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Soziale Sicherheit zwischen Respekt gegenüber dem Einzelnen und Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft

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8. September 2008
Von Sebastian Wienges
Von Sebastian Wienges

Märkte sind zwar effiziente Suchinstrumente für innovative Lösungen und können Bedürfnisse von Menschen decken. Sie versagen aber darin, sicherzustellen, dass alle Individuen in ausreichendem Umfang zumindest ihre existentiellen Bedürfnisse befriedigen können.

Märkte taugen nicht zur sozialen Sicherung

Alte, Kranke, Arbeitslose werden von Märkten marginalisiert. Märkte taugen nicht zur sozialen Sicherung. An dieser Stelle braucht eine Nachhaltige Marktwirtschaft eine Ergänzung: ein soziales Netz, das einerseits effizient sein soll, andererseits fair individuelle Bedarfe und Leistungsfähigkeit festlegt.

Tatsächlich setzt jede Form der sozialen Grundsicherung durch monetäre Leistungen der Gemeinschaft Anreize, in den Genuss dieser Leistungen zu gelangen, statt sie selbst zu erarbeiten. Im wirtschaftswissenschaftlichen Jargon werden solche Akteure „free rider“ und „shirker“ – Trittbrettfahrer und Drückeberger – genannt. Eine effiziente soziale Sicherung muss solches Verhalten vermeiden und eben diese Akteure integrieren und aktivieren.

Doch wo der Staat bzw. seine ausführenden Organe Bedarfe und Leistungsfähigkeit des Einzelnen beurteilen sollen, ist es für den Staat fast unmöglich, dem Einzelnen gerecht zu werden. Dazu bedürfte es einer Informationsfülle, über die wohl niemand außer der Betroffene und sein persönliches Umfeld verfügen und deren Zugang den Zugriff des Staates in Sphären erweitern müsste, die die individuelle Freiheit gefährlich einengen würde.
So droht staatliche soziale Sicherung, entweder Individuen entwürdigend und ungerecht zu behandeln oder ineffizient und unbezahlbar zu werden.

Respekt und Verantwortung sind notwendig

Damit geht eine Debatte einher, die sowohl Respekt gegenüber dem Individuum als auch dessen Verantwortung gegenüber der Solidargemeinschaft verlangt – und teilweise beide Forderungen einander gegenüber stellt und gegeneinander ausspielt. Eigentlich jedoch sind Respekt und Verantwortung untrennbar miteinander verbunden. Nur wer Respekt auch vor denjenigen hat, die am wenigsten zum Gemeinwesen beitragen – ob am oberen oder unteren Ende der Einkommensskala –, kann auch deren Stärken und Potenziale erkennen, ihnen eine sinnvolle und produktive Rolle in der Gemeinschaft zuerkennen und sie integrieren.

Die momentan öffentlich diskutierten verschiedenen Modelle der sozialen Sicherung müssen daher Antworten auf die Fragen nach individueller Fairness und sozialer Gerechtigkeit einerseits und Effizienz und Finanzierbarkeit andererseits geben, die beides miteinander verbinden. Diese Debatte zeugt davon, dass Arbeit neben der Funktion, eine materielle Lebensgrundlage zu erwirtschaften, noch eine weitere Funktion hat: eine an Anerkennung der Mitmenschen orientierte. Neben dem Homo oeconomicus steckt nämlich noch ein Homo sociologicus in jedem Menschen. Nur allzu oft wird diese zweite Funktion aber vernachlässigt oder gerade im Gegenteil verabsolutiert.

Tatsächlich trifft wohl jeder Mensch Wertentscheidungen, die sowohl materielle Anreize, sprich ein monetäres Einkommen, als auch die (nicht mit Geld zu kaufende und auch kaum in Geldeinheiten zu bemessende) Anerkennung seiner Umwelt, sprich zwischenmenschliche Regungen, in Erwägung ziehen. Was dabei nun jeweils stärker gewichtet wird, dürfte individuell und sogar auch situativ sehr unterschiedlich sein.

