"Jai Ho" - Die indische Kongresspartei zwischen Siegesgewissheit und Amtsinhabermalus

Lesedauer: 18 Minuten

17. April 2009
Von Clemens Spiess

Ginge es nach den Parteistrategen der indischen Kongresspartei würde sich der Erfolg des H(B)ollywooddramas "Slumdog Millionaire" bei den Oscar-Verleihungen im Februar dieses Jahres auf die eigenen Wahlaussichten bei den indischen Nationalwahlen im April und Mai nahtlos übertragen lassen. Sie veranlassten den Kauf der Rechte am Filmsong "Jai Ho" ("Der Sieg sei mit Dir"). Der soll im Endspurt des Wahlkampfes unmissverständlich und siegesgewiss zum Ausdruck bringen, dass nach fünf Jahren erfolgreicher Führung einer heterogenen Regierungskoalition nur eine Partei in der Lage ist Regierbarkeit, Wirtschaftsdynamik und soziale Gerechtigkeit bundesweit zu gewährleisten und den Subkontinent weiterhin auf Erfolgskurs zu halten: die Kongresspartei.

Die Kongresspartei wurde 1885 gegründet und stellt damit viele Traditionsparteien des Westens in puncto organisatorischer Dauerhaftigkeit in den Schatten. Sie träumt immer noch von einer Rückkehr der Zeiten der Einparteiendominanz in den ersten Dekaden nach der Unabhängigkeit, als sie - beflügelt vom Legitimitätsbonus der Führerschaft in der indischen Unabhängigkeitsbewegung und vom Charisma der Nehru-Gandhi-Dynastie - fast schon naturgemäß die Regierungsmehrheit stellte.
Auch wenn diesen "goldenen Zeiten" im Laufe der 1990er Jahre mit dem Verlust eines Großteils ihrer Stammwählerschaft, dem Aufstieg der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) zu einem mächtigen parteipolitischen Gegenspieler und der zunehmenden Fragmentierung und Regionalisierung des indischen Parteiensystems endgültig ein Ende bereitet wurde, so hatte sich die Kongresspartei bei den Nationalwahlen 2004 doch eindrucksvoll und überraschend zurückgemeldet und im Anschluss als fähig erwiesen, das ihr unerwartet zugefallene Mandat zur Regierungsarbeit zu konsolidieren und die aus 13 sehr unterschiedlichen Parteien bestehende Regenbogenkoalition der United Progressive Alliance (UPA) unter teils widrigen Umständen und trotz vieler Zerreißproben zusammenzuhalten.

Die Siegesgewissheit der Kongresspartei entspringt darüber hinaus dem Umstand, dass sich die BJP, gezeichnet von Personalquerelen, Korruptionsskandalen und programmatischen Flügelkämpfen, alles andere als zukünftige nationale Regierungspartei präsentiert und der Großteil des restlichen Parteienspektrums weit davon entfernt bleibt, bundesweite Bekanntheit zu erlangen und flächendeckend KandidatInnen aufzustellen.

Allerdings wird diese Siegesgewissheit - abgesehen davon, dass der Oscar-Gewinner "Slumdog Millionaire" in Indien mittlerweile äußerst kritisch wahrgenommen wird - von den wenigsten Beobachtern und zunehmend auch immer weniger Parteiführern der Kongresspartei selbst geteilt. Und ein eindeutiger Wahlsieg scheint aus mehreren Gründen alles andere als gesichert. Zu oft hat sich in Indien der Amtsinhabermalus (den man im Land als den "antiincumbency factor" bezeichnet) als der wahlentscheidende Faktor erwiesen, zu sehr bestimmt vor dem Hintergrund der "winner-takes-all"-Logik des indischen Mehrheitswahlrechts, sozio-kultureller Diversität und regionaler Parteihochburgen die Wahl- und Koalitionsarithmetik mittlerweile die Erfolgsaussichten einer jeden Partei mit nationalen Ambitionen.

