Von Dr. Kyryl Savin
Besonders intensiv waren die Verhandlungen zwischen der PdR und BJuT in den letzten drei Wochen. An dem Verhandlungsprozess waren nur fünf Personen beteiligt: Julia Tymoschenko, Oleksandr Turtschynow, Wiktor Janukowytsch, Oleksandr Lawrynowytsch und Wiktor Medwedtschuk als Vermittler und Gesandter aus dem Kreml. Letzte persönliche Gespräche zwischen Tymoschenko und Janukowytsch fanden am Wochenende statt. Das Gerüst des politischen Deals steht bereits, nun müssen nur noch Personalfragen, einige (auch wichtige) Details diskutiert und entschieden werden. Ganz entscheidend für den Deal ist aber, dass sowohl Tymoschenko als auch Janukowytsch gegenseitiges Vertrauen aufbauen und sich ihr eigenes politisches Schicksal anvertrauen. Dies scheint nach wie vor sowohl für Tymoschenko als auch für Janukowytsch schwierig zu sein.
Tymoschenko-Janukowytsch: eine politische Zweckehe
Warum haben sich Tymoschenko und Janukowytsch nun schon zum fünften oder sechsten Mal an den Verhandlungstisch gesetzt, statt sich für den baldigen Präsidentschaftswahlkampf zu rüsten? Die Antwort auf diese Frage liegt nicht auf der Hand, da Janukowytsch in den letztlich durchgeführten Ratings einen deutlichen Vorsprung von 7-8 Prozent auf Tymoschenko und Jazenjuk erzielen konnte. Im Grunde könnte er sich also eines Wahlsieges und somit der Macht ziemlich sicher sein
Doch so einfach ist es nicht. Janukowytsch hat als Verlierer der Präsidentschaftswahl von 2004 panische Angst vor der kommenden Wahl und ihrem ungewissen Ausgang. Die Wahlniederlage würde den Rücktritt und das Ende seiner politischen Karriere bedeuten. Weniger als die Hälfte der ukrainischen Wähler orientieren sich im Moment an Russland, aber Janukowytsch fürchtet als prorussischer Kandidat eine Mobilisierung der Wähler kurz vor der Wahl und den knappen Sieg Tymoschenkos. Noch mehr Angst Janukowytsch wie auch Tymoschenko vor Jazenjuk und neuen Politikern aus der zweiten Liga wie Grizenko, Tigipko, Tjagnibok, Bogoslowska. Jazenjuk hat in den letzten Monaten sehr stark an Popularität gewonnen und ist rhetorisch sehr gut vorbereitet. Soziologische Umfragen zeigen, dass Jazenjuk in einem zweiten Wahlgang sowohl Tymoschenko als auch Janukowytsch mit einem Abstand von 4 Prozent schlagen könnte. Das Rating von Jazenjuk liegt heute bei 11-12 Prozent, und somit 2-3 Prozent hinter Julia Tymoschenko. Bis zu 40 Prozent der WählerInnen würden auf keinen Fall Tymoschenko, Janukowytsch oder Juschtschenko ihre Stimme geben, was sowohl bei der PdR als auch der BJuT ein schlechtes Gefühl verursacht.
Für die beiden großen ParteiführerInnen, Tymoschenko und Janukowytsch, ist die Finanzierung des Wahlkampfes ein Problem, da die ihnen nahestehenden Oligarchen in der Krisenzeit zu großzügigen Spenden in die Parteikasse nicht wirklich bereit sind. Für ihren Wahlkampf werden mindestens 0,5 Milliarden USD benötigt. Beide Parteien haben große interne Probleme und endlose Konflikte innerhalb ihres politischen Blocks (Firtasch und Achmetow bei der PdR, Luzenko und Portnow bei BJuT), was keine gute Ausgangsposition für einen erfolgreichen Wahlkampf ist. Sowohl Janukowytsch als auch Tymoschenko sind sich der Tatsache bewusst, dass selbst nach einem klaren Wahlsieg die schweren politischen Grabenkämpfe und Skandale nicht zu Ende sein werden. Aus diesem Grund wäre die große Koalition mit einer schwachen und bedeutungslosen Opposition für beide politische Kräfte (PdR, BJuT) sehr attraktiv.
