Das Wahlergebnis in Indien wird noch Wochen nach dem Urnengang für Spannung sorgen
Indien wählt: Vom 16. April bis 13. Mai sind über 700 Millionen Wahlberechtigte der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt aufgerufen, aus einigen hundert Parteien und zahllosen unabhängigen Kandidaten nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht jeweils einen Abgeordneten für die 543 im indischen Parlament (lok sabha) vertretenen Wahlkreise zu bestimmen. Dabei scheint der mit Anbruch des Koalitionszeitalters Ende der 1980er Jahre einsetzende Fragmentierungsprozess der indischen politischen Landschaft in den Wochen vor der Wahl noch an Dynamik zu gewinnen: Neuordnungen, Zersplitterungen und Verwerfungen innerhalb des politischen Spektrums machen konkrete Vorhersagen über den Wahlausgang schwierig. Zu kleinteilig, regionalspezifisch und vielseitig ist die Anzahl an Faktoren, die das Ergebnis maßgeblich beeinflussen. Nur so viel dürfte sicher sein: Nach Schließung der letzten Wahllokale beginnt das große Zahlenspiel, eine Koalitionsarithmetik mit ungewissem Ausgang.
So mag es auch nicht verwundern, dass sich die indischen Polit-Pundits in den Medien mit konkreten Aussagen zu wahrscheinlichen Szenarien sehr zurückhalten. Vielleicht ist dies ein Nachhall der letzten Wahlen 2004, als die große Mehrzahl der Wahlforscher vom Votum der indischen Wählerschaft mehr als überrascht wurde.
2004 boomte die Wirtschaft
Was war passiert damals? Die damalige Regierungskoalition NDA (National Democratic Alliance) unter Führung der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) mit dem staatsmännisch auftretenden und populären Premierminister Atal Behari Vajpayee an der Spitze wähnte sich so stark auf der Erfolgswelle, dass sie die eigentlich erst Ende 2004 anstehenden Parlamentswahlen um ein halbes Jahr vorzog. Sie wollte einen möglicherweise ungenügenden Monsun als negativen Wahlfaktor ausschließen. Indien boomte: Die Wirtschaft wuchs, ausländische Direktinvestitionen erreichten kontinuierlich neue Höhen, die Inflationsrate lag weit unter den 2008 erreichten Höchstwerten. Indien hatte seine Stellung auf der globalen ökonomischen Landkarte gefestigt und ausgebaut. Unter dem NDA-Wahlslogan "Shining India" wurde auf der Basis der glänzenden wirtschaftlichen Eckdaten das Bild des aufstrebenden und modernen Indien subsummiert. Gleichzeitig meinte die damalige Regierungskoalition, allen voran die BJP, innerhalb der indischen Wählerschaft einen "Wohlfühlfaktor" entdecken zu können. Diese Einschätzung basierte auf diversen Umständen: Die BJP hatte Ende 2003 die Landtagswahlen in den bevölkerungsreichen Bundesstaaten Rajasthan, Madhya Pradesh und Chhattisgarh gewonnen und damit die bisherigen Landesregierungen der Kongresspartei (Indian National Congress, INC) abgelöst. Premierminister Vajpayee schien durch eine Entspannung in den Beziehungen zum Nachbarn Pakistan auf dem Höhepunkt seiner Popularität.
Doch eine Euphoriewelle konnte nicht entfacht werden. Zu sehr verkannte das auf die aufstrebende urbane Mittel- und Oberschicht fokussierte Bild des "glänzenden Indien" die Lebenswirklichkeiten eines Großteils des Landes und der Bevölkerung. Von der leben bis heute immer noch drei Viertel in ländlichen Siedlungen und in Kleinstädten, mehrheitlich von der Landwirtschaft. Über 250 Millionen von ihnen in bitterer Armut. Dies schlug sich auch im Wahlergebnis nieder: Die BJP verlor über 40 ihrer 182 in 1999 errungenen Mandate, 32 davon in den sozioökonomisch unterentwickelten Bundesstaaten Bihar, Jharkhand und Uttar Pradesh. Selbst in der von den Pogromen an Muslimen im Jahre 2002 erschütterten BJP-Hochburg Gujarat stand ein Verlust von sechs Wahlkreisen zu Buche. Demgegenüber konnte die Kongresspartei (Indian National Congress, INC) unter der Führung von Sonia Gandhi, Witwe des 1991 ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi und allmächtige Parteipräsidentin, ihr Ergebnis gegenüber 1999 mit 31 hinzugewonnenen Sitzen deutlich verbessern und mit 145 Abgeordneten die BJP als größte Fraktion ablösen.