Auch für die Kongresspartei hat die Fragmentierung und Regionalisierung des indischen Parteiensystems ein neues Zeitalter der notwendigen Wahlabsprachen und Koalitionspolitik eingeläutet. Sie kann zudem kaum darauf bauen, allein mit den Erfolgen der vergangenen fünf Jahre, allen voran der durchaus beeindruckenden Wirtschaftsdynamik bei den Wählern hausieren zu gehen. Schon 2004 hatte die BJP versucht, den indischen Wirtschaftsboom mit ihrer "Shining India"-Kampagne in einen Wahlerfolg umzumünzen und wurde an der Wahlurne abgestraft. Die Auswirkungen der Finanzkrise haben auch Indien hart getroffen und die Erfolgsaussichten einer solch eindimensionalen Wahlaussage gemindert, zumal die Kongresspartei 2004 mit dem Wahlversprechen einer Reformwende hin zu einer Periode des "inclusive growth", einer umfassenden, alle Bevölkerungsgruppen und Wirtschaftsbereiche einschließenden nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung angetreten war. Amtsinhabermalus und die Personenfixierung indischer Wahlkämpfe machen den Wahlerfolg auf nationaler Ebene schließlich vom Geschick bei der Auswahl des politischen Spitzenpersonals abhängig.
Auf welche Strategie setzt nun die Kongresspartei im Wahlkampf? Welche Themen versucht sie öffentlichwirksam als Plus auf ihrem Haben-Konto als Regierungspartei zu verbuchen? Mit welchen neuen Versprechen begegnet sie den Erwartungen und Bedürfnissen des "einfachen Mannes" (am aadmi), der zumindest rhetorisch seit geraumer Zeit im Mittelpunkt ihrer Politikgestaltung steht? Und wie versucht sie, neue Wählerschaften an sich zu binden und ihre angestammte Wählerklientel nicht zu verlieren? Welche Köpfe bietet sie im Wahlkampf auf und wie gelingt es ihr, das parteieigene Personalkarussell im Zaum zu halten? Wie verhält sie sich schließlich im Kontext notwendiger Absprachen und Allianzbildungen vor und nach den Wahlen? Auch wenn klar ist, dass die Kongresspartei nach den Wahlen nicht alleine regieren wird, so kann sie doch wieder stärkste Partei werden, wenn sie ihre Wahlkampagne klug gestaltet, auf die richtigen Köpfe setzt und ein geschicktes Händchen beim alles entscheidenden Koalitionspoker beweist.

Kongresspartei im ideologischen Dilemma

Obwohl es der Kongresspartei gelungen ist, die gesamte Legislaturperiode inklusive Vertrauensfrage an der Spitze einer vielgestaltigen Regierungskoalition mit Unterstützung zunächst der kommunistischen Parteien und seit Juli 2008 der Samajwadi Party (SP) zu überstehen (was nach den turbulenten 1990er Jahren mit zahlreichen Regierungskrisen und Neuwahlen keine Selbstverständlichkeit in Indien ist), befindet sie sich in einem ideologischen Dilemma: Während sie auf der einen Seite den Anfang der 1990er Jahre unter dem damaligen Finanzminister und heutigen Premier Manmohan Singh eingeleiteten Wirtschaftskurs der Liberalisierung in den vergangenen fünf Jahren weitgehend beibehalten hat und in Folge auch von jährlichen Wachstumsraten von knapp 9 Prozent profitierte, ist sie auf der anderen Seite die Partei, die traditionell auf eine weniger wachstumsfixierte, sondern stärker wohlfahrtsstaatliche, an den Bedürfnissen der Armen orientierte Politik festgeschrieben ist und mit dem Versprechen einer solchen Politik auch bei den letzten Wahlen angetreten ist.

Während der vergangenen Amtszeit ist ihr der Spagat zwischen Liberalisierungskurs und wohlfahrtsstaatlicher Politik durch die Arbeitsteilung zwischen den neoliberalen Kreisen um den technokratischen Premier und Oxford-Ökonomen Singh und der staatlichem Interventionismus, einer deutlichen Erhöhung der Sozialausgaben und einem zögerlichen Liberalisierungskurs und der Weltmarktöffnung das Wort redenden Entourage von Parteipräsidentin Sonia Gandhi auch leidlich gelungen. Es geschah nicht selten, dass allzu marktfreundliche Initiativen des Finanz- oder Premierministers von Sonia Gandhi zurückgepfiffen wurden - nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen. Die Kongresspartei ist sich durchaus bewusst, dass sie um der notwendigen Wirtschaftsdynamik willen keine allzu großen Abstriche beim Liberalisierungskurs machen kann, dass sie aber ohne (populistische) Versprechen der Armutsbekämpfung und Grundbedürfnisbefriedigung keine Wahlen gewinnt. Um so wichtiger erscheint die zumindest rhetorische Einforderung einer Politik für den "einfachen Mann".

