Von Simone Schmollack
Heute gibt es vegetarisches Chili mit Sesambrot und Königsberger Klopse mit Kartoffeln. In der Pettenkofer-Grundschule kann man sich beide Gerichte anschauen, bevor man wählt. Zwei Teller, einer mit dem Chili, der andere mit einem Klops, stehen vor der Luke der Essenausgabe. Als Nachtisch gibt es frische Pflaumen, die liegen in großen Schüsseln auf einem Rollwagen.
Das Chili ist mit Tomaten gemacht, die Soße der Klopse mit Milch. Auch das erfährt man, bevor man isst. Es steht auf einem Zettel, der direkt neben der Luke der Essenausgabe klebt. In zehn Minuten ist große Pause. Gleich werden Heike Kummer, die Küchenfrau, und ihre Kollegin 380 Essenportionen durch die Luke der Schule in Berlin-Friedrichshain reichen. Die Schule hat 415 Schüler, fast alle Kinder essen hier Mittag. Das ist etwas Besonderes.
Das Schulessen – ein Barometer für Armutsprobleme
Das Thema Schulessen ist ein Dauerbrenner geworden: In Elternversammlungen, zu Hause und in der Politik wird darum gestritten, was ein gutes Schulessen eigentlich ausmacht. Und seit die Debatten um die sogenannte Unterschicht, um PISA, Hartz IV und Kinderarmut enorme Schallhöhen erreicht haben, sind das Essenangebot an den Schulen und die Zahl der schulspeisenden Mädchen und Jungen ein Barometer dafür, ob ein Kiez ein Armutsproblem hat oder nicht.
Jüngste Untersuchungen haben öffentlich gemacht, was viele LehrerInnen und Kita-ErzieherInnen schon lange wussten: Arme Kinder frühstücken oft zu Hause nicht, sie haben keine Pausenbrote in der Mappe und sie fehlen beim Schulmittagessen. Der Grund: Die Eltern sind mit der Kindererziehung überfordert oder können das Essen nicht bezahlen. Dabei zeigt der 2. Nationale Bildungsbericht der Kultusministerkonferenz vom Juni dieses Jahres, dass die Mittagsverpflegung an den Schulen immer wichtiger wird. Inzwischen sind knapp ein Drittel aller Schulen Ganztagseinrichtungen; die Kinder verbringen dort ihre Zeit bis zum Nachmittag.
Der Fall Pettenkofer-Grundschule
Die Pettenkofer-Grundschule liegt in einer langen, unwirtlichen Straße, zwischen Wohnblocks und Bürohäusern, an der Schnittstelle der sogenannten Ober- und Unterschicht. Links von der Straße erstreckt sich das Samariterviertel im Bezirk Friedrichshain, eine Gegend mit vielen teuren Altbauwohnungen, Edelitalienern und Geschäften für Wohnaccessoires mit Öko-Zertifikat. Rechts von ihr, im Bezirk Lichtenberg, machen sich ein Einkaufszentrum, eine stark befahrene Durchgangsstraße und Plattenbauten breit. Wer hier lebt, muss diese Ecke auf eine besondere Weise lieben. Oder er hat keine andere Wahl als auszuhalten.
Die Kinder der Petterkofer-Grundschule kommen „aus allen Milieus“, sagt Konrektorin Christiane Paulig: aus der Mittelschicht, aus der alternativen Szene und aus dem Kreis der Alteingesessenen. Die Schule ist das, was gern als kultureller und sozialer Mix bezeichnet wird. Aber das ist es nicht, was die Schule als einzigartig kennzeichnet. Es sind auch nicht die altersgemischten Klassen und auch nicht der Montessori-Stil, in dem die Kinder von der 1. bis zur 6. Klasse unterrichtet werden. Das gibt es auch woanders. Es ist die Art und Weise, wie hier das Schulessen behandelt wird.