Das Wahlergebnis wurde als "Sieg des Säkularismus" und als Niederlage einer elitären ausgrenzenden Politik und des Hindunationalismus angesehen. In den insgesamt 364 Wahlkreisen, in denen die BJP antrat (25 mehr als 1999), erreichte sie nur noch 34,4 Prozent der Stimmen. Das waren deutlich weniger als die 39,5 Prozent vier Jahre zuvor. Die Kongresspartei verbuchte hingegen in ihren 417 Wahlkreisen (1999: 453) einen Zuwachs von 0,5 Prozent auf 34,4 Prozent. Auf nationaler Ebene manifestierte sich jedoch der Bedeutungsverlust der beiden einzigen Parteien mit nationaler Reichweite: INC und BJP verloren jeweils 1,6 Prozent der Wählerstimmen und vereinten somit nur noch 48,7 Prozent aller Stimmen auf sich (INC 26,5 Prozent, BJP 22,2 Prozent). Dies geht einher mit einer zunehmenden Fragmentierung der parteipolitischen Landschaft. Die "politics of identity" und "politics of patronage and benefits", ein prägendes Merkmal der post-Mandal-Ära, fanden auch in dieser Wahl einen zunehmenden Ausdruck. Über die Hälfte der indischen Wähler wollte ihre spezifischen Interessen durch eine der kleineren Regionalparteien vertreten sehen, die abgesehen von den Linksparteien zumeist auf einer regionalen, religiösen und/oder kastenspezifischen Identität bzw. "vote bank basieren. Prominenteste Beispiele hierfür sind die Bahujan Samaj Party (BSP, Dalit-Partei) mit ihrer Parteivorsitzenden "Schwester" Mayawati, die trotz eines mittlerweile auf über 5 Prozent angewachsenen nationalen Stimmenanteils ihr Machtpotential hauptsächlich im Uttar Pradesh hat. Der Bedeutungsverlust der zwei großen nationalen Parteien geht einher mit einer zunehmenden Stärkung der Position regionaler Politfürsten im Zentrum der Macht in Delhi.
Dies ist auch ein Indiz dafür, dass sich das Wahlergebnis 2004 nur bedingt mit gesamtindischen Themen und Trends erklären lässt. Viel bedeutsamer sind Faktoren, die auf bundesstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene wirken, und im Besonderen die Bildung von strategischen Allianzen mit Regionalparteien, um durch Absprachen bei der Vergabe von Wahlkreisen (seat arrangements) eine Teilung der Stimmen zu verhindern und eine gemeinsame Front gegen den politischen Gegner bilden zu können. Waren sie 1999 mit über 110 gewonnenen Wahlkreisen noch die Garanten des Sieges der NDA, so mussten 2004 die regionalen Koalitionspartner der BJP mit über 60 verlorenen Sitzen eine herbe Niederlage einstecken: Besonders dramatisch waren hierbei die Verluste der vom „CEO von Cyberabad“ (Chandrababu Naidu) angeführten Telugu Desam Party (TDP) in Andhra Pradesh (minus 24 Sitze), der AIADMK in Tamil Nadu mit der charismatischen Jayalalitha an der Spitze (null gewonnene Sitze), und der JD(U) (Janta Dal /United) in Bihar (minus 11 Sitze). Die Vernachlässigung der Bedürfnisse der Bauern und das Ringen um die Abspaltung der Region Telangana (Andhra Pradesh) sowie die zeitweise Verhaftung wichtiger Oppositionsführer und der Verlust eines wichtigen Regionalpartners (PMK) in Tamil Nadu können als wahlbestimmende regionalpolitische Faktoren angesehen werden.
