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Die globale Finanzkrise prüft die Gemeinschaft

Die erlaubte Krümmung von Gurken hat die EU geregelt, Finanzprodukte nicht.
Foto: Rainer Zenz. Dieses Bild steht unter einer GNU-Lizenz.

EU in der Bewährungsprobe

22. Oktober 2008
Von Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Der diesjährige Nobelpreisträger für Ökonomie hat Humor. Manchmal mag er sich etwas makaber anhören. In der Fernsehshow Real Time with Bill Maher zum Beispiel soll Paul Krugman den Handel der USA mit den Chinesen als „fair und ausgeglichen“ charakterisiert haben: „Die schicken uns vergiftetes Spielzeug, wir revanchieren uns mit betrügerischen Wertpapieren.“ Dabei sei der Nobelpreisträger ganz ernst geblieben (1). Inwiefern fair? Die Gesetze des Äquivalententausches werden nicht verletzt, sondern vollzogen. Inwiefern ausgeglichen? Auf beiden Seiten des Äquivalententausches wird gleichermaßen nicht durchgeblickt oder betrogen. Wer will da von Marktversagen reden? Und doch gibt es einen Unterschied beim Tausch von Spielzeug mit „Finanzprodukten“.

Dem Spielzeug sieht man zwar nicht an, ob es vergiftet ist, doch lässt sich der Giftgehalt vergleichsweise leicht im Labor nachweisen. Es gibt Normen und Grenzen für die Inhaltsstoffe in Konsumgütern, an denen Kinder herumknabbern könnten. Sie werden also ähnlich strengen Kontrollen wie Nahrungsmittel unterzogen. Was Spielzeug enthalten darf und was nicht, ist den Produzenten und Exporteuren wie den Importeuren und Konsumenten bewusst, oder könnte ihnen doch bewusst sein. Werden also Verstöße bekannt, gibt es einen Skandal. Die Ware muss aus den Regalen genommen werden, und die Lieferantenkette wird bis zu den Schuldigen zurückverfolgt, um sie zivilrechtlich und eventuell strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Auch die chinesischen Grenzen schützen hier die Betrüger nicht grundsätzlich, denn China hat ein wachsendes Interesse an einem guten Ruf als Exporteur.

Finanz- und andere Produkte

Mit den Finanzprodukten als Resultat eines immer raffinierteren „finance engineering“ sieht es anders aus. Da sie nicht für den Verbrauch in Konsum oder Produktion bestimmt sind, unterliegen sie keiner strengen Kontrolle, sondern lediglich einer Bewertung, bei der das Verhältnis von prognostizierter Rendite und absehbarem Risiko mehr oder weniger sorgfältig eingeschätzt wird. Da sich Finanzprodukte in Fristen, extrem kurzen oder sehr langen, bewähren müssen, können sie nur über den Daumen gepeilt beurteilt werden. Die Faktoren, die auf ihre Bewertung Einfluss nehmen können, sind vielfältig, schon im Einzelnen und erst recht in ihrem Zusammenwirken nicht leicht einzuschätzen. Umso genauer müsste aufgelistet sein, was in so einem Produkt drinsteckt und wie es funktioniert. Das ist bekanntlich nicht der Fall. Staatsversagen? Einer wie Michael Rogowski, vor kurzem noch BDI-Präsident und jeder Chemierichtlinie abhold, meint jetzt: „Verschiedene Produkte, die der Finanzmarkt kreiert hat, gehören einfach verboten.“(2) Vor allem das „einfach“ klingt aus Rogowskis Mund pikant.

Ob Spielzeug vergiftet ist oder nicht, lässt sich, wenn ein Verdacht erst einmal aufgekommen ist, an vorgegebenen Normen zweifelsfrei messen. Ob ein Finanzprodukt von vornherein in betrügerischer Absicht zusammen gebastelt wurde oder sein Käufer einfach Pech hatte, lässt sich dagegen nicht so eindeutig klären.

