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Krise in Kenia: Chancen auf Vermittlung?

23. Januar 2008
Von Axel Harneit-Sievers

Stand: Mittwoch, 23. Januar 2008

Axel Harneit-Sievers
Leiter des Regionalbüros Ostafrika & Horn von Afrika in Nairobi, Kenia

Kenia erwartete am Abend  des 22. Januar 2008 die Ankunft einer Gruppe hochkarätiger afrikanischer Persönlichkeiten unter Führung des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan.

Das Land befindet sich seit den gescheiterten Präsidentschaftswahlen vom 27. Dezember 2007 in einer schweren politischen Krise, die nach verschiedenen Angaben inzwischen 650 bis 1000 Todesopfer gefordert, zur Flucht von mehreren hunderttausend Menschen geführt und der Wirtschaft nicht nur Kenias, sondern der ganzen ostafrikanischen Region schweren Schaden zugefügt hat.

Die Vermittlergruppe soll einen Dialog zwischen der Regierung unter Präsident Mwai Kibaki (Party of National Unity – PNU) und der Opposition der Orange Democratic Movement (ODM) unter Führung von Raila Odinga herbeiführen. Es gibt Chancen für einen Erfolg dieser Bemühungen – doch gut sind sie nicht.

Beide Seiten beanspruchen, die Präsidentschaftswahlen gewonnen zu haben. Legt man Meinungsumfragen aus der Zeit unmittelbar vor der Wahl sowie Prüfungen der offiziellen Resultate auf deren Plausibilität zugrunde, hat die Opposition vermutlich recht – doch ihr Vorsprung war sehr knapp. Odinga war allerdings ohnehin davon überzeugt, alles andere als ein Sieg könne nur Resultat von Wahlfälschungen sein.

Die Frage nach dem „wahren" Wahlergebnis lässt sich angesichts des Ausmaßes der von beiden Seiten zu verantwortenden Unregelmäßigkeiten wohl nicht mehr klären. Das knappe Wahlergebnis und die von Vielen vermutete Manipulation zugunsten des amtierenden Präsidenten Kibaki hat die Nation zutiefst gespalten.

Die Ursachen der Krise

Um Spannungen abzubauen und die akute Krise zu entschärfen böte sich eine Koalition oder eine andere Formen der Machtteilung an. Nur so könnten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die Hintergründe der Gewalt in Kenia anzugehen, die weit über die vermutliche Fälschung einer Wahl hinausgehen: Massenarmut und massive Korruption, eine ungerechte Ressourcen- und vor allem Landverteilung sowie die Ethnisierung und Militarisierung von Politik.

Beide Seiten vertreten unvereinbare Positionen und senden widersprüchliche Signale aus. Präsident Kibaki wird sein Amt nicht aufgeben wollen. Die wichtigsten Posten im Kabinett hat er bereits besetzt, und er schickt seinen Vizepräsidenten Kalonzo Musyoka vor, wenn es darum geht, mit der Opposition zu reden. Hardliner auf Seiten der Regierung haben Versuchen, von außen zu vermitteln, bereits im Vorfeld eine Absage erteilt und jede Kritik an der Wahl als Aufstachelung zur Gewalt denunziert. Dem Ausland – vor allem Europa und den USA – wurde deutlich gemacht, dass es sich bei dem Konflikt um eine innerkenianische Angelegenheit, in die man keine Einmischung wünsche.

Odinga und seine ODM hingegen fordern den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen zu einem späteren Zeitpunkt. Odinga will mit Kibaki nur in Anwesenheit eines internationalen Vermittlers sprechen. Für die Vermittler aber dürfte es schwierig sein, die beiden Kontrahenten an einen Tisch zu bringen. Immerhin scheint es vorstellbar, dass sich die ODM auch mit weniger als einem Rücktritt Kibakis zufrieden gibt – etwa damit, dass Odinga Premierminister wird – eine Position, die allerdings erst durch eine seit Jahren heftig diskutierte Änderung der Verfassung geschaffen werden müsste. Bei allem Populismus ist Odinga ein Politiker, der im Laufe seiner Karriere bereits zahlreiche, zunächst unwahrscheinliche, Wendungen vollzogen hat. Wie handlungsfähig eine solche, aus der Not geborene, Koalition wäre, ist fraglich, doch würde sie zumindest ein Signal zur Deeskalation aussenden.

