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Aus der Not eine Tugend machen

Lesedauer: 7 Minuten

Wenn Konjunkturprogramme, dann nachhaltig

22. Dezember 2008
Von Ralf Fücks
Von Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung


Die Weltwirtschaftskrise für zukunftsweisende Lösungen nutzen

Wirkte die Globalisierung in den letzten 20 Jahren als große Wachstumsmaschine, so erleben wir jetzt die Kehrseite der weltweiten Verschlingung der Märkte: eine globale Rezession. In Europa, Nordamerika und Japan – immer noch die Zentren der Weltökonomie – schrumpft die Wirtschaftsleistung, und in den neuen Boomländern Asiens und Lateinamerikas sinken zumindest die Wachstumsraten. Von einer Abkopplung Europas von der US-Ökonomie kann keine Rede sein. Auch China, dessen Wachstum maßgeblich von Exporten in die USA getrieben wurde und das seine gigantischen Handelsbilanzüberschüsse in amerikanische Staatsanleihen investierte, hängt am Tropf der Weltwirtschaft. Nicht anders die indische Softwareindustrie und die rohstoffexportierenden Länder, deren Einnahmen in den Keller rauschen.

Weil diese wechselseitige Abhängigkeit inzwischen die gesamte Weltwirtschaft erfasst, ist es für die Überwindung der Krise entscheidend, dass eine konzertierte Aktion zwischen den ausschlaggebenden Akteuren zustande kommt. Dazu zählen nicht mehr nur die etablierten Mächte der G 7 / G 8. Ohne die Einbeziehung Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer Schwellenländer wächst die Gefahr, dass es zu noch heftigeren Friktionen kommt. Gegenwärtig ist bereits absehbar, wie protektionistische und multilaterale Krisenstrategien miteinander konkurrieren. Wie wird China reagieren, wenn die USA die Inflationierung des Dollars betreiben (oder zumindest in Kauf nehmen), um frisches Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen, ihre Exporte zu verbilligen und nebenbei ihre ausländischen Schulden abzuwerten? Ein Abwertungswettlauf zwischen dem Dollar und dem Yuan wäre ebenso riskant wie die Errichtung von Schutzzäunen um die traditionellen Industriezweige Europas und Amerikas.

Kooperatives Krisenmanagement

Zu den Lehren aus dem ökonomischen und politischen Desaster der Weltwirtschaftskrise von 1929 gehört nicht nur die Notwendigkeit, der Depression mit Zinssenkungen und einer expansiven Haushaltspolitik entgegenzuwirken. Die zweite große Lektion lautet, dass alles darauf ankommt, ein kooperatives Krisenmanagement zu entwickeln. Es gilt einen fatalen Wettlauf zu verhindern, die Krise zu Lasten anderer Staaten zu lösen. Die UN-Institutionen sind dafür in ihrer heutigen Verfassung wenig geeignet. Weltbank und Internationaler Währungsfonds sind zwar unverzichtbare Elemente einer globalen Anti-Krisen-Strategie, leiden aber unter legitimatorischen und operativen Defiziten. Umso wichtiger werden neue Formen von "Club-Governance" wie die G 20, die eine abgestimmte Politik zwischen den beteiligten Akteuren fördern.

Angesichts der faktischen Interdependenz der Märkte gibt es keine rationale Alternative zu einer verstärkten transnationalen Koordination der Geld- und Konjunkturpolitik. Nicht Rückzug aus der Globalisierung ist das Gebot der Stunde, sondern eine Anhebung der politischen Zusammenarbeit auf das Niveau der ökonomischen Verflechtung. Die EU wäre deshalb mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn sie den mit dem Stabilitätspakt bereits erreichten Grad finanzpolitischer Koordination jetzt zugunsten eines nationalen Verschuldungswettlaufs wieder aufgeben würde.

Aus der Not eine Tugend machen heißt die Krise für zukunftsweisende Lösungen zu nutzen. In Europa wie in den USA, in China und in Lateinamerika werden Konjunkturprogramme gigantischen Ausmaßes aufgelegt. Die neue US-Administration bereitet ein kreditfinanziertes Paket im Umfang von 700-800 Milliarden Dollar vor, mit der eine "Kernschmelze" der amerikanischen Wirtschaft verhindert werden soll. Obama hat angekündigt, mit öffentlichen Investitionen zwei bis drei Millionen Arbeitsplätze schaffen (oder absichern) zu wollen. In China wurde das 470 Milliarden Dollar schwere Konjunkturprogramm der Zentralregierung von den Provinzregierungen mehr als verdoppelt. Über die Notwendigkeit antizyklischer Maßnahmen gibt es kaum noch Differenzen; über ihr Ausmaß und vor allem ihre Ausrichtung gehen die Auffassungen jedoch auseinander.