Tymoschenkos politisches Kalkül ist durchaus noch pragmatischer: Da sie zum jetzigen Zeitpunkt keine Wahlfavoritin ist, zieht sie den „Spatz in der Hand“ der „Taube auf dem Dach“ vor: den Verzicht auf die Präsidentschaft zugunsten des sicheren Premierministeramtes.
Verfassungsänderung: Wahl des Staatspräsidenten im Parlament
Über den zwischen Tymoschenko und Janukowytsch vereinbarten Deal einer Verfassungsänderung mit großem Koalitionsvertrag samt Anlage ist heute Folgendes bereits bekannt:
- Die neue große Koalition PdR-BJuT wird den Namen „Koalition der Integrität und Wiederaufbau“ tragen (im Volksmund auch „PRiBJuT“, was in ukrainischer Sprache dem Verb „tot schlagen“ ähnelt). Sehr wahrscheinlich wird die Koalition formal erst im Herbst gegründet.
- Eine grundsätzliche Verfassungsänderung ist das Hauptziel der neuen Koalition, da diese neue politische Spielregeln festlegen soll. Die Verfassungsänderung sollte unbedingt vor der anstehenden Präsidentschaftswahl im Januar 2010 vollzogen werden und die direkte Wahl des Staatspräsidenten durch eine Wahl im Parlament ersetzen.
- Janukowytsch wird der einzige Kandidat der Koalition für das Präsidentenamt sein. Er persönlich geht fest davon aus, dass er die nächsten zehn Jahre Präsident sein wird.
- Neben der Präsidentenwahl ist die Verschiebung der Parlamentswahlen von 2012 auf 2014 eine durchaus umstrittene Initiative. Nach dieser Entscheidung werden auch die Oblasträte ein Jahr länger arbeiten dürfen. Diese Wahl wird erst 2011 wieder stattfinden.
- Die Ernennungen auf Posten, die dem Präsidenten, seiner Vollmacht und seinen Befugnissen unterliegen (u. a. nationale Sicherheit und Verteidigung), werden von Janukowytsch persönlich vollzogen. Dazu gehören u. a. die Ernennung des Sicherheitsdienstchefs, des Leiters des Aufklärungsdienstes, der Leitung des Grenzschutzes, der Nationalbank-Leitung, des Generalstaatsanwalts.
- Alle Amtsposten, die nichts mit den Befugnissen des Präsidenten zu tun haben, werden mit Mitgliedern aus dem Parteien BJuT und der PdR 50/50 besetzt. Julia Tymoschenko wird weiterhin Premierministerin bleiben.
- Wenn eine der Koalitionsseiten eine weitere politische Kraft an die Koalition binden möchte, muss sie personelle Anforderungen des neuen Koalitionsmitglieds aus eigener Quote bedienen. Tymoschenko hat bereits einen Teil der NU (Nasha Ukraina – Bürgerliche Selbstverteidigung), Luzenko und Lytwyn, in die Koalition eingeladen.
- In der modifizierten Verfassung wird die Reform der lokalen Selbstverwaltung verankert. Die Oblasträte erhalten neue Befugnisse, in den Räten werden Exekutivkomitees geschaffen und ihre Leiter werden über die Entwicklung der Region zu entscheiden haben.
- Es soll zu einer Reform des Gerichtswesens kommen. Einfache Richter werden direkt vom Volk gewählt, die Richter der Berufungsgerichte aber durch eine Auslosung ernannt.
- Es wird eine Reform des Rechtsschutzes geplant – nicht nur Staatsanwaltschaft, sondern auch Miliz, Finanzamt, Sicherheitsdienst u. a. werden ermitteln und im Namen des Staates an Gerichtsprozessen teilnehmen dürfen.
- Die Parlamentswahlen werden zwei Wahlgänge haben, deren Gewinner bekommt automatisch eine Mehrheit von 226 Stimmen.
- Es wird ein striktes „imperatives Mandat“ eingeführt, welches Fraktionsübergänge verbieten wird. Eine Fraktion kann jeden Abgeordneten aus den eigenen Reihen ausschließen, der in diesem Fall sein Mandat verlieren würde.
- Der Parlamentspräsident wird von der Opposition gestellt.
- PdR und BJuT sollen bei der Parlamentswahl 2014 ein gemeinsames Wahlbündnis bilden und gemeinsam zur Wahl antreten.