Als im Februar 2008 der Senat in sieben Berliner Bezirken die Caterer für das Schulessen an Grundschulen neu ausschrieb, war auch die Pettenkofer-Grundschule mit dabei. Viele Eltern waren darüber froh. Das Essen vom alten Anbieter hat ihren Kindern oft nicht geschmeckt, nicht selten war es matschig und nicht gut genug gewürzt. Bei der Frage, welchen Stellenwert die Schulspeisung als sozialer Indikator einnimmt, spielt zunehmend die Qualität des Essens eine Rolle. Darin sind sich auch in der Pettenkofer-Grundschule alle einig. Für die Wahl des neuen Caterers sollten daher „Qualitätsstandards für die Schulverpflegung“ herangezogen werden. Solche hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung als „fundierten Orientierungsrahmen“ erarbeitet, die Pettenkofer-Grundschule hat sie genutzt.
Schulessen darf nicht dem Zufall überlassen werden
Die Ausschreibung ist unsere Chance, sagten Eltern, LehrerInnen und Kinder. Sie gründeten eine Essenjury, ein oder zwei Kinder aus jeder Klasse waren dabei. Tagelang zogen die Jury, einige LehrerInnen und eine Handvoll Eltern in der Stadt von Schule zu Schule und probierten das Essen anderer Caterer. Sie aßen Nudeln, Schnitzel, Kartoffelaufläufe, Linsensuppe. Und sie entschieden sich für die Firma Luna, in „gemeinsamer Abstimmung“, wie Susanne Göllner sagt. Sie, als Koordinatorin für Erziehung, hat monatelang mit den Eltern darüber debattiert, welcher Anbieter und welches Essen für die Kinder am besten seien. „Unsere Eltern legen großen Wert auf Bio und vegetarische Gerichte“, sagt sie.
Der Caterer Luna hat eine Großküche und versorgt viele Schulen in Berlin mit Mittagessen. Luna wirbt damit, dass er zu 70 Prozent mit Bio-Lebensmitteln kocht, Geflügelfleisch aus der Region verarbeitet und für Fischgerichte nur Filet verwendet. Obst und Gemüse sollen frisch und jahreszeitgemäß sein und ebenfalls aus der Region stammen, süße Speisen werden ohne raffinierten Zucker zubereitet.
„Es ist fast immer lecker“, sagt Josepha aus der 4 d. Sie war die erste an der Essenausgabe, heute isst sie Klops. Auch Anna, ihrer Freundin, hat Küchenfrau Heike Kummer einen Klops und Kartoffeln auf den Teller gepackt. Fleisch schmeckt Anna besser als die Gemüsetaler, „die es so oft gibt“. Sie sagt: „Ich freu mich immer schon, wenn ich auf dem Teller Bockwurst sehe. Aber wenn ich dann reinbeiße, ist es oft nur eine aus Tofu.“ Sophie, auch aus der 4 d, hat als einziges der drei Mädchen das vegetarische Chili genommen. „Manche Soßen sind komisch“, sagt Sophie. Und: „Aber wir können uns so oft nachholen, wie wir wollen. Das ist gut.“
Die vielen Gesichter der Kinderarmut
In der Peffenkofer-Grundschule sitzt kein Kind mit knurrendem Magen im Unterricht. Die Schule hat auch kein Problem mit zu dicken Kindern, der anderen Variante von Kinderarmut. 16 Prozent der deutschen Kinder haben Übergewicht. Das hat vor zwei Jahren eine internationale Studie herausgefunden. Die Untersuchung sagt, dass die Deutschen Europameister beim Übergewicht sind. In Zahlen ausgedrückt, heißt das: 1,9 Millionen Kinder in Deutschland sind zu dick, 800.000 sogar adipös, fettleibig. Manche Zehnjährige wiegen 120 Kilo. Sie sind die noch Dickeren von morgen. Und sie sind die sozial Ausgegrenzten und damit die Armen.
Der Zusammenhang von Übergewicht und Armut ist ebenfalls seit langem bekannt. Dennoch hat es Jahre gedauert, bis die Bundesregierung handelte. Vor einem Jahr trat „In Form“ in Kraft, der Nationale Aktionsplan Ernährung. Bundesverbraucherminister Horst Seehofer (CSU) hatte ihn aber bereits vor zweieinhalb Jahren vorgestellt. Stoßrichtung: Aufklärung, Vorsorge, Veränderung der Esskultur in Familien, Schulen, Kantinen, mehr Sport und Bewegung. Damit sagte die Bundesregierung der Fettleibigkeit den Kampf an. Letztlich ist „In Form“ auch ein Versuch, die zunehmende Kinderarmut in Deutschland in den Griff zu bekommen.
