besetzt mit jungen bewaffneten Männern, an die fragile Sicherheitslage. Gelegentlich sieht man auch Konvois vorbeifahren, in denen junge Männer in umgebauten Jeeps an die Front ziehen. Man erzählt uns, diese Milizen sollen möglichst bald wieder aus den befreiten Städten verschwinden. Unter wessen Kontrolle die jungen Männer aber tatsächlich stehen, bleibt unklar.

Die Folgen des Konflikts sind in Misrata besonders deutlich zu sehen. In dieser Küstenstadt im Westen Libyens gab es besonders heftige Kämpfe. Zerstörte und beschädigte Gebäude und Straßen prägen nun das Stadtbild. Das gleiche gilt fuer Az Zawayi. Tripolis blieb dieses Schicksal weitestgehend erspart. Die Schäden sind relativ gering und das Leben ist überraschend schnell zur zumindest oberflächlichen Normalität zurückgekehrt. Nur das ehemalige Herrschaftsareal von Gaddafi, mitten in der Stadt gelegen, ist fast vollkommen zerstört. Die NATO scheint ihre monatelangen Angriffe in der Tat mit zum größten Teil verblüffender - für mich kaum zu glaubender - Präzision ausgeführt zu haben: zwischen zwei vollkommen unbeschädigten Häusern liegt eines in Trümmern - immer wieder sieht man dieses Bild. Andererseits haben wir noch keine Einblicke in Sirte und Bani Walid.

Wie nah der Konflikt noch ist, zeigt sich auch in den Gefängnissen des Landes. Wir haben zwei Gefängnisse, in Misrata und Zaouia, besucht. Das Gefängnis in Misrata wurde interessanterweise von den Rebellen in die Hände von Imamen gegeben - ihrer Aussage nach zum Schutz der Gefangenen vor möglichen Übergriffen der jungen Revolutionäre. Unter den Gefangenen sahen wir ehemalige Armeeoffiziere, hohe Diplomaten des alten Regimes, Söldner und politische Gefangene aus der Geschäftswelt. Die Bedingungen in den Gefängnissen - in Misrata sahen wir das ganze Gefängnis, in Zaouia nicht - wirkten auf den ersten Blick zufriedenstellend. Die Insassen hatten zumindest in Misrata überraschend viel Bewegungsfreiheit und ausreichend Nahrungsmittel. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass einzelne unter ihnen gefoltert wurden, bevor sie ins Gefängnis kamen. Hier sitzen nicht nur einzelne Vertreter des alten Regimes ein, sondern auch hunderte Söldner, die für Gaddafi gekämpft haben. Wir trafen einen jungen Mann aus Darfur. Im Gefängnis erzählt er uns, dass er erst am 21.Juli nach Libyen gekommen sei. Wie für so viele seiner Mitinsassen aus Nigeria, Niger, Darfur und anderen Staaten der Region lautete sein Auftrag: vergewaltigen, plündern, töten.

Ein Land im Aufbruch

So präsent diese Schrecken des Krieges auch noch seien mögen, überall wo wir waren spürten wir Aufbruchsstimmung. Der Wille zum Wiederaufbau und Neuanfang für ein Leben ohne Willkür und in Demokratie ist unübersehbar. Es ist dieser Optimismus der Libyer, der mich am meisten beeindruckt hat.
Der Wandel findet seinen politischen Ausdruck im Nationalen Übergangsrat. Wir trafen uns mit Salah Al Bishari, Vize-Außenminister, aber auch mit den neu gebildeten Räten der Städte Misrata und Jefren. Jefren liegt im Nordwesten Libyens und ist das Zentrum der Amazigh-/Berber-Rebellen. Daneben trafen wir uns auch mit Nichtregierungsorganisationen. Mir lag dabei ganz besonderes ein Treffen mit Frauenrechts-Aktivistinnen am Herzen.

Gebannt blickten unserer Gesprächspartner auf die Regierungsbildung. Der Versuch, eine erste richtige nationale Regierung nach Gaddafi zu formen, erweist sich als ausgesprochen schwierig und zieht sich bereits Wochen hin. Knackpunkte sind dabei insbesondere Religion, Stadt-Land-Konflikte und persönliche Ambitionen. Wir beobachten im Moment einen Machtkampf zwischen extremeren und liberalen Muslimen. Das Golfemirat Katar, das sich an der internationalen Militäroperation gegen Gaddafi beteiligt, scheint dabei intensiv zu Gunsten fundamental-religiöser Kräfte einzugreifen: vor allem indem es Geld, Waffen und Polizeiautos zur Verfügung stellt - das berichteten uns mehrere Gesprächspartner.