Die altehrwürdige und stolze Kongresspartei bemühte sich vor dieser Wahl erstmals intensiv um regionale Koalitionspartner, und das Experiment sollte sich auszahlen. Nahezu alle Allianzpartner trugen zu entscheidenden Stimmengewinnen bei, besonders in Bihar (mit der RJD), Tamil Nadu (mit der DMK, MDMK und PMK) und Jharkhand (mit der JMM des ehemaligen Ministerpräsidenten Sibu Soren). Dennoch reichten die insgesamt 219 gewonnenen Sitze der von der Kongresspartei geführten United Progressive Alliance (UPA) nicht zur absoluten Mehrheit. Sie war somit auf eine fragile Unterstützung "von außen" besonders durch die Linksparteien (Communist Party of India, CPI, Communist Party Marxist, CPM) angewiesen.
Regierungskoalition aus 15 Parteien
Nachdem Sonia Gandhi das Amt der Premierministerin wohl aus persönlichen Gründen ablehnte, wurde mit Manmohan Singh ein allseits anerkannter Politiker ins Zentrum der Macht befördert. Als Finanzminister im Kabinett von Premierminister Narasimha Rao war er Anfang der 1990er Jahre maßgeblich an der Liberalisierung und Reform der indischen Wirtschaft beteiligt. Die aus anfänglich 15 Parteien bestehende Regierungskoalition (UPA) einigte sich für die kommende Amtszeit auf ein, auch auf die Linksparteien abgestimmtes, "Common Minimum Programme", an dessen Ende eine "Collective Maximum Performance" stehen sollte. Basierend auf den Grundprinzipien einer korruptionsfreien, transparenten und rechenschaftspflichtigen Regierung sollten die weiterhin notwendigen Reformen der indischen Wirtschaft nun "mit einem menschlichen Antlitz" vorangetrieben werden. Ob dies gelang, wird vielleicht auch die Wahl 2009 zeigen. Zumindest der Sensex-Index der Börse in Mumbai erreichte bis Anfang 2008 in immer kürzer werdenden Abständen neue Höhen. Auf programmatischer Ebene scheint der 2005 verabschiedete "National Rural Employment Guarantee Act (NREGA)" erste Erfolge zu bringen. Dieser garantiert jeweils einem Mitglied eines ländlichen Haushaltes unter der Armutsgrenze (größtenteils scheduled castes und scheduled tribes) 100 Beschäftigungstage pro Jahr in öffentlichen Projekten, beispielsweise in Bewässerungs- und Flutsicherungsprojekten, bei Bezahlung des vorgeschriebenen Mindestlohns. Unterstützt wurde die ländliche Entwicklung zudem durch ein massives Schuldenerlassprogramm für Bauern in Höhe von rund. 10 Milliarden Euro. Ohne Erfolg blieben hingegen die Bestrebungen, den Frauenanteil in der lok sabha und den Landesparlamenten auf 30 Prozent festzusetzen.
Am meisten geprägt ist die Regierungszeit der UPA von wirtschafts-, sicherheits-, innen- und außenpolitischen Themen. Der Ölpreisschock von 2008 ließ die Inflationsrate auf zweistellige Wachsumsraten hochschießen und führte gleichzeitig durch die hohe Importsubventionierung zu einer auswuchernden Belastung des Staatshaushaltes. Und obwohl indische Banken - auch auf Druck der Linksparteien - den Erdbeben der globalen Finanzkrise nur indirekt ausgesetzt waren und sind, konnte sich auch Indien dem zunehmenden Einfluss der weltweiten Wirtschaftsrezession ab Mitte 2008 nicht mehr entziehen. Die Wachstumsraten, die schon zu Höchstständen kaum für Entlastung am Arbeitsmarkt sorgten, fielen für indische Verhältnisse in den Keller. Auch Indien war gezwungen, die Wirtschaft mit finanzpolitischen Maßnahmen und "stimulus packages" in Milliardenhöhe zu stützen. Zunehmende ethnische Konflikte wie die gewalttätigen Verfolgungen von Biharis in Maharashtra und Assam, die blutige Agitation der Gujjars in Rajasthan, die Christenverfolgungen in Orissa und die wachsende Gewalt maoistischer Gruppierungen und Naxaliten in den sozioökonomisch rückständigen Bundesstaaten Bihar, Jharkhand und Chhattisgarh sind nicht zuletzt Ausdruck der wachsenden Disparitäten zwischen einzelnen Landesteilen und der sich vertiefenden Polarisierung der Bevölkerungsgruppen. Die Bewältigung grundlegender Entwicklungsdefizite (Armut, Gesundheit, Bildung, Infrastruktur) und Zusammenführung divergierender Entwicklungspfade sind auch nach der Regierungszeit der UPA nicht nur große Aufgaben für zukünftige Regierungen, sondern letztlich Grundbedingung für den Zusammenhalt des sozialen Gebildes Indien.