Derzeit beschuldigen sich beide Seiten des Völkermords. Die ODM hat für Donnerstag den 24. Januar neue „Massenaktionen" angekündigt, auf die die Regierung vermutlich wieder mit einem Verbot reagieren wird. Eine neue Welle der Gewalt in Nairobi und anderen Städten ist zu befürchten, und die Vermittler um Kofi Annan werden es schwer haben.

Ein Klima ethnisierter Gewalt

Die Explosion der Gewalt, die Kenia in den Tagen nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 27.12.2007 erlebte, ist abgeebbt, aber nicht beendet. Vor allem im Rift Valley und in den Slums von Nairobi sterben täglich Menschen; die meisten von ihnen werden zu Opfern ethnischer Milizen. Politischer Protest bildet inzwischen nur mehr den Hintergrund für Kampagnen von Mord, Vertreibung, Landnahme und Rache, die sich zunehmend verselbständigen. Ein Klima von Angst und Gesetzlosigkeit hat sich in ganz Kenia ausgebreitet, und die Polarisierung der Ethnien führt dazu, dass nachbarschaftliche, kollegiale und selbst familiäre Beziehungen untergraben werden.

Die vergangene Woche stand ganz im Zeichen des Protests. Die ODM hatte ab Mittwoch, den 16. Januar zu dreitägigen „Massenaktionen" aufgerufen, die von der Regierung allesamt verboten wurden. Die Aktionen fanden wenig Resonanz in der Bevölkerung. Dies lag einerseits daran, dass die Sicherheitskräfte besonders in den Slums von Nairobi und in Kisumu am Victoria-See mit großer Härte gegen Demonstrationen vorgingen und dabei auch Schusswaffen einsetzten. Andererseits sind viele Kenianerinnen und Kenianern vom Ausmaß der Gewalt, die ihr Land zu zerstören droht, schockiert und ausgelaugt. Sie sehen in der Krise mehr und mehr einen Kampf zwischen politischen Führern von zweifelhafter demokratischer Legitimität, der auf Kosten der breiten Bevölkerung ausgefochten wird. Viele fordern Frieden und einen Kompromiss. Diese Position wird auch von den Medien unterstützt, von der Geschäftswelt, den Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Im gegenwärtigen Klima scheint es jedoch aussichtslos, auf Großdemonstrationen für „den Frieden" zu hoffen.

Feindliche Lager

Die Opposition mobilisiert weiterhin ihre Anhänger. Dazu gehören neben den Luo in West-Kenia, der ethnischen Basis Odingas, auch einigen anderen ethnische Gruppen, insbesondere  Muslime an der Küste sowie in Nairobi junge Leute ohne Perspektive; die ODM-Führung nimmt dabei gewaltsame Eskalationen zumindest in Kauf. Dahinter steht wohl auch das Kalkül, dass Rufe nach Frieden in der gegenwärtigen Situation de facto die Position der Regierung stärken, die hofft, die Krise aussitzen zu können.

Derweil kann sich die Regierung der zumindest stillschweigenden Unterstützung der Kikuyu – sie hatten fast geschlossen für Kibaki gestimmt – und einiger anderer Gruppen sicher sein. Selbst diejenigen Kikuyu, die Kibakis Wahlsieg und die Weisheit seiner Politik der Härte anzweifeln, werden durch die ethnisierte Gewalt und die Angst vor ihr tendenziell in die eigene „ethnische Festung" zurückgedrängt. Selbst in aufgeklärten Kikuyu-Kreisen gibt es bislang keine offene Opposition gegen Kibaki. Auch von mächtigen Kikuyu-Geschäftsleuten waren solche Töne nicht zu hören – und das obgleich der Konflikt droht, das Wirtschaftsleben empfindlich zu beschädigen. Über Kontakte zwischen einflussreichen Kikuyu-Dissidenten und der Opposition ist nichts bekannt.

