Arm bleibt arm

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3. November 2008



Wer in sozialen Brennpunkten geboren wird und dort aufwächst, hat sein Leben lang weniger Chancen.

Jedes siebte Kind in Deutschland ist arm oder von Armut bedroht. Es hat weniger als neun Euro im Monat für Spielzeug zur Verfügung und nur zwei Euro für ein Fahrrad. Es bekommt fast nie Obst und Gemüse zu essen, weil das zu teuer ist, auch ein warmes Schulessen können die Eltern nicht bezahlen. Der bundesweite Verein „Die Arche“ hat vor einigen Jahren ein Versorgungsnetz geschaffen, das armen Kindern ein kostenloses Mittagessen garantiert. Ein Gespräch mit Wolfgang Büscher, Pressesprecher der „Arche“, über Kinderarmut, Teenagerschwangerschaften und eine Grundsicherung für Kinder.

Was ist Kinderarmut?

Nach bestimmten statistischen Werten sind Kinder arm, wenn ihren Eltern weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht. Aber das ist alles bloße Rechnerei. Ich sage, Kinder sind dann arm, wenn sie spüren, dass es ihnen schlechter geht als anderen Gleichaltrigen. Das heißt, wenn die Eltern zu Hause darüber reden, was alles fehlt und was alles nicht geht, weil kein Geld da ist. Kinder sind arm, wenn sie nicht in Sportvereine gehen können und wenn sie keinen Musikunterricht bekommen, obwohl sie Talent haben. Sie sind arm, wenn sie keinen Nachhilfeunterricht erhalten, obwohl sie in dringend brauchen.

Wie viele Kinder sind betroffen?

Allein in Berlin leben 35 Prozent aller Kinder von Transferleistungen. Zählt man die Kinder dazu, denen kaum mehr Geld zur Verfügung steht, weil die Eltern Geringverdiener sind, ist jedes zweite Kind arm. Diese Kinder entwickeln sich nachteilig, die meisten von ihnen haben keine Perspektive.

Was heißt das?

Es gibt Studien, die besagen, dass Eltern, die Hartz IV beziehen, sich weniger mit ihren Kindern beschäftigen als berufstätige Eltern. Und das, obwohl die arbeitslosen Eltern den ganzen Tag zu Hause sind. Die Kinder werden oft nicht gefördert und nicht gefordert, sie bleiben einfach auf der Strecke.

Armut hat auch etwas mit Wertevermittlung zu tun?

Natürlich. Ein Gegenbeispiel: Es gibt zunehmend Menschen, die in prekären Jobs arbeiten, FreiberuflerInnen, KünstlerInnen, MittelständlerInnen. Aber sie sind gebildet und haben ein stabiles Wertesystem. Diese Werte vermitteln sie ihren Kindern, sie erklären ihnen, was richtig und wichtig ist, beispielsweise so scheinbar lapidare Dinge wie morgens aufzustehen und in die Schule zu gehen.

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat einmal gesagt, dass man sich aus Armut herausarbeiten kann und führte den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder als positives Beispiel an.

Schröders Eltern mögen ja im damaligen Vergleich arm gewesen sein, aber sie haben ihrem Sohn besagte Werte vermittelt. Mit denen hat er sein Leben ja dann auch gemeistert. Der Ausspruch von Kurt Beck ist zynisch und geht an den Realitäten vorbei.

Inwiefern?

Wer in eine Hartz IV-Familie hineingeboren wird, kommt in der Regel aus ihr nicht mehr heraus. In der „Arche“ in Berlin-Hellersdorf gibt es 16-Jährige, die waren noch nie am Brandenburger Tor. In fast jeder größeren deutschen Stadt gibt es heute Viertel am Stadtrand, die sind inzwischen Gettos. Dort wohnen die Armen, in Hochhaussiedlungen mit billigeren Wohnungen. Sie haben nicht einmal Geld für ein Ticket in die Stadt, die Kinder kennen nur die eigene Wohnung und ihre Wohngegend. Die Armen leben in Parallelwelten, ohne die andere Welt zu kennen.

Ist Armut ein Teufelskreis?