Die Verwundbarkeit Indiens gegenüber dem lokalen und globalen Terrorismus zeigte sich in den Anschlägen in Delhi (2005 und 2008), Ahmedabad, Jaipur, Bangalore (2008) und nicht zuletzt Mumbai (2006 und 2008). Die Bilder des von mittlerweile unbestritten pakistanischen Terroristen besetzten Taj-Hotels bestimmten tagelang die Medien. Dies war indirekt eine Steilvorlage für die Opposition, insbesondere für die BJP. Hatte doch die UPA als eine der ersten Amtshandlungen den 2002 eingeführten und in kurzer Zeit missbrauchten "Prevention of Terrorist Activities Act" (POTA) ausgesetzt. Erst nach den Attacken in Mumbai 2008 erließ die Regierungskoalition wieder ein neues Antiterrorgesetz. Gleichzeitig führte dieser Terrorakt zu einer weiteren Abkühlung in der Beziehung zum Nachbarn Pakistan und seiner neuen Regierung.
Bis vor kurzem galten Koalitionsregierungen in Indien als instabil. Obwohl die vorherige Koalitionsregierung der BJP die vollen fünf Jahre überdauerte, zweifelten nicht wenige Experten daran, ob dies auch mit einer "Mischmasch"-Koalition unter Führung der Kongresspartei möglich wäre, die alle bedeutenden Ministerien (Finanzen, Innen-, Außen- und Verteidigungsministerium) selbst besetzte und noch dazu auf Unterstützung von außen angewiesen war. Doch erst die Verabschiedung des umstrittenen so genannten "Indo-US Nuclear Deal" mit den USA brachte das bis dahin erstaunlich stabile Gebilde im Juli 2008 an den Rand des Einsturzes. Dieser Pakt eröffnet Indien Zugang zum amerikanischen Markt für nukleare Ressourcen und Technologie. Dafür muss es aber nur 14 seiner 22 Reaktoren für ausländische Inspektoren der IAEA öffnen. Ohne Unterzeichnung des "Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT)" darf Indien sowohl sein ziviles als auch sein militärisches Atomprogramm weiterentwickeln und ist nun auch offiziell als Atommacht anerkannt. Die heftige Kritik am Nuklearabkommen von Seiten der Opposition (BJP) und der Linksparteien verlief entlang der Argumentationslinie, dass sich Indien nun zum "Juniorpartner" und Erfüllungsgehilfen amerikanischer geostrategischer Interessen in Asien machte. Das Ganze endete schließlich mit dem Entzug der Unterstützung von außen durch die Linksparteien. Das darauf folgende, von einem unrühmlichen Spektakel begleitete Misstrauensvotum konnte die Regierung Manmohan Singh jedoch deutlich für sich entscheiden, nachdem ausgerechnet die Samajvadi Party, deren Parteichef Mulayam Singh Yadav nicht unbedingt die besten Beziehungen zur Kongresspartei pflegt, und andere kleine Parteien und unabhängige Abgeordnete in der Abstimmung zur Rettung beitrugen.
