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Freiheit und Grüne Freiheit - Verantwortung in ihrer subjektiven Dimension

Sybille Volkholz

Anmerkungen zu Debatten in der Grünen Akademie

25. Januar 2010
Sybille Volkholz
Von Sybille Volkholz

1. Einordnung in die Werkstattgespräche

Die Debatte "Freiheit – Hoffnung-Anspruch-Herausforderung" anlässlich der Mitgliederversammlung der Grünen Akademie am 16./17. Januar 2009 wie auch die um "Grüne Freiheit" im Werkstattgespräch vom 4. Dezember 2009 regen zur weiteren Diskussion auch um grüne Politikkonzepte an.

In einigen Beiträgen wurde "grüne Freiheit" vor allem als Freiheit des Bürgers vor dem Zugriff des Staates, mehr als Verteidigungsrecht und Schutzbedürfnis des Individuums definiert. Die Konstruktion von Zivilgesellschaft wurde demzufolge auch als Gegenkonstruktion gegen den Staat, als kontrollierende, absetzende, teils opponierende Gegenmacht definiert. Die Stärkung von Bürgern wird zunehmend als Freiheitsrecht und Recht auf  Selbstbestimmung, in jedem Falle  als Individualrecht angesiedelt. Insbesondere Peter Siller bemüht sich demgegenüber eine Vorstellung vom Staat als gemeinsamer demokratischer Veranstaltung der Bürger zu beleben, Staat und Zivilgesellschaft nicht gegeneinander sondern als Gesellschaftskonstrukt, das notwendig zur Demokratie gehört. Ohne zivilgesellschaftliche Teilhabe wird auch Demokratie nicht zur von Bürgern angeeigneten Staatsform. Dieser Ansatz lag auch dem Politikkonzept vom aktivierenden Staat zugrunde, der in der öffentlichen  Debatte und auch von Seiten der Grünen wieder in den Hintergrund gerückt ist.

2. Verhältnis von Staat und Individuen - Hegemonie von Gesellschaftsbildern anstelle von Strategien zu praktischem politischen Handeln

Warum wird der Staat als entfremdeter Moloch wahrgenommen, der den Einzelnen zu erdrücken droht? Warum werden Prozesse der Willensbildung als undurchsichtig, warum staatliche Institutionen als entfremdete Instanzen erlebt? Warum verlieren insbesondere die großen Parteien an  Akzeptanz wie auch andere Großinstitutionen? Offensichtlich ist die Distanz zu agierenden Institutionen leichter, die Selbstwahrnehmung als Opfer (kleiner Mann von der Straße) beliebt und verbreitet und wird von einem Politikkonzept bedient, das Bürger als Betreuungsobjekte, allenfalls als zu erziehende behandelt und nicht  als Diskussionspartner auf Augenhöhe. Auch grüne Politik bedient diese Haltung gerne mit "sozialarbeiterischen" Konzepten und Instrumenten der fürsorglichen Politik.

Auf der anderen Seite gewinnen ebenso selbstbewusste Initiativen von Bürgern, die sich gegen politische Entscheidungen wehren, genauso an Boden – vor allen grüne Regierungsentscheidungen bekommen hier deutlich Gegenwind.

Wovon hängt es ab, ob Bürger sich als Citoyens und teilhabende Subjekte  begreifen, sich konstruktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen? Wie kann erreicht werden, dass Bürger sich auch subjektiv als Citoyen begreifen und als selbstbewussten Mitgestalter? Ganz offensichtlich besteht ein Widerspruch zwischen dem zunehmenden Selbstbewusstsein der Bürger in der Demokratie, die gegenüber traditionellen Repräsentationsinstrumenten zunehmend Distanz entwickeln und der aktiven Übernahme von Verantwortung. 

