10. März 2006
Die differenzierte Kritik von Gen- und Biotechnologie und moderner Biomedizin war und ist ein Markenzeichen der Grünen. In die Zeit der grünen Regierungsbeteiligung fielen eine ganze Reihe von zentralen biopolitischen Entscheidungen, in denen die Grünen erheblichen Einfluss geltend machen konnten: Dazu gehören Gesetze und Gesetzesinitiativen wie das Stammzellgesetz und das Gendiagnostikgesetz, die Umsetzung europäischer Richtlinien wie der Biopatentrichtlinie und der 'Guidelines for Good Clinical Practice' sowie Entscheidungen zur deutschen Haltung bezüglich der europäischen Forschungsförderungspolitik und zu den Verhandlungen um die UN-Konvention gegen das Klonen von Menschen, aus der eine UN-Deklaration wurde.
Ein Grund für den Einfluss der Grünen liegt darin, dass Engführungen weitgehend vermieden wurden: Standortlogiken (Biomedizin als Zukunftsmarkt) und die Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen wurden nicht ausgeblendet, aber auch nicht als die allein entscheidenden Fragen an-erkannt. Vielmehr wurden auch andere Aspekte wie PatientInnenrechte, soziale und internationale Gerechtigkeit sowie die gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen biomedizinischer Forschung thematisiert.
Klärungsbedarf besteht - gerade angesichts dieses hohen konzeptionellen Anspruchs - immer neu in der Auseinandersetzung mit dem sich dynamisch entwickelnden Politikfeld. Dazu gehört wesentlich die Frage danach, was unter Selbstbestimmung und Eigenverantwortung im Kontext von Genforschung und Bio- und moderner Medizin verstanden werden soll. Für beide Konzepte haben die Grünen eine 'Bewegungsgeschichte' die allerdings keineswegs zu widerspruchsfreien Antworten führt. Nicht nur in der feministischen Debatte hat die Auseinandersetzung um die Deklination der Begriffe eine teils subtile, teils offensichtliche Dynamik entwickelt. (Siehe im Fall von Abtreibung: Autonomie der Frau vs. die des Embryos?) Debatte und Gesetzgebung in diesem ethisch sensiblen Feld sind angesichts der gen- und biopolitischen Fortentwicklung längst noch nicht an ihr Ende gekommen.
In einer sozialwissenschaftlichen und philosophisch-ethischen Perspektive fragen wir danach, wie viel Selbstbestimmung und Eigenverantwortung das 'gesellschaftliche Individuum' tatsächlich hat und politisch verteidigen muss. Welcher normative Stellenwert kommt der Selbstbestimmung und der Eigenverantwortung der BürgerIn zu? In welchem Maß ist der Mann, ist die Frau in der Gesellschaft, in der er/sie lebt, frei und autonom, oder bringt Anstrengung auf, um Autonomie zu verteidigen - und in welchem Maß unterliegen Individuen Angleichungsdruck und gesellschaftlichem Zwang, verlangt die moderne Gesellschaft vice versa auch die Anstrengung zum Dazugehören ab? Inwieweit dient Selbstbestimmung der Emanzipation der Frau von ihren Vormündern (Mann, Staat), inwieweit ist sie funktional im Rahmen einer Autonomie von 'KonsumentInnen'?
Was bedeutet all dies für unsere aktuellen bio-politischen Debatten: um Sterbehilfe/Patientenverfügung/Behandlungsabbruch, um das Gendiagnostikgesetz mit weitreichenden Dimensionen der Diskriminierungsgefahr, um das Bremsen gegenüber Pränataldiagnostik bei gleichzeitigem Schutz der Selbstbestimmung der Schwangeren, um IVF-Tourismus und Eizellhandel in Europa? Kann Patientenautonomie im Namen von Selbstbestimmung vorausgesetzt werden, kann Eigenverantwortung generell eingefordert werden? Welchen Einfluss nehmen direkte und subtile gesellschaftliche Zwänge (hinsichtlich einer prädiktiven Gendiagnostik, einer Pränataldiagnostik, der 'Spende' von Körpermaterialen, der Teilnahme an einer klinischen Studie, etc.)? Wie und in welchem Maß kann politische Gestaltung die Bedingungen für Patientenautonomie möglichst förderlich gestalten, ohne Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu negieren, sondern sie im Gegenteil stark zu machen?
ReferentInnen
Prof. Weyma Lübbe (Universität Leipzig)
Prof. Jürgen Link (Universität Dortmund)
Dr. Sigrid Graumann (Institut Mensch, Ethik, Wissenschaft GmbH, Enquetekommission 'Ethik und Recht der modernen Medizin', Grüne Akademie)
Dr. Andreas Kuhlmann (Institut f.Sozialforschung Frankfurt/M., Wissenschaftsjournalist)
PD Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestags/ Bündnis 90/ Die Grünen, Grüne Akademie)
Ulrike Riedel (Staatssekretärin a.D., Rechtsanwältin, Enquetekommission 'Ethik und Recht der modernen Medizin', Grüne Akademie)
Sabine Riewenherm (Referentin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für Gentechnik. Biologin und langjährige Redakteurin des "Gen-ethischen Informationsdienstes" (GiD))
u.a.