Der Krümmungsgrad der Gurke

Für Waren gibt es den europäischen Binnenmarkt, mit seinen genauen Normen. Was eine Gurke ist, glaubt man zu wissen und spontan erkennen zu können, aber Gurken kommen nur auf den Markt, wenn sie einen gewissen Krümmungsgrad nicht überschreiten. Man macht sich über die Regelungswut der EU gerne lustig. Die Festlegung des zulässigen Krümmungsgrades von Gurken mag für den Verzehr nicht wichtig sein. Um die ganze Handelskette reibungslos und kostengünstig in Betrieb zu halten, sind die Verpackungs- und Transportbedingungen allerdings nicht ganz unwichtig. Beim Krümmungsgrad der Gurke geht es also darum, wie Produzenten ganz Europas und potentiell der ganzen Welt an jedem einzelnen Ort in Europa in fairen Wettbewerb treten können. Der Verbraucher ist hier an den Normen des Binnenmarktes nur über den Preis interessiert. Dieses „nur“ ist freilich für viele Verbraucher nicht ganz unwichtig. Und dass es feste und kontrollierbare Normen über die Zulässigkeit von Pestiziden etc. für Obst und Gemüse gibt, um die Gesundheit der Verbraucher nicht dem Konkurrenzstreben der Produzenten und Lieferanten auszuliefern, ist ebenfalls ein Ergebnis der „Regelungswut“ des Binnenmarktes. Über seine Normen wirkt er auch auf die Unfallsicherheit bei Autos und Druckmaschinen. Auszeichnungspflichten für die Inhaltsstoffe bis hin zum letzten Billighundefutter sind von allen Seiten umstritten, weil sie in ganz Europa und weit darüber hinaus eine Balance zwischen Wettbewerbsbedingungen der Lieferanten und Verbraucherinteressen herzustellen versuchen.

Die globale Finanzkrise wirft die Frage auf, warum es keinen europäischen Binnenmarkt für Finanzprodukte gibt. Mit klassischer Kapitalverkehrskontrolle oder Protektionismus hätte das nichts zu tun. Vielmehr ginge es um Normen für Finanzprodukte, die Banken innerhalb der EU verkaufen, egal ob sie ursprünglich von einer Bank in New York, Dubai, Shanghai oder London auf den globalen Markt gebracht wurden. Warum verzichten die EU und auch die Euroländer darauf, ihre Marktmacht auf diesem immer wichtiger werdenden Markt zur Geltung zu bringen? Die Alternative ist ja keine zwischen globalen Regelungen, die die EU jetzt in internationalen Finanzkonferenzen einfordern will, und eigenen europäischen Regelungen. Vielmehr geht es darum, in welchen Formen und mit welchen Mitteln die EU auf den globalen Finanzmarkt Einfluss nehmen kann und will.

Ein EU-Binnenmarkt für Finanzprodukte?

Der europäische Binnenmarkt ist ein Modell. Er bleibt mit dem Weltmarkt verknüpft und über die WTO internationalen Regeln unterworfen. Wenn die EU einen europäischen Binnenmarkt für Finanzprodukte ins Auge fassen würde, könnte sie mit den Normen für diesen Markt bei sich selber anfangen. Außerdem könnte diese Normierung in den bestehenden politischen Formen der EU in Angriff genommen werden. Ein solcher Binnenmarkt für Finanzprodukte setzte keinen Superstaat voraus. Notwendig wäre eine politische Verständigung und Einigung wie seinerzeit bei der Schaffung des Binnenmarktes und der Währungsunion.

Dass solche Einigungen in der EU auch heute möglich sind, zeigte sich eher unverhofft in den letzten Wochen. Natürlich ist die Krise nicht aus der Welt, wenn man sich einigt, wie mit ihr umzugehen ist. Aber ein skeptischer Beobachter wie Francis Fukuyama stellt verblüfft fest, dass die Finanzkrise für das transatlantische Verhältnis insofern interessant sei, „als die Europäer eine gewisse Führungsstärke gezeigt haben. Das ist aber das erste Mal. Bis vor kurzem sah es nicht so aus, als könne Europa das Problem seiner kollektiven Entscheidungsschwäche lösen.“ (3)