Dieser Widerspruch könnte eine Erklärung darin finden, dass es nicht nur bei den Grünen, sondern weit darüber hinaus eine große Vorliebe dafür gibt, Positionen zu entwickeln, Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft sein sollte oder auch von der  Rolle des Staates, die Entwicklung von strategischen Schritten, wie diese zu erreichen sein könnten, bleibt demgegenüber häufig völlig unterbelichtet.  Diskussionen, die sich auf der Metaebene des Katechismus abspielen, können eine ungeheure Emotionalität entfalten.

In der Bildungspolitik kann diese Diskrepanz sehr anschaulich in den jahrzehntelangen Polarisierungen in der Debatte um Schulstrukturen nachvollzogen werden, ohne dass die pragmatischen Schritte zur Lösung interessierten. Wichtiger war es oder ist es noch, eine richtige Position zu haben, als Schritte hin zur Veränderung der Realität einzuleiten. In dieser Gefahr befindet sich auch grüne Politik immer wieder. Diese Frage hatte sich die Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung für ihre Empfehlungen als zentralen Ausgangspunkt gewählt. (Selbstständig lernen – Bildung stärkt Zivilgesellschaft, Weinheim 2004)

Vieles deutet darauf hin, dass dieses Spannungsverhältnis, die hohe Ideologieanfälligkeit von politischen Auseinandersetzungen, die Lösungen eher verhindern als befördern, ihre Wurzeln in der deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts haben. Fritz Stern geht in seinem Buch "Kulturpessimismus als politische Gefahr" ( Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Klett Cotta, Stuttgart 2005)  ausführlich auf die politische Phantasie der Kulturkritiker im 19. Jahrhundert, ihre pedantisch ausgearbeiteten Reformvorschläge bei gleichzeitiger Missachtung des praktisch Durchführbaren ein,  eine Analyse, die auch auf einige Gruppierungen heute zutrifft.

Der mangelnde Bezug zum eigenen Handeln der Diskutanten oder Kontrahenten zeigt sich beispielsweise auch heute in der Bildungspolitik darin,  dass sich seit Jahrzehnten in linken, gewerkschaftlichen und auch grünen Debatten die Anforderungen an Bildungspolitik zu einer Schule für alle völlig unabhängig bzw. geradezu konträr zum eigenen Schulwahlverhalten bezüglich der eigenen Kinder abspielen. Der regelmäßig vorgebrachte Verweis, dass die Verhältnisse noch nicht so weit seien, bestätigt nur, dass zwischen dem eigenen Verhalten und den Wunschvorstellungen kein strategisches Verhältnis hergestellt wird. So waren auch die Forderungen an die Schulstruktur durchaus von hohen Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen getragen, in dem konkreten Handeln offenbarte sich allerdings ein deutliches Differenzbedürfnis und Angst vor zu viel Integration. Ganz offensichtlich gibt es die Vorstellung (oder das Bedürfnis), dass Gerechtigkeit mit Hilfe des Staates hergestellt wird, unabhängig vom eigenen Handeln und ohne das davon die eigenen Lebensumstände tangiert werden. Eine solche Unterbelichtung der eigenen Rolle hat umgekehrt eine völlige überhöhte Erwartungshaltung an die Möglichkeiten staatlichen Handelns zur Folge. So hat in Deutschland lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte die Vorstellung geherrscht – und prägt immer noch grüne Politikvorstellung – dass eine überwiegend staatlich finanzierte und geregelte Bildung zu größerer Chancengleichheit führen würde. Dass dem ganz offensichtlich nicht so ist – wie nach den PISA-Studien offenbar wurde – hat zu großer Verwunderung und einer höchste aufgeregten Debatte geführt.

Diese Diskrepanz zwischen den Wunschvorstellungen und deren Wertsetzungen auf der einen Seite, die Unterentwicklung von pragmatischen Strategien und vor allem eigener Handlungsoptionen auf der anderen Seite fordert gerade zu heraus, dass insbesondere grüne Politik ein viel größeres Augenmerk auf die Entwicklung von Instrumenten legen sollte, die individuelles Handeln mit den Zielvorstellungen verbinden, die die Neuverteilung von individueller, gesellschaftlicher und staatlicher Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft anstreben.