Wirtschaft spielt nur untergeordnete Rolle bei der Wahl
2004: Die BJP ist auf dem Höhepunkt der Macht, die Wirtschaft boomt, die Wahl ist verloren. 2009: Indien spürt die Auswirkungen der globalen Rezession, die Kongresspartei verliert nach der Machtübernahme in Delhi bis auf die Wahlsiege in Rajasthan und Delhi 2008 eine Landtagswahl nach der anderen. Die BJP hingegen scheint gestärkt ins Rennen zu gehen durch die Bestätigung ihrer Landesregierungen in Gujarat, Madhya Pradesh, Chhattisgarh und besonders durch die erstmalige Machtübernahme im südindischen Karnataka. Doch die Ausgangsposition ist viel zu kleinteilig und komplex, um daraus Schlüsse für den kommenden Wahlausgang ziehen zu können.
Es ist davon auszugehen, dass auch 2009 nationale Themen, vor allem Wirtschaft und nationale Sicherheit, für die Wahlentscheidung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zugleich fehlen beiden großen Parteien, dem Congress mit Manmohan Singh und der BJP mit dem über 80-jährigen Lal Krishna Advani, als Kandidaten für den Posten des Premierministers die großen "Lichtgestalten". So wird der Wahlkampf der Kongresspartei wieder bestimmt durch die Erben der Nehru-Gandhi-Dynastie: Sonia Gandhi und in zunehmendem Maße ihrem Sohn Rahul Gandhi. Während auf Seiten der BJP Narendra Modi, Ministerpräsident in Gujarat und einer der Hauptverantwortlichen für die Muslim-Pogrome 2002, als "star campaigner" auftritt und der BJP-Ableger der Nehru-Gandhi-Familie, Varun Gandhi, wegen öffentlicher Hasstiraden gegen Muslime gerade inhaftiert wurde. Die Kongresspartei verweist in ihrem Wahlkampfmanifest vornehmlich auf die Erfolge der UPA-Regierung und will durch eine ausgleichende "Politik des Mittelweges" besonders den "aam aadmi", das heißt den Durchschnittsinder ansprechen. Demgegenüber scheint sich die BJP bewusst geworden zu sein, dass ihre Kernthemen "Hindutva" und "Ram Tempel" im modernen Koalitionszeitalter der indischen Politik möglichen Allianzpartnern nur schwer zu vermitteln sind. Während der Ram-Tempel im Manifest nur in einem kurzen Absatz unter der Überschrift "Bewahrung des kulturellen Erbes" erwähnt wird, versteckt sich der geforderte "Uniform Civil Code" unter dem Punkt "Gleichberechtigung der Frauen". Die wahlkämpferische Ankündigung der Kongresspartei, für jede Familie unterhalb der Armutsgrenze 25 Kilogramm Reis zu drei Rupien pro Kilo bereitzustellen, wurde von der BJP noch populistischer mit 35 Kilogramm zu zwei Rupien pro Kilo gekontert. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass beide Parteien dem Trend des Bedeutungsverlustes entscheidend entgegenwirken können.
Die letzten Wochen des Wahlkampfes machten eines deutlich: Letztlich ist die Suche nach und Bindung an regionale Allianzpartner mit folgender gemeinsamer Absprache der Verteilung der Wahlkreise der entscheidende Faktor. Und gerade in diesem Bereich kam es in den vergangenen Wochen zu großen Verschiebungen, die die beiden großen Parteien kaum unberührt lassen werden. Sowohl die UPA als auch die BJP-geführte NDA sahen sich zum Teil. mit großen Auflösungserscheinungen und Veränderungen konfrontiert. Auf Seiten der UPA ist der Wegfall wichtiger Koalitionspartner in Tamil Nadu (PMK, MDMK) und Andhra Pradesh (TRS) zu verzeichnen. Mit dem Trinamool Congress von Mamta Banerjee in West Bengal konnte jedoch ein wichtiger Partner hinzugewonnen werden. Zugleich konnte sich die Kongresspartei nicht auf eine abgestimmte Vergabe der Wahlkreise mit der Samajvadi Party (SP), Rashtriya Janta Dal (RJD) und der Lok Janshakti Party (LJP) in Uttar Pradesh und Bihar einigen. Besonders Rahul Gandhi forderte eine Wiederbelebung der im Hindi-Kernland nahezu in die Bedeutungslosigkeit abgestürzten Partei durch einen bewussten Alleingang. Die so genannte "Vierte Front" der drei wichtigen Vorsitzenden dieser Regionalparteien, Mulayam Singh Yadav, Eisenbahnminister Lalu Prasad Yadav und Stahlminister Ramvilas Paswan, sieht sich zwar weiterhin innerhalb der UPA unter der Führung von Manmohan Singh. Sie könnte aber bei einem guten Abschneiden ihr Verhandlungspotential gegenüber der Kongresspartei deutlich erhöhen und sich zugleich auch andere Optionen offen lassen.