Im Wahlkampf 2004 hatte sie den alten Slogan Indira Gandhis aus den 1970ern "garibi hatao" ("Beseitigt die Armut"), in der neuen Politikformel "Congress ka haath, aam admi ke saath." ("Die Hand des Kongress [das offizielle Parteisymbol] ist mit dem einfachen Mann.") wiederbelebt. Auch das am 24. März 2009 veröffentlichte Wahlmanifest der Partei ist mit einer Beschwörung des „ein-fachen Mannes“ überschrieben: "Aam Admi Ke Badthe Kadam. Har Kadam Par Bharat Buland" ("Der einfache Mann schreitet voran. Mit jedem Schritt macht Indien einen Schritt nach vorn."). Allerdings erschöpfte sich während der zurückliegenden Amtszeit die versprochene soziale Re-formwende zu Gunsten des "einfachen Mannes" in vielen Bereichen in einer "Komitee-Kultur", bei der wesentliche Fragen zwar in unzähligen Komitees aufgeworfen wurden, aber nur zögerlich an deren Problemlösung und die Implementierung der im Regierungsprogramm gemachten Wahlversprechen herangegangen wurde. Zur Freude der Opposition, die im Vorlauf der Wahlen genüsslich die Versäumnisse und unerfüllten Versprechen der Kongresspartei bzw. der UPA auflistet.

Es verwundert deshalb auch nicht, dass die Kongresspartei nun auf eine öffentlichkeitswirksame Zurschaustellung der in Ansätzen erfolgten sozialpolitischen Wende setzt., zahlreiche, teils längst beschlossene, Infrastrukturprojekte in Gang bringt und zusätzliche Sozialleistungen wie die Erhöhung des Inflationsausgleichs für Bundesangestellte oder die subventionierte Zuteilung von Grundnahrungsmitteln wie Reis für bedürftige Familien beschließt. Insbesondere der 2005 erlassene "National Rural Employment Guarantuee Act" (NREGA), ein Beschäftigungsprogramm für ländliche Armenhaushalte von gigantischen Ausmaßen und Flaggschiff des Maßnahmenkatalogs zur Armutsbekämpfung, dient als Vorzeigeobjekt für die erfolgreiche Durchsetzung der Entwicklungsagenda der Kongresspartei. Dementsprechend beinhaltet das aktuelle Wahlprogramm auch ein vollmundiges Versprechen der Einführung eines "National Food Security Act" nach dem Vorbild des NREGA, der Ernährungssicherheit für alle Inder garantieren soll.