Transferempfänger: Isolation, Integration und Anerkennung

Normative Vorstellungen bestimmen neben monetären Anreizen mit, ob und wie viel ein Individuum sich bei der Arbeit, der Arbeitssuche und in seiner Gemeinschaft engagiert und Verantwortung für sich selbst und andere übernimmt. Der Wirtschaftsnobelpreisträger George Akerlof erkannte die Bedeutung sozialer Normen und der sozialen Einbindung in Arbeitszusammenhängen und berücksichtigte sie in seinem Modell von Arbeitsbeziehungen.
Fehlt die Einbindung in eine soziale Gruppe, wie etwa im Falle der Arbeitslosigkeit, werden leistungsfördernde Normen abgelegt. Tatsächlich isolieren sich Langzeitarbeitslose bzw. werden isoliert, ihre sozialen Kontakte vermindern sich, sie werden marginalisiert, zum Teil wird von einer Stigmatisierung gesprochen, und es kommt zu einer Dequalifizierung an sich. Damit geht eine Demoralisierung und Gewöhnung an die Alimentierung und die Arbeitslosigkeit einher, was insbesondere fatal auf eine in diesen Umständen aufwachsende nächste Generation und deren normative Vorstellungen wirkt.

Dem liegt zugrunde, dass soziale Beziehungen und normative Vorstellungen sich gegenseitig bedingen. Nur wenn Individuen den Erwartungen an die Rolle, die sie in der Gemeinschaft spielen, entsprechen, bleibt das Netz der Beziehungen, in das sie eingebettet sind, erhalten. Verstößt ein Individuum gegen die normativ an ihn oder sie gerichteten Ansprüche, erodiert die Einbindung in die Gemeinschaft.

Soziale Beziehungen und Norm – Gesetzmäßigkeiten

Arbeitslose dürfen den Normen ihrer Gemeinschaft entsprechend nicht als „faul“ gelten, Einkommensinhaber müssen mit ihrem Einkommen und Eigentum verantwortlich umgehen, um „Sozialneid“ auf hohes Einkommen zu vermeiden. Umgekehrt werden Menschen aber auch für die verantwortungsvolle Erfüllung der eigenen Rolle in der Gemeinschaft positive zwischenmenschliche Gefühle entgegengebracht und Anerkennung gezollt. Insofern gibt es durchaus Anreize, sich dem Erwartungsdruck einer Gemeinschaft auszusetzen. Andererseits mag es für jemanden, der es nicht mehr schafft, diesen Erwartungen gerecht zu werden, durchaus rational sein, sich dem Druck zu entziehen, soziale Beziehungen aufzugeben und sich zu desintegrieren.

Allerdings hängt vom Grad der Integration und von den Beziehungen eines Individuums stark ab, welche Chancen er oder sie hat, eine seiner oder ihrer Leistungsfähigkeit und Interessen angemessene Arbeit zu finden. Denn gemäß dem Motto „Beziehungen schaden nur dem, der keine hat“ erhöhen weite Beziehungsnetze die Wahrscheinlichkeit für ein Individuum, von freien Stellen zu erfahren und Arbeit zu finden, wie der Soziologe Mark Granovetter zeigen konnte.

Insofern steigern viele, weit verzweigte Beziehungen die Anerkennung, die ein Individuum genießt – vorausgesetzt es verhält sich in diesen Beziehungen normativ angemessen – und auch die Chancen auf Arbeit und damit auf Einkommen. Diese Anerkennung ist auch der Grund, warum Individuen sich selbständig durch eigene Arbeit versorgen, obwohl ihr Einkommen kaum die Höhe des Transfers der sozialen Grundsicherung übersteigt.

Umgekehrt kann eine Nicht-Erfüllung der Normen dazu führen, dass Anerkennung entzogen wird und die Beziehungsbasis erodiert oder, wenn keine Reziprozität unter Gleichgestellten mehr gegeben ist, Abhängigkeiten entstehen und die Beziehung hierarchisch wird. Der sozial Untergeordnete wird stigmatisiert. Solange ein staatliches System zumindest materielle Abhängigkeiten vermeidet bzw. anonym zwischen Transferempfänger und Solidargemeinschaft gestaltet, ist es daher für viele Menschen nur allzu nachvollziehbar, sich nicht-reziproken, stigmatisierenden Beziehungen zu entziehen. Leider mindern sich damit aber eben auch die Chancen, mit Hilfe solcher Beziehungen, wieder Arbeit zu finden und integriert zu werden.

Langfristig mögen Beziehungen hilfreich sein, kurzfristig können sie sehr unangenehm sein. Das Individuum muss den Druck der Gemeinschaft aushalten. Denn dieser Druck hat eben die Funktion, Anreize zur Selbsthilfe zu setzen, und die Beziehungen der Gemeinschaft können Hilfe zur Selbsthilfe sein.