- Tymoschenko und Janukowytsch werden die Oblast-Vorsitzende in den Regionen ernennen können, in denen ihre politischen Kräfte bei der Wahl 2006 die Mehrheit erreicht haben. Dies bedeutet, dass in Kiew eine neue Bürgermeisterwahl stattfinden müsste und der gemeinsame Koalitionskandidat bei dieser Wahl von BJuT gestellt würde.
Risiko für die Demokratieentwicklung in der Ukraine
Die neue große Koalition der „Integrität und Wiederaufbau“ wird sicherlich sowohl für BJuT als auch für die PdR ein Gesichtsverlust vor ihren Wählern bedeuten, weswegen man die nächste Parlamentswahl erst im Jahr 2014 plant. Um massive Imageverluste zu vermeiden, haben BJuT und PdR bereits am 01.06 begonnen, die ukrainische Zivilgesellschaft auf eine „unnatürliche“ Koalition als „unsere Antwort auf die Herausforderungen der Finanzkrise“ mit dem Ziel der „Einigkeit und territorialen Integrität der Ukraine“ moralisch vorzubereiten. Auch die Einbeziehung von Lytwyn und NU in die große Koalition sollte den Eindruck mindern, dass es sich hierbei um den Zusammenschluss der ukrainischen Oligarchie und der Monopolisierung im politischen Bereich handelt.
Präsident Juschtschenko und die „neuen Gesichter“ wie Jazenjuk und Grizenko haben bereits die mögliche Bildung der neuen Mega-Koalition PdR-BJuT öffentlich durchaus kritisch bewertet. Laut den Aussagen des Präsidenten Juschtschenko am 02.06 dieses Jahres ist eine solche Koalition „ein klarer Verfassungsputsch“. Grizenko kritisierte die zwei Schlüsselinitiativen der neuen Koalition: Zum einen die Wahl des Präsidenten im Parlament, welche schon 2009/2010 durchgeführt werden sollte und zum anderen die Verschiebung der Parlamentswahlen auf 2014. Die Änderungen seien seiner Meinung nach absolut rechts- und verfassungswidrig.
Eine mögliche große Koalition und die Verschiebung der Parlamentswahl auf 2014 wird der Ukraine endlich eine Chance geben, die Krise erfolgreich und schnell zu überwinden, überfällige und unpopuläre Reformen durchzuziehen und eine für das Land so wichtige politische und gesellschaftliche Stabilität zu erreichen. Es besteht aber gleichzeitig eine reale Gefahr der Machtkonzentration und der Abschaffung des realen politischen Pluralismus, was letztendlich zur Einschränkung der demokratischen Freiheiten, ähnlich wie in Russland, führen wird. Die ukrainische Zivilgesellschaft ist heute leider noch zu schwach, um sich und ihre Freiheiten und Rechte effizient verteidigen zu können.
Gegenstrategie des Präsidenten Juschtschenko
Gerüchten zufolge hat das Präsidialsekretariat bereits eine Gegenstrategie entwickelt. Sollte es zu einer ersten Abstimmung über eine Verfassungsänderung kommen, dann würde Präsident Juschtschenko freiwillig zurücktreten, das Parlament erneut auflösen und Neuwahlen anordnen. Als verfassungsrechtliche Konsequenz müsste die vorgezogene Präsidentschaftswahl innerhalb von 90 Tagen stattfinden. Mit den vorgezogenen Wahlen werden es PdR und BJuT zeitlich nicht schaffen können, Verfassungsänderung bis zur Präsidentschaftswahl zu vollziehen.
Es wird langsam politisch sehr heiß in Kiew. Die Verkündung der neuen Koalition PdR-BJuT bzw. ihre tatsächliche Bildung ist bereits Ende dieser/ Anfang nächster Woche zu erwarten.
Dr. Kyryl Savin ist Leiter des Länderbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew (Ukraine).
Dossier
Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie
Seit 1991 ist die Ukraine unabhängig. Trotz Reformen hat die Demokratie in der Ukraine immer noch große Defizite. Die Orangene Revolution 2004 hat den Prozess der Demokratisierung beschleunigt, doch ist die Demokratie im Lande weiter instabil und die Zivilgesellschaft zu schwach, um Politiker und Politikerinnen kontrollieren zu können. Ein Schritt zurück zur Autokratie ist bei der andauernden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht ausgeschlossen. Das Dossier begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Artikeln und Hintergrundberichten.- Dossier: Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie von Dr. Kyryl Savin - Feedback an: savin@boell.org.ua