Aber noch vor der Ankündigung des "National Food Security Acts" steht im Wahlprogramm die Zusicherung, in einer nächsten Amtszeit die Anstrengungen auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zu erhöhen, einschließlich einer Modernisierung der Streitkräfte und einer Polizeireform. Die vermutlich von pakistanischen Islamisten verübten Terroranschläge von Mumbai im vergangenen Jahr, Indiens "26/11", sowie zahlreiche weitere Anschläge in den vergangenen Jahren, zum Großteil mit islamistischem Hintergrund, könnten zu einem Wahlkampfthema zu Ungunsten der Kongresspartei werden. Zwar hat die Frage der inneren Sicherheit bisher nicht die von der Opposition gewünschte Wirkung entfaltet, was sich daran festmachen lässt, dass die Landtagswahlen unmittelbar nach den Anschlägen von Mumbai und trotz steigender Inflation und Finanzkrise nicht von einer Anti-Kongress-Stimmung geprägt waren. Im Gegenteil, der Kongress konnte nach einer Serie von Niederlagen in vorangegangenen Landtagswahlen in Delhi an der Regierung bleiben, in Rajasthan und Mizoram die Regierung übernehmen und hat seinen Stimmenanteil in Madhya Pradesh und Chhattisgarh zumindest erhöht. Der Kongress muss aber einem Stimmungsumschwung in dieser Hinsicht angesichts drohender Anschläge im Vorfeld und während der Wahlen vorbeugen.
Eine andere Frage ist, ob es sinnvoll ist, auf die Bedrohung der inneren Sicherheit mit rein "technischen" Lösungen, einer Erhöhung des Verteidigungshaushaltes und einer Abkehr von der bisherigen indisch-pakistanischen Entspannung zu reagieren, um dem Vorwurf der BJP, man täte nicht genug gegen den Terrorismus, zu begegnen. Die Kongresspartei täte vielmehr gut daran, sich wieder stärker als die zentrale Nationalpartei des Säkularismus und der Rechte sozial Benachteiligter zu präsentieren, als die sie seit Jahrzehnten identifiziert wird. Das Säkularismus-Motiv gewinnt auch vor einem anderen Hintergrund an Bedeutung: Die Kongresspartei leidet immer noch am Verlust ihrer früheren Stammwählerschaft im Gürtel der Hindi-sprachigen Bundesstaaten in Nordindien und unter den sozial Benachteiligten und religiösen Minoritäten des Landes (Muslime; "Scheduled Castes", die ehemals "Unberührbaren" oder Dalits, wie sie sich selbst nennen; "Scheduled Tribes", die "Stammesangehörigen" oder adivasi, die Niedrigkastigen). Während sich die zunehmende politische Partizipation der Dalits und Niedrigkastigen seit den 1990ern in neuen Parteien manifestiert, allen voran der Bahujan Samaj Party (BSP) und der Samajwadi Party (SP) im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh, der auch die meisten Sitze für die Lok Sabha, das indische Parlament, stellt, könnte ein nachhaltiger und nicht nur rhetorischer Einsatz für das empowerment sozial Benachteiligter und religiöser Minderheiten ihr wieder Stimmen zuführen und gleichzeitig der wachsenden Entfremdung der indischen Muslime oder sozial Marginalisierter entgegenwirken. Einem ähnlichen Ziel diente auch die Einführung einer Reservierungsquote für rückständige Kastengruppen in staatliche geförderten im Sommer 2007 und die gesetzliche Absicherung der Land- und Forstwirtschaftsrechte der adivasi. Wie notwendig ein stärkeres Eintreten der Kongresspartei für die indischen Muslime ist und wie erfolgreich es in puncto Stimmenfang sein kann, verdeutlicht die aktuelle Kontroverse um die antimuslimischen Auslassungen des BJP-Mitglieds Varun Gandhi.

In der Außenpolitik insgesamt muss der Kongress Glaubwürdigkeit zurückerlangen, nachdem er sich mit dem Abschluss des Indo-US-Nukleardeals im vergangenen Jahr, der größten Zerreißprobe der Regierungskoalition in der vergangenen Legislaturperiode, den Vorwurf sowohl der hindunationalistischen BJP, als auch der kommunistischen Parteien eingehandelt hatte, Indien für die sicherheitspolitischen Interessen der USA einzuspannen. Wie schon 2004 verspricht und bekräftigt deshalb in diesem Zusammenhang auch das aktuelle Wahlprogramm der Kongresspartei die Verfolgung und Umsetzung einer unabhängigen Außenpolitik.

Wie immer aber sich die Kongresspartei in den unterschiedlichen Politikfeldern auch programmatisch positioniert, sie ist sich bewusst, dass Wahlen in Indien trotz wohlmeinender Absichtsbekundungen nur zu einem geringen Teil aufgrund der überzeugenderen programmatischen Aussagen gewonnen werden. Viel wichtiger sind meist das Personaltableau, das die Parteien zur Wahl aufbieten, und das richtige Gespür für die Koalitionsarithmetik.

Drei prominente Köpfe

Einer der wichtigsten Erfolgsgaranten für das Überleben der UPA war die bereits erwähnte Arbeitsteilung zwischen Premier Singh und Parteipräsidentin Sonia Gandhi. So scheint es nur folgerichtig, dass sich die Kongresspartei auch für die kommenden Wahlen auf den wenig charismatischen Manmohan Singh als Kandidaten für das Amt des Premierministers festgelegt hat, während Sonia Gandhi als Galionsfigur und Vertreterin der Nehru-Gandhi-Dynastie für den Massenappeal der Partei während des Wahlkampfs sorgen soll. Singh ist kein ausgewiesener Wahlkämpfer und hat nie ein Lok Sabha-Mandat errungen. Derzeit ist er Mitglied des indischen Oberhauses, der Rajya Sabha. Die Kongresspartei wurde 2004 zur stärksten Partei mit der Spitzenkandidatin Sonia Gandhi, die Singh das Amt des Premiers anbot, um der Kontroverse um ihre italienische Herkunft ein Ende zu bereiten und damit eine regierungsfähige Koalition zu ermöglichen.