Transfergeber: Sozialneid und soziale Verantwortung

Doch Verantwortung sich selbst und der sozialen Gemeinschaft gegenüber kann nicht nur von den Schwächsten der Gesellschaft verlangt werden. Es muss genauso für alle anderen Mitglieder der Gesellschaft gelten, also auch für diejenigen, die aufgrund ihrer Arbeit, ihres Alters und ihrer Gesundheit integriert sind und am gesellschaftlichen Leben partizipieren können. Und auch für diese gilt es, normativen Vorstellungen zu entsprechen, um so die Anerkennung ihrer Mitmenschen genießen zu dürfen.

D.h. bei gleich bleibendem Einkommen kann ein Individuum dadurch, wie es sich zu seinen Mitmenschen verhält und wie es Verantwortung für andere übernimmt und sich um sie kümmert, mehr oder weniger Anerkennung genießen. Geldeinkommen ermöglicht materielle Unabhängigkeit, doch all die Werte, die den Menschen zu einem sozialen Wesen machen, sind kaum mit Geld zu erwerben oder mit Geld zu beziffern.

Dennoch bringen soziale Beziehungen auch Kosten mit sich, die zum Teil monetärer Natur sind, zum Teil einfach unangenehme Pflichten auferlegen. Insofern haben auch diejenigen, die vollständig in die Gesellschaft integriert sind, einen Anreiz, einerseits sich zumindest von bestimmten Mitmenschen und Gruppen in ihrem Umfeld zu distanzieren – typischerweise sind dies die Alten, Kranken oder solche, die einen sozialen Abstieg erleben – und Beziehungen abzubrechen, was aber als illoyal wahrgenommen und mit einem geringeren Ansehen in der Gemeinschaft sanktioniert werden kann.

Andererseits wird gerade ein verantwortungsvoller Umgang mit den schwächeren Mitgliedern der Gemeinschaft anerkannt und können Beziehungen gerade zu anderen Gruppen und Individuen beiderseits besonders wertvoll für den Zugang zu neuen Informationen, Ressourcen und Fähigkeiten sein, über die man selbst sonst kaum verfügt, wie der schon erwähnte Forscher Mark Granovetter zeigen konnte.

Die Empfehlung – für alle Beteiligten gut

Eine Empfehlung auf der Grundlage persönlicher Beziehungen für einen Arbeitsplatz dient so dem Empfohlenen, seine Leistungsfähigkeit auszuschöpfen und sich gesellschaftlich zu integrieren und zu partizipieren, dem Arbeitgeber dient die Empfehlung quasi als eine Sicherheit für eine angemessene Auswahl möglicher Arbeitnehmer, während der Empfehlende in erster Linie soziale Anerkennung für seine Vermittlungsleistung erfährt.

Langfristig mögen also auch hier soziale Beziehungen Anerkennung und Einkommensmöglichkeiten vergrößern, kurzfristig bringen sie aber Kosten mit sich und können statt Anerkennung durchaus auch zu Mitleid führen, was den Bemitleideten in eine untergeordnete soziale Rolle bringt. Doch gerade die Schwachen und Abhängigen brauchen die Integration in ein soziales Netz. Für sie ist die Unterbrechung solcher Beziehungen oft fatal.

Umgekehrt können Individuen aber auch aus ihrer Gemeinschaft „herauswachsen“, etwa durch ein deutlich höheres Bildungs- oder Einkommensniveau oder den „Aufstieg“ in andere soziale Umfelder. Auch dies kann - obwohl an sich anerkannt - dazu führen, dass die leistungsstärkeren Mitglieder die normativen Erwartungen der Gemeinschaft an sie nicht mehr erfüllen und sie so faktisch ausgeschlossen werden. Dies führt zwar selten in existenzielle Nöte, ist aber für das soziale Wesen Mensch ebenso belastend. Größeres Einkommen, größere Anerkennung führt auch zu größeren normativ begründeten Ansprüchen an das Individuum, die dieses verantwortungsvoll erfüllen muss, um sein oder ihr soziales Netz zu erhalten.