Rivalitäten treten aber auch zwischen Vertretern der ländlichen Bergregionen und der städtischen Küstengebiete auf. Hinzu kommen Bestrebungen des Chefs der Übergangsregierung, Mahmud Dschibril, sich in Personalunion zum Premierminister und Außenminister zu machen. Dies trifft nicht nur auf den Widerstand von Benhadj, sondern auch all jenen, die von übermäßiger Machtkonzentration nach 40 Jahren Gaddafi genug haben. [Dschibril hat seither angekündigt, nicht mehr beide Ämter einnehmen zu wollen, sicherlich ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Regierungsbildung]. Dieser vielschichtigen Konflikte zum Trotz scheint allen Beteiligten bewusst zu sein, dass Libyen ohne eine nationale Regierung nicht vorankommen kann.

Eine der dringlichsten Aufgaben der zukünftigen Regierung wird es sein, die vielen Tausend jungen Kämpfer zu entwaffnen und wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Ebenso müssen die staatlichen Strukturen von Grund auf neu aufgebaut werden. In vielen gesellschaftlichen Bereichen herrscht derzeit ein rechtliches und politisches Vakuum. Die Polizei muss vollkommen neu strukturiert werden, um sowohl Vertrauen als auch öffentliche Sicherheit wieder herzustellen.

Gleiches gilt für das Justizwesen, dem in den kommenden Monaten und Jahren eine zentrale Aufgabe zukommen wird: Gelingt es dem neuen Staat nicht, auf rechtstaatliche Weise begangenes Unrecht - egal von welcher Partei es ausging - zügig aufzuarbeiten, könnten viele Menschen das Recht in die eigenen Hände nehmen. Und das in einem Land, das derzeit von Waffen überschwemmt wird. Für Versöhnung braucht es aber selbstverständlich sehr viel mehr als funktionierende Gerichte. Dies ist eine gesellschaftliche Herkulesaufgabe, die im Moment durch das ungewisse Schicksal Gaddafis selbst zusätzlich erschwert wird.

Eine weitere Herausforderung stellt der Aufbau der Zivilgesellschaft, unabhängiger Medien und politischer Parteien dar. Hier war das Interesse unserer libyschen Gesprächspartner an unseren Erfahrungen aus den europäischen Demokratien besonders groß, da sie nach 40 Jahren brutaler Unterdrückung kaum über eigene Erfahrungen verfügen.

Besonders kritisch ist dabei natürlich auch die Frage, welche Rolle Frauen in der neuen libyschen Gesellschaft spielen werden. Frauenrechts-Aktivistinnen sind gerade dabei, sich zu organisieren. Sie berichteten uns von der Gewalt, die während der Kämpfe von Gaddafi-Anhängern gegen Frauen verübt wurde. Nach besonders brutalen Attacken während der Kämpfe um Misrata und Taworgha hätten die Rebellen versucht, Frauen und Kinder systematisch aus den Dörfern und Städten in der Nähe von Kampfhandlungen evakuiert, um sie vor Übergriffen zu schützen. Uns wurde aber auch berichtet, dass Frauen teilweise enttäuscht waren, dass sie nicht mit an der Front kämpfen konnten. Eine wichtige Rolle in der Revolution spielten sie dennoch, vor allem als Übermittlerinnen von wichtigen Informationen, Geld und Munition.

Die Frauen berichteten uns, dass sie auch vor dem aktuellen Konflikt brutaler Gewalt des Gaddafi-Regimes ausgesetzt waren. Sie verbinden daher große Hoffnungen mit der neuen Ordnung in Libyen. Um diese nicht zu enttäuschen, muss jetzt das Zeitfenster genutzt werden, dass die Revolution bietet. Bisher sind Frauen trotz ihrer aktiven Rolle im Umsturz mit nur einem Gesicht im Nationalen Übergangsrat vertreten. In der libyschen Delegation zu den Vereinten Nationen fand sich überhaupt keine Frau. Hier gibt es also noch viel zu tun. Entscheidend wird dabei die Verfassung sein, deren Ausarbeitung nun begonnen hat. In einem der ersten Entwürfe wurden erst die Rechte der Männer beschrieben, dann die der Frauen. Das ist mittlerweile hoffentlich wieder vom Tisch, aber die Frage bleibt: Gelingt es, die neue Verfassung zu einem Dokument der Gleichberechtigung der Geschlechter zu machen, oder nicht? Die nächsten Monate könnten das Schicksal der Frauen in Libyen auf Jahrzehnte hinaus entscheidend prägen.