Die Festlegung auf Singh dient auch diesmal nicht zuletzt der Entschärfung einer möglichen Wiederaufnahme der Debatte um Sonia Gandhis Herkunft. Denn auch wenn sich Sonia Gandhi mitt-lerweile als äußerst versierte, populäre und fähige (Partei)politikerin erwiesen hat, die nicht mehr allein vom Charisma der Nehru-Gandhi-Familie zehrt, birgt die Frage ihrer Herkunft nach wie vor das Potential, den Wahlkampf zu beeinflussen. Dies gilt nicht nur für die nach möglichen Angriffsflächen suchende Opposition, insbesondere die BJP, sondern auch für politische Kräfte im parteinahen Dunstkreis. So hatten beispielsweise vor den Nationalwahlen 1999 mehrere Kongresspolitiker unter Führung des einflussreichen ehemaligen Ministerpräsidenten von Maharashtra und aktuellen Landwirtschaftsministers, Sharad Pawar, aus Protest gegen eine Parteipräsidentin und Spitzenkandidatin mit ausländischer Herkunft die Kongresspartei verlassen und mit der "Nationalist Congress Party" (NCP) ihre eigene Partei gegründet, die in Maharashtra äußerst erfolgreich auf der parteipolitischen Bühne in Erscheinung trat, mittlerweile zusammen mit der Kongresspartei den westindischen Bundesstaat regiert und seit 2004 auch zu einem wichtigen Mitglied der UPA avancierte. Sharad Pawar hat bei den anstehenden Wahlen sein eigenes parteipolitisches Gewicht in die Waagschale geworfen, keine eindeutige Wahlaussage zur zukünftigen Zusammenarbeit mit dem Kongress gemacht und mehr als einmal seine eigenen Ambitionen auf das höchste politische Amt des Landes zum Ausdruck gebracht

Dennoch muss sich Manmohan Singh, der sich noch im Januar einer Herzoperation unterzog, in diesem Jahr auch als Wahlkämpfer profilieren. Denn diesmal steht nicht nur eine Alternative zur vormaligen Regierungspartei BJP zur Wahl, sondern auch seine Regierung der vergangenen fünf Jahre auf dem Prüfstand. Gelingt es der Kongresspartei im Wahlkampf, sowohl den etwas öffentlichkeitsscheuen, aber konzilianten und für eine solide Regierungsarbeit stehenden Manmohan Singh, als auch die charismatische, populistische, aber auch äußerst populäre Sonia Gandhi gleichermaßen als Gesichter der Partei zu projizieren, wird es schwer für die Opposition, entsprechend Erfolg versprechende und aussagekräftige Köpfe entgegenzusetzen.

Das dritte Konterfei, das derzeit auf der website der Kongresspartei als Aushängeschild der Partei prangt, ist dasjenige von Rahul Gandhi, dem 39-jährigen Sohn von Sonia und des ermordeten früheren Premiers Rajiv Gandhi. Der Versuch der Kongressspitze, Rahul als politisches Schwergewicht zu etablieren und als zukünftigen Premierminister in der Tradition der Nehru-Gandhi-Dynastie aufzubauen, ist bisher erst in Ansätzen gelungen. Zwar ist sein Einstieg in die Politik nach seiner Rückkehr aus England, wo er als Finanzberater gearbeitet hatte, durchaus erfolgreich. Bei den Wahlen 2004 errang er knapp einen Parlamentssitz und an der Spitze der Kongress-Jugendorganisationen hat er sich als politische Leitfigur für die indische Jugend profiliert. Außerdem ist er zum Generalsekretär der Kongresspartei aufgestiegen. Derzeit aber steht seiner Chance, einmal als ein weiterer Premier aus der Nehru-Gandhi-Dynastie das Land zu regieren, seine Jugend und seine westliche Sozialisation im Wege. Noch wird er zu wenig als ein "Mann des Volkes" wahrgenommen, man ihm die höchsten Weihen der indischen Politik nicht zu. Im aktuellen Wahlkampf, in dem er zum ersten Mal gleichberechtigt neben Manmohan Singh und seiner Mutter Sonia als dritter "Pfeiler" der Partei auftritt, hat er vor allem die Aufgabe, als "Jugendikone einen Gutteil der 65 Prozent unter 35-jährigen Wähler, darunter knapp 100 Millionen Erstwähler, der Kongresspartei zuzuführen. Dass er auf einem aussichtsreichen Weg ist, hat er bei den Landtagswahlen Ende des vergangenen Jahres bewiesen, als er als energischer und erfolgreicher Wahlkämpfer auftrat und viele Kongresspolitiker es seinem Verdienst zuschrieben, dass die Niederlagenserie der Partei in Landtagswahlen beendet wurde.