Die Erfahrungen der letzten Wochen haben gezeigt, wie begrenzt die Möglichkeiten zivilen Protests in Kenia sind: Demonstrationen und Boykott-Aufrufe gegen Firmen, die sich im Besitz der so genannten „Mount Kenya Mafia" um Präsident Kibaki befinden, eskalieren häufig. Teils liegt das am Einsatz der Polizei, eine wesentliche Rolle spielen aber auch Plünderungen und andere Gewalttaten, die in ihrem Schutz begangen werden. Aus Angst vor der die „Massenaktionen" begleitenden Gewalt hat sich in der vergangenen Woche ein Großteil der Stadtbevölkerung Kenias kaum auf die Straße gewagt. Die Aufrufe der ODM, trotz Verbots zu demonstrieren, haben das Klima der Angst und Gesetzlosigkeit verstärkt.

Ethnische Säuberungen

Die intensive Berichterstattung über Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften lenkt von den eigentlichen Kriegsschauplätzen im Kenia von heute ab. Dazu gehören die Slums von Nairobi, wo nach Aktionen von Milizen inzwischen ganze Bezirke nach ethnischen Kriterien neu verteilt wurden. Die ethnische Polarisierung ganz Kenias wird hier auf kleinstem Raum reproduziert, Racheaktionen finden statt, die Polizei hat nur mehr begrenzte Eingriffsmöglichkeiten. Viele Menschen, gerade auch Frauen und Kinder, werden zu Opfern der Kämpfe – Querschläger aus Polizeigewehren und Übergriffe von durch wochenlange Einsätze ausgelaugten Sicherheitskräften eingeschlossen.

Der andere, weit größere Kriegsschauplatz ist die Rift Valley-Provinz, wo Milizen der Kalenjin regelrechte ethnische Säuberungen durchführen und selbst Menschen, die sich in Kirchen und Klöster geflüchtet haben, weiter verfolgen. Hier findet offenkundig der Versuch statt ganze Regionen „rückzuerobern“. Mit Unterstützung kenianischer Regierungen wurden in diesen Gebieten seit der Unabhängigkeit Kenias, 1963, Mitglieder anderer Ethnien angesiedelt. Viele der Neusiedler haben erfolgreich kleine und mittlere Farmen aufgebaut, die jetzt Plünderungen und Brandschatzungen zum Opfer fallen. Die Rolle des Rift Valley als „Brotkorb Kenias" ist damit gefährdet.

Die große Mehrheit der Kalenjin im Rift Valley hat im Dezember die ODM gewählt. Damit hat William Ruto, Führungsmitglied der ODM, den langjährigen Präsidenten Daniel arap Moi, der 2007 Kibaki unterstützt hat, als „big man" der Kalenjin-Politik abgelöst. Ruto dürfte für die Ereignisse im Rift Valley eine Mitverantwortung tragen. Ähnliche Muster ethnischer Auseinandersetzungen hat es bereits mehrfach – vor allem im Zusammenhang mit den Wahlen 1991 unter der Regierung Moi – gegeben, und sie waren politisch gesteuert.

Inzwischen ist offenkundig, dass die Angriffe auf die Neusiedler im Rift Valley seit den Wahlen in koordinierter Weise stattfanden. Innerhalb kürzester Zeit wurden ganze Landstriche durch Straßensperren abgeriegelt, so dass Sicherheitskräfte teilweise tagelang keinen Zugang hatten. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Angriffe systematisch vorbereitet wurden und auch (oder gerade) bei einem Wahlsieg Odingas stattgefunden hätten.
 
Szenarien

Ob es Kofi Annan gelingen wird, den Konflikt zu schlichten, bleibt abzuwarten. Momentan wäre es schon ein Erfolg, wenn direkte Gespräche zwischen Kibaki und Odinga zustande kämen. Ein wirklicher Durchbruch aber wären Verhandlungen über eine Teilung der Macht zwischen den beiden Kontrahenten. Auch wenn man an der Stabilität einer solchen Koalition zweifeln mag, würde sie doch ein Signal der Verständigung aussenden, das die kenianische Gesellschaft dringend braucht, soll sie nicht entlang ethnischer Linien auseinanderbrechen.

Kritiker eines solchen Szenarios wenden ein, eine Teilung der Macht böte keinen Anreiz, die tieferen Ursachen der Krise zu lösen. Dieses Risiko besteht tatsächlich – doch sollte ein Kompromiss nicht gelingen, sähe die Zukunft Kenias noch düsterer aus.