Ja. Und der Kreis wird größer. Immer mehr Kinder von Hartz IV-EmpfängerInnen bekommen früher und mehr Kinder. Für das Buch „Deutschlands sexuelle Tragödie“ habe ich 80 Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren befragt, lediglich zwei von ihnen gaben an zu verhüten. Viele Jugendliche wissen nicht einmal, was Verhütung ist. In Berlin-Hellersdorf gibt es heute fünf Mal so viele Teenagerschwangerschaften wie sonst in der Bundesrepublik. Die jungen Mütter sind mitunter 12, 13 oder 14 Jahre alt.

Was kann man dagegen tun?

Dieses Problem zu lösen, ist schwer. Kürzlich habe ich mit einem 16-jährigen Jungen gesprochen, der demnächst Vater wird. Er sagte mir grinsend ins Gesicht, dass er sich um sein Kind und die Mutter nicht kümmern werde, mit den Worten: „Ich kann ja eh nichts bezahlen.“

Die jungen Mütter werden also von Anfang allein gelassen?

Genau das ist das Problem. Die Mädchen haben in der eigenen Familie nicht erfahren, was Liebe, Verantwortung, Sichkümmern heißt. Und dann geschieht ihnen genau das gleiche. Die am stärksten von Armut betroffene Gruppe sind alleinerziehende Frauen. In Hellersdorf ist die am häufigsten anzutreffende Familienform die der alleinerziehenden Mütter, 35 Prozent. Die haben oft drei, vier Kinder, von verschiedenen Vätern.

Hilft es diesen jungen Frauen, wenn die Bundesregierung den Hartz IV-Satz erhöht?

Wir plädieren nicht dafür, SozialhilfeempfängerInnen mehr Geld zu geben, wir fordern eine Grundsicherung für Kinder: kostenlose Bildung, freies Schulessen, Sport, Musik, Nachhilfe. Für die Kinder muss gesorgt werden, mehr als für die Eltern.

Die „Arche“ will armen Kindern helfen. Der Verein betreibt bundesweit Küchen, in denen Kinder ein kostenloses, warmes Mittagessen bekommen, zum Beispiel in Berlin, Hamburg, München, Potsdam. In Berlin haben Sie eine Schule gegründet, in Düsseldorf wird demnächst die erste „Arche“-Kita öffnen. Im neuen Jahr wird es Standpunkte in Düsseldorf, Köln, Stuttgart und Leipzig geben. Das ist ein bundesweit einmaliges Konzept. Werden Sie vom Staat unterstützt?

Leider nein. Als wir 1995 in Berlin anfingen, bekamen wir eine Förderung. Aber als wir vor drei Jahren öffentlich Kritik an der Gesellschaft übten und erklärten, warum Kinder arm sind, wurde die Förderung vollständig gestrichen. Seitdem leben wir von Spenden größerer und kleiner Unternehmen. Sie unterstützen unsere Arbeit, weil sie erkannt haben, dass eines Tages ein großes Potenzial von Kunden und MitarbeiterInnen fehlen wird, wenn das heute vergessen wird. Das ist nicht im Interesse der Unternehmen.

Greifen die Sponsoren inhaltlich in Ihre Arbeit ein?

Nein, sie schätzen unsere Arbeit, so wie wir sie machen. Und wenn sich jemand durch Spenden ein Mitspracherecht erkaufen will, lehnen wir die Zusammenarbeit ab.

Tut die Bundesregierung genug, um das Armutsproblem zu bekämpfen?

Überhaupt nicht. Der Staat darf sich auf keinen Fall aus seiner Verantwortung ziehen. Aber wir sehen auch, dass Unternehmen und Privatpersonen stärker als bisher in die soziale Aufgabe eingebunden werden können und müssen. Bei der Kinderarmut geht es auch immer ums Gemeinwohl. Nur sind die Kinder das schwächste Glied in der Kette.

Das Interview führte Simone Schmollack.

Wolfgang Büscher (55) ist Pressesprecher des bundesweiten Kinderhilfswerks „Die Arche“. Der Journalist kam vor fünf Jahren mit einer Rockband in „Die Arche“. Heute verbindet sich mit seinem Namen ein bundesweites Engagement für soziale Gerechtigkeit und für die Verbesserung der Chancen von Kindern. Zusammen mit Bernd Siggelkow sind von ihm zwei Bücher erschienen: „Deutschlands vergessene Kinder“ (2006) und „Deutschland sexuelle Tragödie (2008, beide im Verlag Gerth Medien)


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