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Über den Ursprung der städtischen Gewalt in Rio de Janeiro

Lesedauer: 5 Minuten
Regisseur José Padilha
Foto: Vitor Marinelli. Dieses Foto steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

9. März 2009
Der Film „Ônibus 174“ des brasilianischen Regisseurs und Preisträgers des Goldenen Bären 2008 José Padilha behandelt die Entführung eines Linienbusses aus Rio de Janeiro. Im Mittelpunkt steht Entführer - und ein ehemaliges Straßenkind - Sandro do Nascimento, der das von Militärpolizisten 1993 verübte Massaker an der Calendaria Kirche überlebt hatte.

Sven Hilbig: Herr Padilha, erinnern Sie sich, was sie am 12. Juni 2000, dem Tag der Entführung des Busses 174, gemacht haben?

José Padilha: Ich lief in meinem Fitnesscenter auf einem Laufband als ich plötzlich im Fernsehen die Live-Übertragung der Entführung sah. Da der Bus (von dem Entführer, Anm. des Interviewers) in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung angehalten worden war, war die gesamte Umgebung vollkommen abgesperrt, so dass ich im Fitnesscenter blieb und mir alles bis zum Ende im dortigen Fernsehen ansah.

Was hat Sie dazu bewegt, die Entführung zu verfilmen?

Ich war sehr beeindruckt von Sandros Verhalten. Und da es sehr viele Fernsehkameras vor Ort gab, entschloss ich mich das Filmmaterial zu analysieren. Im Fernsehen konnte man beobachten, dass Sandro mit den Menschen außerhalb des Busses einen Diskurs führte, auch wenn es bei der Live-Berichterstattung nicht möglich war, ihn zu verstehen. Ich wollte wissen, was er gesagt hat. Deswegen suchte ich die Fernsehanstalten auf, um das gesamte Material zu sichten. Ich merkte, dass es sich bei ihm um eine vielschichtige Persönlichkeit handelte; und wahrscheinlich gab es dahinter eine Lebensgeschichte, die nicht nur sein Verhalten im Bus, sondern auch den Ursprung der städtischen Gewalt in Rio de Janeiro erklärte. Daraufhin entschloss ich mich, dem nachzuforschen und den Film zu drehen. Indem ich über Sandro als Individuum sprach, konnte ich auch über den sozialen Prozess reden, der Straßenkinder in Kleinkriminelle und gewalttätige Menschen verwandelt.

Welche Rolle spielten die Medien mit ihrer Live-Berichterstattung?

Die Medien haben die Entführung in ein nationales Ereignis verwandelt, womit sich auch Sandros Verhalten und das der Polizei dramatisch verändert hatte. Ohne die Medien hätte die Polizei nicht so vorsichtig agiert, der Gouverneur hätte nicht per Telefon interveniert und Sandro hätte keinen Diskurs mit der Öffentlichkeit geführt.

Wie bewerten Sie grundsätzlich die Rolle der brasilianischen Medien in Bezug auf die Kriminalität?

Im Allgemeinen haben die Medien meiner Ansicht nach eine positive Wirkung. Ich frage mich, wie die städtische Gewalt in Rio de Janeiro betrachtet würde, wenn es keine Journalisten gäbe, welche über die von Drogenhändlern, Milizen und Polizisten begangenen Übergriffe berichten.

Um Sandro eine Identität zu verleihen, schildern Sie sein vorheriges Leben. War es schwierig, einen Zugang zu den Straßenkindern zu finden? Was steckt hinter ihrer so genannten „sozialen Unsichtbarkeit“?

Es ist nicht schwierig, einen Zugang zu den Straßenkindern zu bekommen. Sie sind über die gesamte Stadt verbreitet. Die soziale Unsichtbarkeit trifft natürlich nicht nur auf die armen Kinder zu, die auf der Straße leben. Es ist vielmehr die Blindheit und Unfähigkeit der Mittel- und Oberklasse, die Tragödien zu sehen, die Teil des Alltages unser Stadt und unseres Landes sind.

Der Film zeigt das Leben in den Jugendhaftanstalten und Gefängnissen als eine wahre Hölle. Wie lässt sich dieser Teufelskreis der Gewalt durchbrechen?

Mittels einer Politik, die in die Bildung investiert und die sich um die Zukunft der Kinder sorgt, die straffällig werden. Bedauerlicherweise wird heutzutage nicht versucht, sich um diese Kinder zu kümmern, sie nur von der Straße wegzuholen. Das Verhalten der politischen Klasse Brasiliens diesen Kindern gegenüber ist kriminell. Das gleiche gilt natürlich auch für die Art und Weise, wie unsere Gefängnisse geführt werden.

Am Ende des Films wird der Entführer (zu diesem Zeitpunkt noch lebend) in einem Polizeifahrzeug wegtransportiert, während die hinter dem Fahrzeug herlaufende Menschenmasse „Lyncht ihn!“ ruft. Handelt es sich hierbei um eine Ausnahmereaktion oder spiegelt das eher die allgemeine Haltung der Bevölkerung wider?

Es spiegelt die Haltung dieses Teils der Bevölkerung wider, der genug von der alltäglichen Gewalt hat, und sich der falschen Vorstellung hingibt, wonach Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen sei.

Wie wurde der Film in Brasilien aufgenommen?

Der Film wurde sowohl in Brasilien als auch im Ausland sehr positiv aufgenommen. Die Kritiken waren sehr gut und der Film stieß eine wichtige Diskussion an. Eine Minderheit bezeichnete mich wegen der scheinbaren „Rechtfertigung“ von Sandros Gewalt als radikalen Linken, was aber nicht der Fall ist. „Onibus 174” rechtfertigt nicht Sandros Gewalt, so wie mein Film “Tropa de Elite“ nicht die Polizeigewalt rechtfertigt. In beiden Filmen geht es darum zu erklären, woher die Gewalt stammt, was der reale Kontext ist und wie die Gewalttäter argumentieren. Ich beziehe mich dabei weder auf den Marxismus noch den Kapitalismus, weder auf die Linke noch auf die Rechte. Das Modell, welches ich in beiden Fällen benutzte, war das der Spieltheorie. Nach dieser beeinflussen und bestimmen die sozialen Regeln das Verhalten der Menschen sowie die Menschen und die Regeln eines Spiels das Verhalten der Spieler beeinflussen und bestimmen.

Hat sich die Politik der öffentlichen Sicherheit in Rio de Janeiro seit dieser Entführung verändert?

Nicht wesentlich.

Das Interview führte Sven Hilbig, Heinrich-Böll-Stiftung.