Demgegenüber verließ mit der Biju Janta Dal (BJD) aus Orissa ein wichtiger regionaler Partner die NDA. Jedoch konnten neue Pakte mit der Partei der Jat-Bauernkaste INLD in Haryana, der AGP in Assam und der neuen Partei RLD in Uttar Pradesh geknüpft werden. Die Spaltung der Shiv Sena von Bal Thackerey in Maharashtra - ein Neffe gründete die neue Maharashtra Navnirman Sena - könnte sich jedoch negativ auswirken.
Für einen der größten Paukenschläge im Wahlkampf sorgte die Wiederbelebung der so genannten "Dritten Front". Diese Ansammlung der Linksparteien (CPI, CPM, Forward Bloc) und wichtiger Regionalparteien wie der Janata Dal (Secular) des früheren Premierministers Deve Gowda, der oben genannten TDP und TRS (Andhra Pradesh), AIADMK (Tamil Nadu), BJD (Orissa) und der National Congress Party (NCP) von UPA-Landwirtschaftsminister Sharad Pawar könnte im Verbund mit der BSP von Mayawati eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung spielen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie groß der Zusammenhalt nach den Wahlen tatsächlich sein wird, treffen doch mit Sharad Pawar, Jayalalitha und Mayawati sehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit großen Ambitionen aufeinander. Frühere Koalitionsregierungen der "Dritten Front" in den 1990er Jahren sind nach wenigen Monaten gescheitert. Es muss bezweifelt werden, ob diese von der Kongresspartei in ihrem Manifest als "recipe for chaos" bezeichnete Gruppierung dem Land die in diesen Krisenzeiten notwendige Stabilität geben kann.
Die entscheidenden "Schlachten" werden auch in dieser Wahl wieder auf der regionalen und lokalen Ebene geschlagen werden. Von großer Bedeutung wird sein, inwieweit die zwei großen Parteien ihre Stammwählerschaft erreichen und die Regionalparteien ihre "vote banks", für die lokale Faktoren beispielsweise der Kastenzugehörigkeit und "bijli, sadak aur paani" (Strom, Strassen und Wasser) nach wie vor von hoher Bedeutung sind, mobilisieren können. Somit kommt wie bei der letzten Wahl - der Koalitionsarithmetik in Form von Wahlkreisabsprachen eine wichtige Rolle zu. Schon kleine Schwankungen der Stimmenanteile können im indischen Mehrheitswahlrecht einen unterschiedlichen Ausgang in den einzelnen Wahlkreisen auslösen. Die "Winnability" der Allianzen und Wahlkreiskandidaten, deren Auswahl sich nicht zuletzt an der soziodemographischen Zusammensetzung der Wahlkreise orientiert, gewinnt als Schlagwort bei indischen Wahlen zunehmend an Bedeutung.
"Dritte Front" scheint unwahrscheinlich
Das Rennen um die Macht in Delhi scheint völlig offen. Prognosen über die Zusammensetzung der zukünftigen 15. lok sabha sind aufgrund der Kleinteiligkeit und der Komplexität der Entscheidungsfaktoren schwierig zu bestimmen. Nur so viel scheint sicher: Am Ende folgt das Zahlenspiel. Die Bildung einer Regierung der "Dritten Front" ist zwar möglich, erscheint jedoch eher unwahrscheinlich. So wird es mehr darauf ankommen, welche der beiden Nationalparteien INC und BJP als größte Fraktion und mit genügender Stärke ins Parlament einziehen wird, um dann als Magnet weitere Koalitionspartner zur Regierungsbildung anzuziehen. Das in Indien berühmt-berüchtigte "horse trading" dürfte auch nach dieser Wahl für spannende Tage und Wochen nach der Schließung der Wahllokale sorgen.