Fertig. Anna, Sophie und Josepha sind satt. Sie bringen ihre Teller zur Geschirrrückgabe. Sie trinken im Stehen noch einen Becher Früchtetee, Erdbeer-Sahne. Dann stürmen sie die Treppe runter auf den Hof. Susanne Göllner hat Pausenaufsicht. Sie steht an der Tür zum langen Flur, sie hat den gesamten Speisesaal im Blick. Sie sagt nichts. Das muss sie nicht, die Schüler wissen auch so, was zu tun ist: Abräumen, Abwischen, Rausgehen auf den Hof. Susanne Göllner sagt: „Bei uns ist nicht nur gesundes Essen wichtig, sondern auch viel Bewegung und frische Luft.“
Kinderarmut – ein komplexes Problem
Kinder, die zu wenig zu essen haben und Kinder, die zu dick sind, haben die gleichen Probleme, sie werden auf lange Sicht dauerhaft körperlich krank. Psychische Probleme haben sie meist schon von früh an. Sie werden gehänselt und ausgeschlossen. Darüber hinaus leiden viele dicke Kinder schon in jungen Jahren an Diabetes, Atem-, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Knochen- und Gelenkschmerzen, später bekommen sie öfter als normalgewichtige Menschen Bluthochdruck, Herzinfarkte und Krebs.
Für die Behandlung von Adipositas geben die deutschen Krankenkassen jährlich 530 Millionen Euro aus. Zählt man die Co-Morbiditäten dazu, Begleiterscheinungen wie Rückenprobleme, gehäufte Erkältungen und Knochenhautentzündigungen, beläuft sich die Summe auf fünf Milliarden Euro. Das hat das Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen in Neuherberg bei München ermittelt. Damit sind dicke Kinder eine volkswirtschaftliche Belastung. Genauso wie Kinder, die zu wenig zu essen und nicht genug Bildung bekommen. Einige Unternehmen haben inzwischen erkannt, dass diese Kinder später als Kunden und als MitarbeiterInnen fehlen.
In der Pettenkofer-Grundschule wissen die Kinder, was gesund ist und was nicht. Das lernen sie im Unterricht und im Speisesaal. An den Wänden in der Aula im 4. Stock kleben Ernährungspyramiden: Unten sind Obst, Gemüse und Getreide aufgemalt, von denen die Kinder viel essen sollen, dann kommen Milch- und Käseprodukte, gefolgt von Fleisch, Geflügel und Fisch. Ganz oben thronen Kuchen, Bonbons und Schokolade, ganz klein, als Warnzeichen: Stopp, hier Vorsicht. „Ist doch pipeleinfach“, sagt Julius, zehn Jahre alt. Er schaufelt sich Pflaumen in die Hand. Sein Freund Jonas sagt: „Das weiß ich schon lange.“
Staatliche Regularien sind notwendig
Manchmal reicht das Wissen um eine gesunde Ernährung und Lebensweise aber nicht aus. Wenn Eltern das Geld fehlt, um ihre Kinder gesund zu erhalten, muss es staatliche Regularien geben. Deutschland gibt drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für familienbezogene Leistungen aus, genauso viel wie Schweden. Dänemark legt 3,9 Prozent seiner Einnahmen auf Familien um, Frankreich 2,5 Prozent und Großbritannien 1,7 Prozent. Während Dänemark vor allem in Sachleistungen investiert, unterstützt Deutschland Familien hauptsächlich mit Bargeld. Gerade hat das Bundeskabinett beschlossen, das Kindergeld ab Januar 2009 um zehn Euro auf 164 Euro anzuheben.
Trotzdem reicht es bei armen Familien oft vorn und hinten nicht und das Schulessen bleibt für die meisten immer noch zu teuer. Das weiß auch die Politik. Und mancherorts handelt sie sogar. In Boxberg beispielsweise, einer Gemeinde im Niederschlesischen Oberlausitzkreis, ist das Mittagessen in der Schule für alle Kinder seit zwei Jahren kostenfrei. Die Gemeinde zahlt dafür jährlich 90.000 Euro. Seit kurzem bezahlt auch Jüterbog in Brandenburg seinen Schulkindern das Schulessen.
