Abdul Jabbar Naeemi: Die deutschen Truppen in Afghanistan sind wichtig für die Sicherheit vor Ort, insofern ist die Entscheidung des Deutschen Bundestages nicht unerheblich für die weitere Entwicklung unseres Landes. Dabei geht es jedoch nicht nur um die Sicherheit, sondern auch um die Vermittlung von administrativem Wissen, zum Beispiel bei der Ausbildung von Polizisten und anderen Experten. Für uns ist die internationale Unterstützung wichtig, um ein demokratisches System aufzubauen.
Imtiaz Gul: Die Zusagen von der deutschen Regierung und von der Europäischen Union (EU) geben Hoffnung. Aber vieles hängt davon ab, wie sich die Amerikaner jetzt verhalten. Wir in Pakistan haben den Eindruck, dass die EU den Amerikanern folgt. Deshalb gibt es kein kohärentes Konzept und auch keine kohärente Strategie gegenüber Pakistan und Afghanistan. Und daran scheitern letztlich die Hoffnungen.
Herr Gul, fühlen Sie durch die Aktuelle Stunde im Bundestag von Deutschland jetzt ausreichend wahr- und ernst genommen?
Imtiaz Gul: Die Ernsthaftigkeit von Beziehungen zeigt sich erst in den Taten. Und wenn man sich anschaut, was Deutschland in der Vergangenheit für Pakistan getan hat, lässt das starke Zweifel zu. Lufthansa hat zum Beispiel im Sommer die Flüge nach Pakistan eingestellt, deutsche Diplomaten und ihre Familien wurden aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Deutsche Touristen wurden davon abgehalten, nach Pakistan zu reisen.
Die deutsche Entwicklungshilfe beträgt knapp 100 Millionen Euro. Ein Vergleich: Großbritannien hat 480 Millionen Pfund zugesagt, Amerika 800 Millionen Dollar. Ich zweifle daran, dass 100 Millionen Euro aus Deutschland eine entscheidende Hilfe sein können.
Welche Hilfe braucht und erwartet Pakistan von einem Land wie Deutschland?
Imtiaz Gul: Solidarität und Beistand in der Krise.
Was heißt das genau?
Imtiaz Gul: Zum Beispiel die Investition in Bildung. Ohne ausreichende Bildung und ohne seine Jugend lässt sich das Land nicht aufbauen. Das ist ein sehr langfristiges Ziel.
Was müsste kurzfristig für beide Länder getan werden?
Abdul Jabbar Naeemi: In Afghanistan finden bald Wahlen statt. Für einen friedlichen und demokratischen Verlauf sind demokratische Strukturen notwendig. An deren Aufbau muss das Land in der nächsten Zeit streng arbeiten. Das andere große Problem in Afghanistan ist der Terrorismus. Der wird uns, denke ich, noch lange beschäftigen. Deswegen müssen schnell und dringend Mechanismen gefunden werden, um gegen einen dauerhaften Terror anzugehen.
Imtiaz Gul: Pakistan muss zuallererst aus der Finanzkrise geholt werden, in der sich das Land befindet. Darüber hinaus muss die Zusammenarbeit mit dem Militär auf der Basis von Vertrauen aufgebaut werden. Derzeit mangelt es stark an Vertrauen.
Der Militäreinsatz in Afghanistan ist in Deutschland stark umstritten, auch innerhalb der Grünen. Kürzlich sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, es gebe immer mehr zivilen Aufbau in Afghanistan, mehr Polizei und weniger Militär. Wie stellt sich das vor Ort dar?
Abdul Jabbar Naeemi: Die Polizei ist in jeder Provinz und in jeder Stadt präsent. Sie sorgt dafür, dass es weniger Kriminalität und mehr Sicherheit gibt. Das Land braucht Frieden, dafür ist die Polizei unabdingbar. Das Drogenproblem und den Terrorismus kann sie allerdings nicht bekämpfen, dafür ist sie nicht ausgebildet. Aber letztlich ist den Menschen egal, wer diese Probleme löst, ob die Polizei oder das Militär.
Die Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan sind seit Jahren gespannt, nicht zuletzt durch die Taliban. Jetzt war der afghanische Präsident Hamid Karzai anwesend bei der Amtseinführung des pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari, dem Witwer von Benazir Bhutto. Seitdem gibt es regelmäßige Treffen zwischen beiden Präsidenten und ihren Außenministern. Deutet sich ein Wandel an?
Imtiaz Gul: Nein. Das hat mit der Geschichte zu tun, die geprägt ist von Animositäten und fehlendem Vertrauen in die Sicherheitsapparate beider Länder. Das wiederum prägt die öffentliche Meinung und spiegelt sich in den Medien wider. Das Problem dabei ist: Nach außen hin sind sich beide Staaten näher gekommen durch die Treffen ihrer Präsidenten. Aber das ist nur die Oberfläche, die Semantik dahinter hat sich leider nicht geändert.