Trade off zwischen langfristigen und kurzfristigen Chancen

Das Abwägen – sowohl  für Transfergeber als auch für Transfernehmer – besteht in der Entscheidung zwischen:

  • kurzfristigen Anreizen, sich zu isolieren, um so der Stigmatisierung der Arbeitslosigkeit durch ihr soziales Umfeld oder den Ansprüchen ihres sozialen Umfeldes zu entgehen,
  • und langfristigen Chancen bei Erhaltung der sozialen Beziehungen, Investieren in  Kontakte und soziales Netz, Erweiterung ihrer Gemeinschaft und Diversifizierung, um so bessere Einkommens- und Teilhabechancen im Allgemeinen zu haben und auch größere Anerkennung für ihre soziale Rolle zu genießen.

Insofern besteht ein Kompromiss zwischen kurzfristigen und langfristigen Optionen, bei denen ein gesellschaftliches Interesse an langfristiger hoher sozialer Integration in soziale Netze besteht, da der damit verbundene hohe Grad der gesellschaftlichen Integration eine effiziente Arbeitsvermittlung und Leistungen der sozialen Sicherung erlaubt, die über finanzielle Transfers hinausgehen, diese ergänzen und durch sie kaum zu ersetzen sind.

Es gilt also zu verhindern, dass Individuen kurzfristigen Anreizen folgen und ihre soziale Integration reduzieren. Davon profitieren letztendlich sowohl Transfernehmer als auch Transfergeber, da die ersteren größere Chancen auf Integration und soziale Teilhabe, die letzteren in der Summe geringere Transfers leisten müssten. Und beide Seiten in funktionierenden kleinen sozialen Netzen Anerkennung für die ihren Kapazitäten entsprechenden Leistungen erführen.

Rein monetäre Transfers reichen nicht aus

Umgekehrt führt aber die Erosion solcher sozialen Netze zu einer adversen Selektion (-> negative Risikoauslese) innerhalb von Gemeinschaften, die die Schwächsten aussortiert und zunehmend homogenere Gemeinschaften zurücklässt, denen der Zugang zu diversen und innovationsfördernden Informationen, Ressourcen und Fähigkeiten bzw. Qualifikationsprofilen fehlt.

Der Homo oeconomicus ist ein einzelgängerischer Individualist, der möglichst unabhängig von anderen Menschen ist, seine Grundsicherung von anonymen Finanzinstitutionen bezieht und auch selbst nicht solidarisch Verantwortung für Mitmenschen übernehmen will. Gerade dies ist aber notwendig für eine effiziente soziale Sicherung. Da der Mensch eben kein Homo oeconomicus ist, sondern dieses Modell nur einen Aspekt beschreibt, den des Homo sociologicus aber vernachlässigt und daher auch die sozialen Mechanismen, die unseren Märkten und Gesellschaftssystemen zugrunde liegen. Das muss auch bei der Gestaltung unserer sozialen Sicherungssysteme bedacht werden. Rein monetäre Transfers sind deshalb nicht ausreichend. Gemeinschaften und kleine Netze funktionieren, aber nicht so sehr über monetäre Anreize als durch soziale Mechanismen, die durchaus Beiträge zu einer Sicherung gegen existenzielle Nöte bieten.

Bürgerarbeit, lokale Währungen: Die Selbstorganisation der Gesellschaft

Soziale Mechanismen können als Basis vom und als Ergänzung zum Markt genutzt werden. Tatsächlich geschieht dies auch schon in Ansätzen in verschiedenen Industriegesellschaften.

Japan hat von allen OECD-Ländern die effizienteste soziale Sicherung gemessen am Verhältnis der staatlich organisierten Aufwendungen zur Rate der Armen. Dies mag daran liegen, dass in Japan viele Leistungen der sozialen Sicherung von der Familie erbracht werden müssen, statt öffentlich finanziert und organisiert zu werden. Dennoch stößt auch Japan zunehmend auf die Probleme anderer Industrieländer mit deren sozialen Systemen.

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass in Japan einige Gemeinden eine lokale Währung, ein Gemeindegeld, eingeführt haben, die drei Ziele verfolgen, wie Ikuma Saga, Volkswirt des Japan Research Institute erklärt: „Erstens: die Beziehungen zwischen den Menschen einer bestimmten Gemeinschaft wiederzubeleben oder zu festigen, um das Sozialgefüge zu festigen. Zweitens: Projekte zu unterstützen, für die keine finanziellen Mittel in den Kommunen vorhanden sind. Dazu können Aufräumarbeiten, der Umwelt- und Naturschutz und Bereiche der Armen- und Altenpflege zählen. Also alles Vorhaben, die für das Leben in der Gemeinde wichtig sind. Das dritte Ziel eines Gemeindegeldes sind die Wiederbelebung lokaler Wirtschaftskreisläufe und die Förderung unternehmerischen Handelns.“

