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Achtung: Europäische Wirtschaftsregierung!

13. Mai 2009
Von Franziska Brantner
Von Franziska Brantner

Der Ruf nach einem sozialen Europa ist sehr beliebt. Doch in gleichem Maße wie die Idee befürwortet wird, ist ein Mittel zu ihrer Umsetzung verpönt: eine europäische Wirtschaftsregierung.

In Deutschland nahezu ein Unwort. Wer immer sich traut, es in den Mund zu nehmen, wird mit Monsieur Sarkozy gleichgesetzt oder zumindest mit den „Europa-Spaltern“. Dabei leben wir in einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion - eben nicht nur in einer Währungsunion.

Die Wirtschaftsunion - eine umstrittene Idee

Die Interpretation der Wirtschaftsunion war von Anfang an umstritten: Frankreich, aber auch die Europäische Kommission, plädierten Ende der 1980er Jahre für eine Harmonisierung der Steuerpolitik und eine gemeinsame Vertretung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei den Treffen der sieben großen Industriestaaten (G7) und beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Einigen konnten die EWG-Staaten sich damals aber nur auf die Vollendung des Binnenmarktes, auf eine europaweite Wettbewerbs- und Vergaberechtspolitik und auf eine leichte Erhöhung der Struktur- und Sozialfonds. Die Erhöhung der Fonds wurde damit begründet, dass die Einführung des Euro weniger wettbewerbsstarke Regionen weiter ins Hintertreffen führen könnte und davon andere Regionen in der EU profitieren würden.

Bei der Steuerpolitik setzten die Staats- und Regierungschefs statt auf „Regieren“ auf gegenseitige Anerkennung des in den Mitgliedstaaten geltenden Rechts. Davon profitierten jene Staaten, die ihre Steuern und Abgaben niedrig hielten. So wurden Regionen und Länder, die einst hinter der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung zurückgeblieben waren, in den 1990er Jahren zu Gewinnern. So auch die deutsche Exportwirtschaft: Deutsche Exporte gehen nicht primär nach China oder in die USA, sondern vor allem in die EU. Aber es entstand auch Druck auf die Sozialsysteme, insbesondere in Frankreich und Deutschland.

Gleichzeitig wurden jedoch in den letzten zwanzig Jahren auch europaweit Standards im „sozialen“ Bereich gesetzt, etwa beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, beim Mutterschutz und bei der Arbeitszeitregelung. Die Harmonisierung der Steuerpolitik scheiterte hingegen am Widerstand einzelner Staaten. Das Modell eines „Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, wie bei der Währungspolitik (Euro) oder der Grenzpolitik (Schengen) steht für das Steuerrecht nicht zur Verfügung: Länder, die von niedrigen Steuern profitieren, werden sich nicht beteiligen.

Und dann kam die Finanz- und Wirtschaftskrise...

Die Weltwirtschaftskrise hat einige jener Länder besonders hart getroffen, die auf das angelsächsische Modell, in dem staatliche Sozialpolitik allenfalls extreme Armut abfedert, gesetzt hatten, etwa Irland oder Lettland. In der Krise wandten sich diese Staaten an die EU und baten um Solidarität. Aber sie benötigten auch Kredite des IWF, da die Vergabe von Stützungskrediten in der Eurozone nicht vorgesehen ist. An Ungarn, Lettland und Rumänien vergab der Währungsfonds tatsächlich solche Kredite. Der Haken an der Sache war: Die Bedingungen des IWF sind immer die gleichen: sparen, sparen, sparen. Gleichzeitig fordern IWF und Weltbank von anderen Industrieländern, dass sie größere Konjunkturpakete schnüren, um die Krise zu bewältigen (Vorgabe von zwei Prozent des GDP). Dies hat schon für Unruhe im IWF gesorgt: Schließlich müssen auch die Konjunkturpakete über Schulden finanziert werden. Hier lässt man Schulden zu, dort nicht.