Auch wirtschaftlich stehen die Libyer vor wichtigen Weichenstellungen. Im Ölsektor müssen neue Lizenzen vergeben, neue Versorgungsketten aufgebaut und neue Geschäftsbeziehungen geknüpft werden. Unsere Gesprächspartner, vor allem aus der Zivilgesellschaft, forderten hier vor allem eines: Transparenz. Diese Forderung hatte ich schon vor einigen Wochen im Europaparlament erhoben, und in diesem Bereich können wir in Europa einiges tun, zumindest was europäische Energiekonzerne betrifft, die jetzt in Libyen Schlange stehen. Den Menschen, mit denen wir sprachen, war aber auch wichtig zu unterstreichen, dass Libyen mehr ist als sein Öl. Sie wünschen sich vor allem die Stärkung des Privatsektors und den Aufbau einer Tourismusindustrie.

Eine weitere wirtschaftliche Herausforderung ist die Regelung des Landbesitzes. Hier gibt es bisher keine klare Rechtslage. Wem welches Land gehört, ist in tausenden Fällen völlig unklar. Das Problem wurde dadurch verstärkt, dass das alte Regime - vor und während der jüngsten Kämpfe - Land willkürlich beschlagnahmt hat. Darüber, wie dieses Problem gelöst werden kann, haben wir viele unterschiedliche Meinungen gehört: westlich, kommunistisch, traditionell.

Überlassenschaften der Vergangenheit

Während sich den Menschen und der neuen Führung also viele brennende Zukunftsfragen stellen, müssen sie zugleich stets mit den Überlassenschaften der Vergangenheit zurechtkommen: den Vertretern des alten Regimes in den Gefängnissen, den tausenden Flüchtlingen im Land und den Massengräbern, die Gaddafi zurück gelassen hat.

Sehr viel schlechtere Bedingungen als in den Gefängnissen fanden wir in einem Flüchtlingslager in Sidi Bilal vor. Hier sitzen Hunderte Schwarzafrikaner ohne klaren Status, denn einen rechtlichen Rahmen für Migrations-, Flüchtlings- und Asylfragen gibt es in Libyen nicht. Von Experten hörten wir den Wunsch, dass die Vereinten Nationen Unterstützung in Migrationsfragen anbieten sollten und die Europäische Union im Bereich Grenzkontrollen. Solange es jedoch an einem klaren Rechtsrahmen fehlt, können wir Europäer kaum Training für Grenzschützer anbieten.

Ein grausiges Problem stellen die Massengräber dar, die Gaddafi nach 40 Jahren Herrschaft zurückgelassen hat. Die Angehörigen der Vermissten stehen unter enormer Anspannung, sie wollen so schnell wie möglich Aufklärung und Gewissheit. Das Problem ist jedoch, dass es an Experten und dem notwendigen forensischen Material mangelt. Das Rote Kreuz und andere Organisationen warnen daher vor einer vorschnellen Aushebung der Gräber. Noch befolgen alle Beteiligten diese Ratschläge mit großer Disziplin, doch die Ungewissheit ist quälend.

Die vier Tage vor Ort in Libyen haben in mir den Eindruck gestärkt, dass es nun vor allem auf schnelles Handeln ankommt. Die Lage im Land ist fragil. Es besteht ein enormes politisches, rechtliches und Sicherheitsvakuum. Dieses muss nun schnellstmöglich durch eine neue nationale Einheitsregierung gefüllt werden. Europa sollte diesen Prozess aktiv unterstützen, ohne sich aufzudrängen. Unsere Gesprächspartner haben uns erzählt, dass sie sich von den Europäern vor allem Expertise in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft erhoffen. Finanzielle Hilfe aus Europa sei dagegen eher zweitrangig - mit der Ausnahme von Frauenorganisationen: Diese kommen nur sehr schwer an inländische Unterstützung, und ausländische Geldgeber wie Katar sind an Emanzipation nicht interessiert. Auch hier sollte eine Aufgabe Europas liegen: Druck auszuüben auf die katarische Regierung, damit diese ihre Politik der fundamentalistischen Einflussnahme überdenkt und korrigiert.

Die kommenden Wochen und Monate werden über das Schicksal des Landes entscheiden. Der Nationale Übergangsrat will innerhalb von acht Monaten nach Ende der Kämpfe eine neue Verfassung ausarbeiten. Danach sollen Parlamentswahlen stattfinden. Die Herausforderungen bis dorthin sind riesig. Aber ebenso groß sind die Hoffnungen der Libyerinnen und Libyer. Ihr Wille ihr Land neu aufzubauen ist tief beeindruckend. Wir sollten sie dabei unterstützen.

……

Dr. Franziska Brantner ist Mitglied des Europäischen Parlaments aus Baden-Württemberg. Sie ist außenpolitische Sprecherin der Fraktion Grüne/EFA und gehört dem Auswärtigen Ausschuss an sowie als Stellvertreterin dem Haushaltsausschuss und dem Ausschuss für die Rechte der Frau und Gleichstellung der Geschlechter.