Abdul Jabbar Naeemi: Meiner Meinung nach haben sich die Beziehungen verbessert. Dass unser Präsident Hamid Karsai bei der Amtseinführung von Zardari dabei war, war ein Schritt nach vorn. Es ist doch so: Der Frieden für Pakistan wird in Afghanistan gemacht und der Frieden für Afghanistan in Pakistan. Nehmen wir allein die Grenze zwischen beiden Ländern. Sie ist sehr lang und es kostet Afghanistan viel Geld, sie zu schützen. Aber es ist nicht möglich, jeden Kilometer zu sichern. Daher ist es wichtig, Vertrauen zu schaffen zwischen beiden Ländern und zwischen ihren politischen Führern. Andererseits ist es dringend notwendig, dass jedes Land die Verantwortung dafür übernimmt, was an der Grenze und innerhalb seiner Grenzen passiert.
Derzeit scheint es, als schwappe die Gewalt aus den paschtunischen Gebieten Afghanistans direkt hinüber in den Nordwesten Pakistans.
Imtiaz Gul: Beide Länder haben jetzt entschieden, Kontakte mit den Taliban aufzunehmen. Bisher ist unbekannt, ob und welche Fortschritte erzielt worden sind, das soll vorerst geheim bleiben. Bekannt ist aber, dass die Taliban nur unter der Bedingung zu Gesprächen bereit sind, dass die ausländischen Truppen das Land verlassen. Das bedeutet, dass sich die Lage noch weiter verschärft.
Auf einer solchen Grundlage kann keine Einigung erzielt werden. Wie könnte ein Ausweg aussehen?
Imtiaz Gul: Es muss Vertrauen aufgebaut werden, auf beiden Seiten. Und hier kann nur die internationale Gemeinschaft helfen, beide Länder in einen Dialog zu führen.
Gerade in den Grenzregionen wird die Lage für die Menschen immer dramatischer: Es fehlt an Nahrungsmitteln und an Infrastruktur, trotz starker Militärpräsenz wächst die Unsicherheit. Es scheint auch, als tun beide Regierungen wenig, um das zu ändern.
Imtiaz Gul: Die Regierung Pakistans kann nicht viel unternehmen, so lange die Auseinandersetzungen andauern. Eine Lösung liegt in der so genannten local empowerment, also in der lokalen Ermächtigung. In manchen Gebieten haben sich die Stammesleute zusammengeschlossen und eine Armee gebildet, die die Gebiete jetzt bewacht.
Welchen Einfluss hat die militärische Präsenz auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft?
Abdul Jabbar Naeemi: Die militärische Präsenz fördert die Zivilgesellschaft. Überall dort, wo sich ausländische Truppen zurückgezogen haben, wurde der demokratische Aufbau verlangsamt und sogar gestoppt.
Herr Gul, was wird sich mit Ihrem neuen Präsidenten ändern?
Imtiaz Gul: Zardari hatte von Anfang an keinen Ruf. Viele Pakistani identifizieren sich nicht mit ihm, obwohl er von der Mehrheit gewählt worden ist. Er wird als Pudel der Amerikaner angesehen, weil er in Folge eines Deals mit den Amerikanern nach Pakistan zurückkehren konnte. Ihm fehlt die politisch-soziale Legitimität im Lande und er wird als Nachfolger von Pervez Musharraf angesehen, der den Amerikanern zugeneigt ist. Die Amerikaner starten ständig militärische Angriffe auf Pakistan und es ist nicht zu erwarten, dass diese durch den neuen Präsidenten eingedämmt werden. Aufgrund seiner finanziellen Krise aber kann Pakistan nicht viel ändern an dieser Politik. Und das vergiftet die Atmosphäre im Land, es spaltet Volk und Regierung.
Was erwarten Sie künftig von Deutschland? Und was von dem neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama?
Abdul Jabbar Naeemi: Ohne Deutschlands Hilfe – militärisch und humanitär – wäre vieles für Afghanistan schwieriger gewesen. Wir wären dankbar, wenn die deutsche Unterstützung beim Aufbau der Zivilgesellschaft in Afghanistan fortgesetzt wird. Von Obama erwarten wir, dass er die demokratischen Strukturen in unserem Land ausbaut.
Imtiaz Gul: Wir hoffen, dass Obama einsieht, unter welchen Konsequenzen des Antiterrorkampfes Pakistan derzeit zu leiden hat. 2001 war Pakistan ein friedliches Land. Jetzt hat die Welt das Gefühl, als habe sich die Gefahr von Afghanistan auf Pakistan verlagert. Wir erwarten, dass Obama – anders als sein Vorgänger George W. Bush – die militärischen Kampfhandlungen einstellt. Wir erwarten einen Dialog statt ständig nur militärischen Druck.
Das Interview führte Simone Schmollack, Freie Journalistin, Heinrich-Böll-Stiftung