Vor allem hat die verordnete Sparpolitik jener EU-Staaten, die Kredite aufgenommen haben, zu Einschnitten geführt, die alles andere als nachhaltig sind: Lettland etwa hat gerade das Familienministerium abgeschafft und tausende Lehrerstellen gestrichen. Erst Ende April wurden Kredite ohne Bedingungen vergeben. Davon profitierten Mexiko und Polen. Die EU könnte die Vergabe von Krediten oder die Beteiligung an IWF-Krediten aber an sinnvolle Bedingungen knüpfen. Die Vergabe von „Eurobonds“ könnte zum Beispiel an die Zustimmung zu einer Harmonisierung der Unternehmenssteuer gekoppelt werden. Dies ist eine heikle politische Angelegenheit – und ginge nur dann, wenn ein gemeinsamer Solidaritätsmechanismus beschlossen werden würde.

Andererseits haben die EU-Staaten in der Krise fundamentale Regeln des Binnenmarktes wie das Vergaberecht und Staatsbeihilferegeln außer Kraft gesetzt, um Konjunkturprogramme zu verabschieden. Unklar ist, wann und wie diese Regeln wieder gelten werden. Die Angst, dass es keine Rückkehr zu den alten Regeln bei Staatshilfen und der Vergabe öffentlicher Aufträge mehr geben wird, wächst mit jedem weiteren Tag der Krise. Die Kritik, dass Frankreich und Deutschland die Regeln des Binnenmarkts nicht richtig umsetzten oder diese nicht einhielten, ist mittlerweile nur allzu berechtigt.

Ein Wirtschaftsdeal für einen neuen sozialen Binnenmarkt

In dieser Konstellation könnte es eine neue Chance für ein solidarisches Europa geben. Es geht um die Verteidigung des Binnenmarktes und gleichzeitig darum, soziale Leitplanken einzuziehen, kurzum: um einen sozialen Binnenmarkt. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als einen „Wirtschaftsdeal“, wie ihn kürzlich Mario Monti in der Financial Times skizzierte.

So könnten Staaten wie Frankreich und Deutschland zusichern, den Binnenmarkt weiter auszubauen, zu seinen Regeln zurückzukehren und verschärfte Sanktionsmechanismen zu etablieren. Dies erfordert in einem ersten Schritt Konjunkturpakete, die nicht nationale Industrien bevorzugen. In einem zweiten Schritt - klare Zusagen, wann und wie sie ihre Konjunkturpaketmaschine stoppen werden. Darüber hinaus könnten die Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit schneller beendet werden. Ebenso ließen sich die für einzelne Mitgliedstaaten geltenden Ausnahmen bei der gegenseitigen Anerkennung von Gütern und Dienstleistungen reduzieren.  Für die Missachtung der Binnenmarktregeln könnten weiterhin strengere Sanktionen eingeführt werden. Gleichzeitig sollten einzelne Vergaberechtsbestimmungen, die vor allem die kommunale Selbstbestimmung betreffen, auf den Prüfstand kommen, um hier das Prinzip der Subsidiarität wieder zur Geltung kommen zu lassen.

Der Steuerwettlauf ist kein Ausweg aus der Krise

Im Gegenzug würden die angelsächsischen Länder und die neuen Mitgliedsstaaten einer Steuerharmonisierung zustimmen. Ein Steuerwettlauf ist hingegen kein Ausweg aus der Krise, denn er schränkt die gerade jetzt dringend benötigte Handlungsfähigkeit der Staaten ein. Eine gemeinsame, Bemessungsgrundlage für ausgewählte Steuern ist ein erster Schritt, ein europäischer Mindestsatz bei der Unternehmenssteuer - ähnlich wie bei der Mineralölsteuer - ein zweiter.
Dies bringt Europa einen Schritt weiter in Richtung einer Wirtschaftsunion und einer Wirtschaftsregierung, vor denen man sich nicht fürchten muss. Und das Wort Solidarität hätte wieder mehr Gehalt.

Franziska Brantner, 29, ist ehemalige Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung, hat in Frankreich und den USA studiert, promoviert in Deutschland und kandidiert für die Grünen zur Europawahl.

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