Aber auch wenn die Kongresspartei auf nationaler Ebene mit den wohl aussichtsreichsten parteipolitischen Köpfen aufwartet, so wird es für einen Wahlerfolg angesichts der Bedeutung ortsgebundener, ethnischer, Kastenbasierter oder sprachlicher Parameter oder manchmal auch des Versprechens eines Farbfernsehers für jeden ländlichen Armenhaushalt im indischen Wahlkampf entscheidend sein, genügend eigene und verbündete Parteipolitiker mit lokaler und regionaler Hausmacht aufzubieten. An dieser Stelle kommen die Regionalparteien und der Koalitionspoker ins Spiel.

Stimmenverluste in Uttar Pradesh

Noch vor kurzem sprachen die meisten Beobachter der indischen Parteienlandschaft von der Etablierung eines bipolaren Parteiensystem seit den 1990er Jahren mit der Kongresspartei an der Spitze der UPA und der BJP an der Spitze der "National Democratic Alliance" (NDA). Abgesehen davon, dass bei den anstehenden Wahlen, die alte Idee einer "Dritten Kraft" ("Third Front") aus mehreren Regionalparteien unter Federführung der kommunistischen Parteien als Alternative zum Kongress- und zum BJP-Lager wiederbelebt wurde, kann von einem klaren bipolaren Parteiensystem scheinbar keine Rede mehr sein. Zu groß ist mittlerweile die Bedeutung der Regionalparteien, zu gering der Abstand zwischen Kongresspartei und BJP auf der einen Seite und den größeren der Regionalparteien auf der anderen Seite. Um so wichtiger erscheint deshalb die richtige Strategie der Wahlallianzen und Koalitionsabsprachen.

Es könnte sich deshalb als taktischer Fehler erweisen, dass die Kongresspartei bisher keine eindeutige Koalitionsaussage getroffen hat, sich nicht zu einer gemeinsamen Wahlplattform unter dem Banner der aktuellen Regierungskoalition UPA bekannte und statt dessen der Vorstellung nachzuhängen scheint, sie könnte es aus eigener Kraft schaffen, die Regierung zu stellen. Auch wenn der allgemein Trend bei den anstehenden Wahlen im Gegensatz zu den Wahlen 1999 und 2004, als die vor den Wahlen geschlossenen Bündnisse auch nach den Wahlen Bestand hatten, zu Koalitionsabsprachen im Anschluss an die Auszählung geht, müssen mögliche Bündnisse schon im Vorfeld der Wahlen sondiert und Absprachen getroffen werden, um sich bei der Kandidatenaufstellung in einzelnen Wahlkreisen nicht in die Quere zu kommen. 2004 hatte sich die Kongresspartei zum ersten Mal umfassend auf Wahlallianzen und Koalitions- und Kandidatenabsprachen eingelassen. Ein Umstand, der unter den Bedingungen des indischen Wahlsystem für viele der eigentliche Grund für den Sieg war. Der Stimmenanteil der Kongresspartei verringerte sich zwar von 28,3 Prozent bei den Nationalwahlen 1999 auf 26,2 Prozent bei den Wahlen 2004. Dafür erhöhte sie ihren Anteil an Parlamentssitzen von 114 auf 145. Das fehlende Bekenntnis der Kongresspartei zur UPA hat dazu geführt, dass sich einige der Mitglieder der aktuellen Regierungskoalition im luftleeren Raum wiederfanden und eigene Allianzen schmiedeten.