Dieses Gemeindegeld wird von den Unternehmern einer Gemeinde für gemeinnützige Arbeiten an Arbeitslose, Obdachlose und ähnliche Gruppen von Bedürftigen ausgegeben. Dieses Gemeindegeld steht nicht in Konkurrenz mit dem Yen, da es nur in der jeweils ausgebenden Gemeinde verwendet werden kann, nicht im ganzen Land. Deshalb ermöglicht es in erster Linie nur den Konsum lokal produzierter Güter und Waren, was eben die lokalen Wirtschaftskreisläufe stützt und gegenüber einem Einkommen in der Landeswährung eine Einschränkung darstellt. Insofern stellt es einen Transfer der Unternehmer einer Gemeinde dar, dem Leistungen im den Bedürftigen möglichen Rahmen gegenüberstehen müssen. In gewissem Sinne materialisiert eine solche Währung das Sozialkapital, das aus den funktionierenden sozialen Mechanismen in zwischenmenschlichen Beziehungen entsteht.

Tauschringe in Europa

Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in Europa. Dort werden sie Tauschringe oder Regionalgeld genannt. Die lokale Entwicklung und die Förderung des Gemeinnutzes werden hier frei von staatlicher Regulierung von den Menschen selbst organisiert. Die Fähigkeiten jedes und jeder Einzelnen können hier vermarktet werden, auch wenn die Kaufkraft oder die Nachfrage nach ihnen im freien Markt gerade nicht ausreicht. Deshalb beteiligen sich in diesen lokalen Netzen insbesondere sozial und wirtschaftlich an den Rand gedrängte Gruppen. Doch dieser gesellschaftlich selbst organisierte „zweite“ Markt für Sozialkapital, zur Bereitstellung lokaler Gemeinschaftsgüter und für die soziale Teilhabe folgt eben nicht rein monetären Anreizen, sondern vor allem sozialen Mechanismen. Leute kennen lernen und die Ausweitung bzw. Festigung des eigenen sozialen Netzes stehen im Vordergrund. In diesem Sozialkapital, der Vernetzung von Menschen, liegt laut Gert Wagner vom DIW die Basis für Wirtschaftswachstum.

Organisierte Bürgerarbeit gehört dazu

Letztlich setzt auch das Konzept der lokal organisierten Bürgerarbeit an diesem Ansatz an. Sie schafft einen Arbeitsmarkt für diejenigen, die sonst kaum noch partizipieren können, und produziert mit deren Arbeit eben die Leistungen, für die im freien Markt Nachfrage und Kaufkraft zu gering wären, die aber nichtsdestotrotz in der lokalen Gemeinschaft benötigt werden. Der größte Effekt, den die Bürgerarbeitprogramme aber haben, ist der eines gesteigerten Selbstwertgefühl, größerer Anerkennung, die einerseits als Motivation zu arbeiten fungieren, andererseits die Arbeitsfähigkeit und die Ausschöpfung individueller Potenziale verbessern.

Auf diese Weise gelingt es, dass dem oder der Einzelnen solidarisch geholfen wird, seiner oder ihrer Verantwortung sich selbst gegenüber ebenso gerecht zu werden wie der Gemeinschaft gegenüber. Gerade im Respekt vor dem Individuum liegt der Schlüssel für dessen Integration und Anerkennung und der Erfüllung der Forderung nach Gegenleistungen für die in Anspruch genommene Solidarität.

Menschenbild zwischen Effizienz- und Fairness-Vorstellungen

Wir müssen uns entscheiden: Finden wir es unmenschlich und würdelos, Individuen dem Druck der Gemeinschaft und dem Wertesystem auszusetzen, wenn sie deren normativen Erwartungen nicht entsprechen? Oder finden wir das einfach natürlich und wollen Individuen eher vor existenzieller, materieller Not schützen und erwarten dafür auch eine Leistung im Rahmen ihrer Fähigkeiten?

Welcher Bedarf und welche erwartbare Leistung dann als fair angesehen werden, dürfte stark individuell und situativ unterschiedlich sein. Die Rolle des Staates wird da notgedrungen immer nur eine, die Mindeststandards gewährleistet, sein können. Die Menschen und Gemeinschaften selbst müssen und können in einer demokratisch konstituierten Gesellschaft alles darüber hinaus Gehende effektiver, effizienter und nachhaltiger regeln.