In Hamburg bekommen 40.000 arme Kinder jeden Tag eine kostenlose warme Mahlzeit, in Potsdam ist der Preis für ein Schulessen in diesem Schuljahr von ursprünglich zwei Euro am Tag auf einen Euro gesenkt worden. Die Stadt bezahlt dafür 100.000 Euro. In Nordrhein-Westfalen gibt es nach Angaben der gemeinnützigen Organisation Düsseldorfer Tafel 800.000 Kinder, die in Armut leben. Die Tafel unterstützt arme Familien, indem sie 30 Euro von den 50 Euro übernimmt, die das Schulessen in der Landeshauptstadt monatlich kostet. 20 Euro müssen die Eltern selbst bezahlen.
Britische Ampel oder Selbsthilfe – Deutschland muss handeln
Die Eltern der Pettenkofer-Grundschule zahlen wie alle Berliner Mütter und Väter seit August dieses Jahres 23 Euro im Monat für das Schulessen ihrer Kinder. Insgesamt kostet das Essen etwa 40 Euro. Den Rest, 17 Euro, übernehmen die Bezirksämter. Der Senat hat dafür 3,8 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Zusätzlich gibt es einen sogenannten Härtefallfonds mit einem Volumen von 413.000 Euro. Wenn Eltern das Essen mal nicht bezahlen können, greifen die Schulleiter auf den Fonds zurück. Das musste Christiane Paulig bisher nur zwei Mal tun. „Das ist nicht viel“, sagt die Konrektorin. Sie ist seit einem Jahr an der Pettenkofer-Grundschule, vorher hat sie in Berlin-Kreuzberg gearbeitet. „Dort“, sagt sie“, „sah es anders aus, das soziale Gefälle ist in Kreuzberg größer.“
Wer hat Schuld daran, dass hierzulande manche Kinder hungern müssen und andere zu dick sind? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Fehlverhalten hat meist mehrere Ursachen, in der Regel ist es ein Zusammenspiel aus den Handlungen der Eltern und dem Agieren des Staates. So sind die Eltern dicker Kinder meist selber übergewichtig, oftmals wissen sie aber gar nicht, was sie falsch machen. Eine gesunde Ernährung jedoch wurde bislang von staatlicher Seite nicht gefördert. Seit langem fordert Grünen-Fraktionsvorsitzende und Ex-Verbraucherministerin Renate Künast die „britische Ampel“: Alle Lebensmittel sollten gekennzeichnet werden und die Inhaltsstoffe auf einen Blick erkennbar sein, so wie Großbritannien das seit einiger Zeit macht: Fette, Zucker und viele Kalorien sind rot gekennzeichnet, gesunde Inhaltsstoffe grün. In Deutschland ist die Ampel wieder vom Tisch, vor allem weil die Kinderlebensmittelindustrie laut aufschrie: „Keine Diskriminierung von Lebensmitteln.“
In der Pettenkofer-Grundschule beginnt demnächst ein neues Projekt: die Geschmacksschule. Anna, Sophie und Josepha haben nur eine Ahnung davon, was das sein könnte. Aber sie freuen sich drauf, und Josepha überlegt, bei der nächsten Essenjury mitzumachen. „Die Kinder sollen lernen, verschiedene Lebensmittel geschmacklich zu unterscheiden“, sagt Annette Blömer. Sie ist Ökotrophologin bei Luna, der Schulcaterer führt das Projekt durch. Annette Blömer: „Die Geschmacksnerven der Kinder sind durch Fertigprodukte zerstört.“ Viele Kinder können nur eine Geschmacksrichtung klar benennen: süß. Ob etwas sauer, salzig oder bitter schmeckt, wissen sie nicht. Um verschiedene Geschmacksrichtungen zu spüren, werden bei der Geschmacksschule Speisen püriert, die Kinder probieren sie. Dann sollen sie sagen, was es war. „Es wird ein Experiment“, sagt Susanne Göllner. „Ja“, sagt Annette Blömer. Eines, von dem in der Pettenkofer-Grundschule niemand so richtig weiß, wie es ausgehen wird. Aber es ist mit Sicherheit eines, das mit wenig viel bringt.
Simone Schmollack ist Journalistin und Publizistin.
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