Spiele im Minenfeld

17. April 2008
Von Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Die Spannungen um diese olympischen Spiele können einem eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Wenigstens vier Obsessionen kommen einander in die Quere. Der Westen ist hin und her gerissen zwischen der Faszination vom gewaltigen Aufschwung Chinas in den  letzten 15 Jahren und der Bewunderung für einen Dalai Lama, der ihm zum Inbegriff von Weisheit und Moral geworden ist. China will sich bei diesen Spielen seine Rückkehr in den Rang einer Weltmacht glanzvoll bestätigen lassen. Und eine Reihe von weniger durchgeistigten Tibetern will sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Weltöffentlichkeit auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Als Hintergrund entwickelt sich eine Finanz- und Wirtschaftskrise, auf deren Verlauf, die Entwicklungen in China beträchtlichen Einfluss nehmen werden. In einer solchen Situation können unvorhergesehene, auch an sich kleine Ereignisse während der Spiele, große Wirkungen erzielen, die kaum wieder unter Kontrolle zu bringen sind.

Mit dem Westen schaut Deutschland wie gebannt auf China. Aus gutem Grund, wenn zu lesen ist, dass Chinas Währungsreserven im Jahresvergleich noch einmal um 40 Prozent gestiegen sind und Ende März ein Volumen von 1,68 Billionen Dollar erreicht haben. Das ist ein dreizehnstelliger Betrag: „Kein anderes Land verfügt über einen so großen Bestand an Fremdwährungen. Der Zuwachs in den vergangenen zwölf Monaten war beispielsweise größer als das jährliche Bruttoinlandsprodukt Neuseelands. Alleine im ersten Quartal stiegen die Devisenreserven um weitere 154 Milliarden Dollar. Die florierenden Exporte und Investitionen ausländischer Anleger spülen so viel Geld nach China, dass die Regierung Probleme hat Geldmenge und Inflation in den Griff zu bekommen.“ (FAZ 12.4.08) Die Verbraucherpreise steigen inzwischen so schnell wie seit elf Jahren nicht mehr. Im Februar stiegen sie gegenüber dem Vorjahr um 8,7 Prozent, nachdem die schlimmsten Winterstürme seit einem halben Jahrhundert die Nahrungsmittelversorgung teilweise unterbrochen hatten. Die Anspannung der globalen Ernährungslage wird die Preise weiter in die Höhe treiben. Olympische Spiele haben noch nie und nirgends preisdämpfend gewirkt. Daran wird auch die Erhöhung der Leitzinsen, die jetzt 7,5 Prozent betragen, nichts ändern.

„China ist dem Westen unheimlich“, heißt es in der Süddeutschen Zeitung: „Das Milliardenvolk schwingt sich auf, die führende Macht der Weltwirtschaft zu werden. Gerade mit Blick auf diese ehrgeizige Nation plant die Bundesregierung ein Gesetz, das den Zugang staatlicher Investitionen in Deutschland behindern will.“ China soll auf seinem Geld sitzen bleiben. Doch, wenn die Chinesen den westlichen Industrienationen schaden wollten, müssten sie nur ihre bisherigen Investitionen abziehen, meint der Kommentator (28.3.08). China ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Faktor der weltwirtschaftlichen Stabilität geworden. Zugleich wird es bei einer weiteren Steigerung der Lebensmittelpreise unter erheblichen inneren Druck geraten.

Unter solchen Bedingungen fällt es nicht ganz leicht, sich an Erwartungen an das „Hoffnungsland des Luxus“ hoch zu ziehen. Philippe Schaus von Louis Vuitton erzählt das Unternehmen habe bereits zwanzig Geschäfte in China. Sechs weitere sollen in diesem Jahr hinzukommen: „Noch vor zehn Jahren hätten dort viele auf die Frage nach ihrem größten Wunsch gesagt, sie hätten gern ein Motorrad, würden gerne mal nach Peking fahren oder in einem Restaurant essen. Deswegen müssen wir die Kunden zum Luxus erziehen.“

Dabei setzt der Luxuspädagoge auf „Shops, die mehr als Weltklasse“ sind: „Wir bauen die größten Geschäfte mit den größten Schaufenstern in China. Weil man dort die Luxusmarken noch nicht so gut kennt, ist das äußere Erscheinungsbild entscheidend.“ (FAZ 11.4.08) Bei den Klitschen, in denen die Imitate für den europäischen Markt ausgeschwitzt werden, kommt es darauf weniger an.

Ich sage nur China, China, China, beschwor Kanzler Kiesinger 1968 die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in einer Debatte über die Studentenbewegung. In etwas anderem Sinn gehört heute das Wissen um die Bedeutung Chinas zum Einmaleins jedes mittelständischen Unternehmers.
Im Run auf den chinesischen Markt scheint der Dalai Lama in seinem indischen Exil ein spirituelles Gegengewicht zu bieten. Gerade jetzt reißen sich Politiker wieder um Fototermine. Da gehört schon ein bisschen Mut dazu, sich wie Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung über den „Dalailismus“ als die „ideale Religion für den Daseinserschöpften Westler“ lustig zu machen: „Wenn der Katholizismus oder auch der Islam in seiner fundamentalistischen und barttragenden Observanz dem Gläubigen die strenge Kammer offeriert, so schließt der Dalai Lama den Sinn- und Gottsuchern, den frei flottierenden Religions-Shoppern den Wellness-Bereich auf:  „Ich zum Beispiel bin Buddhist, aber gleichzeitig achte und schätze ich das Christentum und die anderen Religionen.“

Die Empfangstermine für den Dalai Lama sind für die westlichen Politiker wohlfeile Kompensation. Ohne Wirkung bleiben sie dennoch nicht. Soweit der Dalai Lama in Tibet als Staatsoberhaupt im Exil verstanden wird, wirken sie als Ermutigung in Richtung Lostrennung. Und so versteht sie auch die chinesische Regierung, zumal wenn der Privatbesuch in Staatsgebäuden stattfindet.