Anschub für die grüne industrielle Revolution

Als Faustregel muss gelten: Wenn schon die öffentliche Hand Schulden in atemberaubender Höhe aufnehmen muss, um die Abwärtsspirale der Weltwirtschaft zu stoppen, dann müssen damit Weichen für ein nachhaltiges Wachstum gestellt werden. Dabei geht es um die ökonomische, soziale und ökologische Dimension dieses Begriffs. Staatliche Krisenprogramme sind daran zu messen, ob sie die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft erhöhen. Das ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. Wenn jetzt die Staatsverschuldung nach oben getrieben wird, um die Rezession abzufangen, dürfen damit die Chancen der kommenden Generation nicht eingeschränkt werden. Entscheidendes Kriterium muss sein, welche Maßnahmen möglichst kurzfristig greifen und zugleich langfristig die höchste Rendite abwerfen. Kredite aufzunehmen, um ein kurzfristiges Konsum-Strohfeuer zu entfachen, ist in jeder Hinsicht eine Schnapsidee.

Nicht von ungefähr bindet das Grundgesetz die Aufnahme von Schulden an öffentliche Investitionen. Damit soll ein Mehrwert für die Zeit geschaffen werden, in der diese Schulden abgetragen werden müssen. Wenn es richtig ist, dass drei zentrale Herausforderungen unserer Zeit darin bestehen, den Klimawandel in tolerierbaren Grenzen zu halten, die Ressourcenbasis für eine rasch wachsende Weltbevölkerung zu sichern und zugleich den gegenläufigen demographischen Trend in Europa zu bewältigen, dann müssen die Milliardenprogramme, die jetzt aufgelegt werden, diesen Aufgaben gerecht werden. Kredite zur Erhaltung des status quo sind herausgeworfenes Geld.

Worum es geht, ist die Finanzierung des allfälligen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft. Wir müssen die Krise nutzen, um unser Bildungssystem gerechter und leistungsfähiger zu machen und die Fundamente für eine "grüne industrielle Revolution" zu legen. Investitionen in Bildung und Wissenschaft sowie in Ressourceneffizienz, erneuerbare Energien und umweltfreundliche Technologien sind das Gebot der Stunde. Wenn die Europäische Union jetzt unter dem Druck der Wirtschaftskrise ihre klimapolitischen Ziele verwässert, verfehlt sie die zentrale Herausforderung: die Hunderte von Milliarden Euro, die gegenwärtig in Europa für Konjunkturprogramme mobilisiert werden, für strukturelle Innovationen zu nutzen.

Am Beispiel der Autoindustrie heißt das: keine bloßen Erhaltungssubventionen, mit denen Produktionslinien am Leben gehalten werden, die weder ökologisch noch ökonomisch zukunftsfähig sind. Wenn Firmen wie Opel mit Staatsgeldern über Wasser gehalten werden sollen, dann müssen damit Auflagen verbunden werden, die auf eine Konversion der Autoindustrie zielen: leichtere Fahrzeuge und umweltverträgliche Antriebstechniken mit drastisch verringerten Schadstoffemissionen.

Die Gelegenheiten für einen großen Sprung nach vorn liegen auf der Straße:

  • Ein großangelegtes Förderprogramm für die Wärmedämmung von Altbauten und den Einbau energieeffizienter Heizungen
  • Verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen in umweltfreundliche Prozesse und Technologien
  • Bereitstellung von Wagniskapital und staatlichen Bürgschaften für innovative Unternehmensgründungen
  • Aufstockung der Forschungs- und Entwicklungsprogramme von Bund und Ländern
  • Ausbau eines leistungsfähigen europäischen Stromnetzes, das es erlaubt, Windenergie von den Küsten mit Solarstrom aus dem Süden und Biomasse-Strom aus den weiten landwirtschaftlichen Flächen in Mittel-Osteuropa zu verknüpfen
  • Höhere Bundeszuschüsse für die Modernisierung des öffentlichen Nah- und Regionalverkehrs
  • Befreiung des schienengebundenen Verkehrs von der Mehrwertsteuer
  • Ausbau des gesamteuropäischen Bahnnetzes zur Verlagerung des Gütertransports von der Straße auf die Schiene
  • Erweiterung der Kapazitäten für Lehre und Forschung an den Hochschulen.

Parallel müssen die Fundamente unseres Bildungssystems erneuert werden:

  • Ausbau der Kindergartenplätze für ein- bis dreijährige Kinder
  • Mehr Mittel für die Errichtung von Ganztagsschulen
  • Bessere Personalausstattung von Schulen in sozialen Brennpunkten.

Es ist vielfach gesagt worden, dass die aktuelle Krise eine Dimension angenommen hat, die nur einmal in jeder Generation vorkommt. Das mag zutreffen. Zugleich eröffnen die außerordentlichen finanziellen Anstrengungen, die jetzt unternommen werden, eine einmalige Gelegenheit, um die Weichen Richtung Zukunft zu stellen. Wenn wir sie nutzen, kann aus der Krise etwas Gutes entstehen.

Der Artikel erschien am 26.12.2008 auf SPIEGEL ONLINE.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.