Für die Kongresspartei wiegt vor allem der Verlust ihrer Wählerschaft im Hindi-sprachigen Bundesstaatengürtel im Norden (insbesondere in Uttar Pradesh und Bihar) schwer. Hier hätten Absprachen bei der Kandidatenaufstellung das schlechte Abschneiden bei den letzten Wahlen zumindest ansatzweise kompensieren können, zumal sich nun zwei Konstituanten der UPA (Rashtriya Janata Dal, Lok Janshakti Party) und ein Allianzpartner (SP) mittlerweile zu einer eigenständigen Wahlallianz zusammengefunden haben. Auch die Unterstützung des NCP unter Sharad Pawar in Maharashtra war lange Zeit alles andere als gesichert. Und der UPA-Partner in Tamil Nadu, die Pattali Makkal Katchi (PMK), hat sich zu einem Wahlbündnis mit der All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK) zusammengetan. Die Kongresspartei muss hoffen, in den Bundesstaaten, in denen sie 2004 gut abgeschnitten hat (Andhra Pradesh, Maharashtra, Gujarat, Haryana and As-sam) nicht allzu viele Mandate zu verlieren und in den Staaten, in denen sie vor fünf Jahren schlecht abgeschnitten hat (Kerala, Madhya Pradesh, Karnataka, Rajasthan, Punjab, Orissa und Chhattisgarh), dazuzugewinnen. Die Prognosen gehen derzeit davon aus, dass sie ihre Wahlsiege in Andhra Pradesh, Haryana und Assam wohl nicht wiederholen kann, während sie gute Chance hat, in Kerala und Rajasthan Zugewinne zu erzielen. Auch von den Sitzabsprachen mit der SP in Uttar Pradesh und dem Trinamool Congress in West Bengalen hofft sie zu profitieren.

Im Zweifelsfall, wenn weder die UPA noch die NDA die magische Hürde von 272 Parlamentssitzen überspringen kann, wird es nach den Wahlen auch darauf ankommen, von welchen größeren Regionalparteien der Kongress eine Unterstützung von außen erwarten kann. Eine Neuauflage einer Kongress-geführten Minderheitenregierung mit Unterstützung der kommunistischen Parteien scheint nach der Kontroverse um den Indo-US-Nukleardeal wenig wahrscheinlich, viel eher kommt eine Unterstützung durch die SP in Frage.

All die Überlegungen zur Allianzbildung und zum Koalitionspoker als entscheidendem Moment der indischen Wahldynamik können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass kurz vor oder nach den Wahlen die Karten ganz neu gemischt werden können, ideologische Orientierung sowie parteipolitische Loyalitäten sich im Angesicht möglicher Regierungsbeteiligung sehr oft als äußerst flüchtig erweisen. Inwieweit das Pendel dann zu Gunsten des Kongress ausschlägt hängt nicht zuletzt vom Geschick der BJP und vom Verhalten der Regionalparteien ab.

Die (wiedergewonnene) Bedeutung der Kongresspartei für das indische Parteiensystem lässt sich aber immer noch daran ablesen, dass sie, abgesehen von der BSP, der aber nur geringe Erfolgsaussichten jenseits ihrer regionalen Hochburg Uttar Pradesh zugestanden werden, bei den Wahlen als einzige Partei im Großteil der Wahlkreise Kandidaten aufstellt. Zwar offenbart auch die Kongresspartei, wie der Rest der indischen Parteien, trotz ihres Alters und parlamentarischen Erfahrung in ihrer Organisationsform und Ideologie nach wie vor einige Charakteristika dessen, was eine klassische soziale Bewegung im Unterschied zu einer professionalisierten Partei ausmacht - eine geringe Rollenspezifikation und im Kern immer wieder das Zurückgeworfenwerden auf die ursprüngliche Bewegungsidee und Leitfiguren ohne professionelle Ausdifferenzierung. Dies dann auch noch unter den spezifischen Bedingungen des indischen Kontext mit einem extrem personalisierten und von Faktionalismus geprägten Parteienwettbewerb als zusätzlichen Rahmenbedingungen. Aber sie hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber ihren parteipolitischen Gegnern: Die immense Erfahrung im Umgang mit den "Aufs und Abs" einer Omnibus- und Allerweltspartei, der einzigen im indischen Kontext auf nationaler Ebene dauerhaft erfolgreichen parteilichen Organisationsform.

Clemens Spiess

Seit April 2008 ist Clemens Spiess Mitarbeiter im Projekt ‚Citizenship as Conceptual Flow. Asia and Europe in Comparative Perspective’ der Universität Heidelberg. Gleichzeitig ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Politische Wissenschaft. Von 2004-2006 hatte er die Leitung des Länderbüros Indien der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi, Indien inne. Promoviert hat Clemens Spiess zum Thema ‘One-party-dominance in changing societies: "The African National Congress and the Indian National Congress in comparative perspective."

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