Fukuyama ist verblüfft

Es lohnt sich also, den Entscheidungsprozess zum Umgang mit der Finanz- und Bankenkrise genauer anzuschauen. Erst war Frankreich mit dem Vorschlag eines gemeinsamen Krisenfonds vorgeprescht. Der Vorschlag selbst musste scheitern, aber der Appell an die gemeinsame Handlungsbereitschaft kam an. Das Treffen in Paris, das für die Eurozone eine Einigung anstrebte über die Maßnahmen, die jeweils ergriffen werden können und sollen, zeichnete sich durch seine flexible Zusammensetzung aus. Nach der gemeinsamen Beratung unter den G7 wäre es völlig kontraproduktiv gewesen, Gordon Brown nicht zu beteiligen, obwohl Großbritannien kein Euroland ist. Neben den anderen europäischen G7-Mitgliedern wurden Jean Claude Junker für die Eurozone und Kommissionspräsident Barroso für die EU hinzu geladen. Mit dieser Zusammensetzung waren die Voraussetzungen geschaffen, um in der ganzen EU eine Einigung auf das dann vereinbarte Bündel möglicher Maßnahmen der Mitgliedsstaaten zu erzielen.

Europa hatte eine gemeinsame Melodie für seine vielfältigen Stimmen gefunden, oder, wie Jean Claude Junker sagte, einen Plan vereinbart, in dessen Rahmen die einzelnen Mitgliedstaaten entsprechend ihren jeweiligen Bedingungen handeln können.

Gemeinsame Melodie, vielfältige Stimmen

Nachdem Ratspräsident Sarkozy den Vorschlag eines gemeinsamen Krisenfonds hatte begraben müssen, mochte er zu Beginn des Treffens in Paris doch nicht auf den üblichen, und wie üblich illusorischen, Appell verzichten, Europa müsse in der Finanzkrise mit einer Stimme sprechen. Tatsächlich brauchte die EU einen Rahmen, in dem ihre verschiedenen Stimmen und Handlungsmöglichkeiten den Spielraum finden, abgestimmt zu reden und zu handeln. Hanns Werner Sinn, für die FAZ ein „Starökonom“, hat ja trotzdem nicht unrecht, wenn er die unterschiedlichen Interessen benennt, auf die die Krise unterschiedlich einwirken. Über den Vorschlag eines gemeinsamen Fonds konnte er nur den Kopf schütteln: „Wir haben unsere Industrie in Deutschland. Die Engländer haben ihr Finanzsystem. Und jeder lebt davon. Wenn unsere Industrie am Ende wäre: Ob dann die Engländer auch dafür einspringen würden mit einem europaweiten Fonds?“ Er denkt nicht.

Wegen der unterschiedlichen Interessen können gemeinsame Vorhaben, erst recht, wenn sie teuer werden könnten, selten eine zentralistische Form annehmen. Letztlich müssen sie von den Mitgliedstaaten gegenüber den EU-Bürgern verantwortet werden. Mehr als ein gemeinsamer Plan, ein gemeinsamer Rahmen, eine gemeinsame Melodie sind nicht drin. Die Letztverantwortung der Mitgliedstaaten lässt sich bei existentiellen oder auch nur teuren Entscheidungen nicht überspringen. Dennoch ist es gelungen, einen europäischen Binnenmarkt und die Währungsunion zu schaffen. In Dänemark und Schweden wird in der Krise der Nutzen einer gemeinsamen Währung neu bewertet. Jetzt konnte sich die EU auf einen gemeinsamen Rahmen des jeweiligen Vorgehens in der Finanzkrise einigen. Warum sollte es ausgeschlossen sein, einen Binnenmarkt für Finanzprodukte zu schaffen, um über dessen Attraktionskraft globale Regelungen leichter zu erzielen?


Anmerkungen:
(1) Thomas Fischermann und Uwe Jean Heuser, Geehrter Grenzgänger, Die Zeit vom 16.10.08; in Kommune 5/08 findet sich von mir eine Besprechung des 2008 ins Deutsche übersetzten Buches von Krugman The Conscience of a Liberal (Campus Verlag)
(2) Zit. nach Süddeutsche Zeitung vom 18.10.08
(3) Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 18.10.08

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