Falls die dieser Tage beginnende Vermittlung scheitern, dürfte Kibaki das Macht-Poker fürs Erste gewonnen haben. Allein dieses Kalkül begrenzt die Chancen Kofi Annans. Sollte Annan am Widerstand Kibakis scheitern, wäre das für die Opposition dennoch kein Gewinn, hätte sie doch die politische Initiative verloren. Eine wahrscheinliche Folge wären weitere Wellen der Gewalt, zumal bereits heute erkennbar ist, dass militante Kikuyu-Milizen (Mungiki) ihre Aktivitäten ausweiten. Die Chancen der Opposition, das Land durch Proteste lahm zu legen, stehen nach der Erfahrung der letzten Tage schlecht.
 
Im Parlament, das voraussichtlich erst in einigen Wochen wieder zusammentreten wird, muss die Regierung mit dem geballten Widerstand der Opposition rechnen. Allerdings ist nicht sicher, ob die Opposition ihre sehr knappe Mehrheit längerfristig wird wahren können. Im politischen Geschäft Kenias hat es Tradition, dass Parlamentarier der Opposition durch attraktive Angebote von der Regierung „übernommen werden“.

Kibaki könnte versuchen, skrupellos und brutal zu regieren, die demokratischen Institutionen jedoch zumindest formell zu bewahren – eben dies tat die Regierung Moi in den 1990er Jahren. Im Unterschied zu diesen dunklen Jahren bestünde heute allerdings eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaften entlang ethnischer Linien. Ein solches Szenario würde hohe politische und wirtschaftliche Kosten mit sich bringen.

Internationale Faktoren

Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia einzufrieren, wie es 17. Januar das Europäische Parlament gefordert hat, würde Kenia weniger treffen als andere Länder Afrikas; der Anteil sämtlicher Geberleistungen am Haushalt beträgt nur 7 Prozent. Streicht man Leistungen in den Bereichen Infrastruktur, Gesundheit und Bildung, ergäbe sich ein moralischen Dilemma: Der Bevölkerung Kenias würde geschadet, obwohl man doch eigentlich die Mitglieder der Regierung treffen will. Einreiseverbote in die EU wären für Kibaki und die Hardliner um ihn herum gewiss schmerzlich, doch würden sich die Betroffenen mit einem weiteren Ausbau der Beziehungen zu China revanchieren.

Das bedrückendste Szenario sieht anders aus. Kibaki könnte versuchen, wie einst Moi mit harter Hand zu regieren, aber am wachsenden Widerstand und zunehmender Gewalt scheitern. Schon jetzt ist auf Demonstrationen in Kisumu die Forderung „Gebt uns Gewehre" zu hören. Zwar erscheint eine bewaffnete Erhebung angesichts der Stärke und bisherigen Loyalität der kenianischen Sicherheitskräfte wenig wahrscheinlich. Vorstellbar ist jedoch, dass sich die Unruhen vor allem in den westlichen Teilen Kenias und im Rift Valley  ausweiten und diese Landesteile unregierbar machen. Dies könnte dann den Nachbarn Uganda auf den Plan rufen.

Uganda ist von den Transportwegen durch Kenia existentiell abhängig. Bereits wenige Tage nach dem Ausbruch der Unruhen in Kenia kam es in Uganda zu Engpässen bei der Versorgung. Gerüchte über die Präsenz ugandischer Armeeangehöriger im Westen Kenias kursieren bereits seit längerem. Viele ODM-Anhänger unterstellen Ugandas Präsidenten Yoweri Museveni, er würde Kibaki bedingungslos unterstützen. Manche Protestformen der letzten Tage – etwa die Demontage der Bahnstrecke nach Uganda in Nairobis Slum Kibera oder eine eintägige Blockade des LKW-Verkehrs bei Eldoret – richteten sich explizit gegen Uganda. Im Extremfall könnten solche Aktionen genau das provozieren, wogegen sie sich wenden: eine Intervention des ugandischen Militärs in Kenia. Damit aber würde aus der innenpolitischen Krise Kenias ein regionales Sicherheitsproblem.

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