Die Unruhen in Tibet und in angrenzenden Provinzen mit tibetischer Bevölkerung wurden hierzulande zunächst ganz im Licht einer vom Dalai Lama gepredigten Gewaltlosigkeit wahrgenommen. Dabei handelte es sich um einen sichtlich gewalttätigen Aufruhr gegen die als aufgezwungen empfundene und von der chinesischen Regierung unter großem Kapitaleinsatz voran getriebene Modernisierung der Infrastruktur und Förderung wirtschaftlicher Aktivitäten. Dieser Aufruhr ist verständlich, weil die Modernisierung mit Einwanderung verbunden ist, die den Charakter Tibets nicht nur kulturell, sondern auch in seiner ethnischen Zusammensetzung verändert. Von Teilen der tibetischen Bevölkerung wird die Modernisierung und Wirtschaftsförderung als Unterdrückung, Überfremdung und Verdrängung empfunden, auf die sie jetzt mit Angriffen auf Migranten und deren Eigentum antworteten.

Solche Angriffe kommen in ähnlicher Form auch in anderen Teilen Asiens und der Welt immer wieder vor. Politisch rechtfertigen ließen sie sich allerdings nur, wenn die chinesische Modernisierungsstrategie als Anschlag auf eine ethnisch und religiös begründete tibetische Staatsbildung verstanden würde, auf eine staatliche Unabhängigkeit also, die notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werden muss. Dieser Notfall wäre aus dieser Sicht mit der Modernisierung von oben und außen gegeben. Von „kulturellem Genozid“ spricht auch der Dalai Lama.

So gesehen, steht auf beiden Seiten viel auf dem Spiel: die ethnische und religiöse Identität der Tibeter und die Einheit des Staates auf Seiten Chinas. Aber muss man es so sehen? Von Beobachtern, die keiner der beiden Seiten zuzurechnen sind, wird an der chinesischen Modernisierungsstrategie kritisiert, dass viel zu wenig Mittel in Schul- und Universitätsbildung gelenkt werden, um so der tibetischen Bevölkerung die Teilhabe an der Entwicklung der Provinz zu ermöglichen. Da dies wiederum nicht ohne den Einsatz von nichttibetischen Lehrern gelingen könnte, würde damit aber neuen Vorwürfen Tor und Tür geöffnet. Kurz und schlecht: Der Konflikt um Tibet ist so kompliziert und verbissen, dass vernünftiges Engagement von außen nur auf geduldige Vermittlung setzen kann. Eine Grundvoraussetzung dafür ist Transparenz und Zugänglichkeit.

Umsichtige Korrespondenten wie Georg Blume (Die Zeit) und Mark Siemons (FAZ) schreiben aus China, bis in die Reihen der Kritiker der offiziellen Politik hinein werde beklagt, dass die westlichen Berichte und Stellungnahmen zu den Auseinandersetzungen in Tibet einseitig und ungerecht seien. Ein Gefühl, feindselig behandelt zu werden, scheint sich breit zu machen. Es würde, begründet oder nicht, zu einem weiteren schwer kalkulierbaren Faktor im Vorfeld der Spiele in Peking. Es von oben zu schüren, kann die Regierung eigentlich kein Interesse haben, da China sich ja gastfreundlich und zuvorkommend darstellen soll. Mit ihm müssten jedoch alle rechnen, die jetzt frisch, fromm, fröhlich und frei verkünden, der Protest gehöre ins Olympiastadion.

Eher scheinen auf allen Seiten Lockerungsübungen angebracht. Und da kann man dann wieder ganz beim Dalai Lama sein, der in Seattle gerade dazu aufgerufen hat, das 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Dialogs zu machen. Nach dem Blutvergießen im 20. Jahrhundert habe die Welt die Verpflichtung zur Umkehr. Vielleicht lassen sich die Spiele in Peking ja doch als Gesprächssituation nutzen. Im Gespräch lässt sich nachhaken und kritisieren. Als erstes vor den Kopf zu stoßen, ist vielleicht nicht die beste Gesprächseröffnung.

Samuel Huntington lässt bekanntlich sein Buch über den Clash of Civilizations in ein Kriegsszenario zwischen China und dem Westen münden, bevor er Vorschläge macht, wie es vielleicht zu vermeiden wäre. Sein „multipolares“ Weltbild führt in die Irre und zu diesem Szenario. Die enge weltwirtschaftliche Vernetzung bildet Knotenpunkte der Kooperation und Integration, aber keine imperialen Pole wie im Zwanzigsten Jahrhundert. Deshalb hat ja der Dialog eine Chance. Doch Netze sind empfindlich.
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