3.  Verhältnis von Individuen und Gesellschaft weiterentwickeln

Wenn dieses Spannungsverhältnis aufgelöst werden soll, muss die Frage nach Einflussmöglichkeiten auf die Haltung von Individuen, ihre Selbstdefinition als aktive partizipierende Bürger, die nicht nur auf staatliche Entscheidungen selbstbewusst Einfluss nehmen, sondern auch eigenverantwortlich das gesellschaftliche Umfeld mit gestalten,  eine größere Bedeutung erhalten. Das Feld der Verantwortung von Bürgern für den Zusammenhalt der Gesellschaft muss entfaltet werden – und sollte von den Grünen stärker besetzt werden. Es enthält zwei Dimensionen:

  • positive Bestimmung des Staates als eigener Repräsentanz, Erweiterung von Partizipationsmöglichkeiten; aktivierender Staat, der Rechte gewährleistet aber auch Eigeninitiative stärkt;
  • soziale Gesellschaft als Selbstkonstruktion von Bürgern; Stärkung lokaler Gestaltungsmöglichkeiten, bürgerschaftliches Engagement, das zu sozialem Ausgleich beiträgt; Beispiele: soziale Netzwerke, regionale Verantwortungsgemeinschaften, Mehrgenerationennetze, Bildungspaten und -mentorenschaften, etc.

Hier sei vor allem dem zweiten Aspekt nachgegangen. Die Frage ist, ob und welche Organisationsformen sich in einer Gesellschaft entwickeln können, die zu einem größeren sozialen Zusammenhalt und Verantwortungsbewusstsein beitragen, ohne dass sie fester staatlicher Reglementierungen bedürfen oder ohne dass der Staat selbst die Gestaltungshoheit übernimmt. In angelsächsischen Ländern, insbesondere in den USA und Kanada sind Selbstorganisationsformen auf kommunaler und regionaler Ebene ebenso wie das bürgerschaftliche Engagement sehr viel weiter verbreitet und haben eine ausgesprochene Tradition. Offensichtlich wird hier der individuelle Freiheitsanspruch mit einem anderen Maß von sozialer Verantwortung zusammen gedacht. Hier soll nicht beurteilt werden, wie weit dies zu einer gerechteren Gesellschaft führt.

Dass die individuelle Freiheit an der Freiheit der anderen ihre Grenze hat, ist eine Banalität. Allerdings ist diese Regel Grundlage vieler staatlicher Regeln zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Sie könnten dann überflüssig werden, wenn Bürger nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für die Gestaltung des sozialen Umfeldes Verantwortung zu übernehmen bereit sind.  ZB können im Bildungsbereich Nachteilsausgleiche dadurch hergestellt werden, dass zwischen Kindern, Schülern Partnerschaften gebildet werden, von denen beide jeweils profitieren können, Patenschaften zwischen Erwachsenen und Kindern gebildet oder in einer Region Netzwerke hergestellt werden, die zu größeren Chancen für die benachteiligten aber auch für die leistungsstärkeren führen.

4.  Gesellschaftliche Selbstorganisationsformen als Element der Demokratie

Dem individuellen guten Leben kann ein soziales gutes Leben zur Seite gestellt werden, dass von regionalen und thematischen Bindungen lebt. Die Integration oder Inklusion von behinderten, alten, schwachen Menschen hängt zum großen Teil von staatlichen Hilfs- und Schutzmaßnahmen ab, sie hängt aber auch hinsichtlich der sozialen Eingebundenheit von den konkreten Interaktionen im Umfeld ab. Wird Unterstützung gegenseitig – möglichst zum beiderseitigen Vorteil geregelt? Wichtig ist dabei, dass diese Unterstützungssysteme nicht asymmetrisch gestaltet werden, dass nur jeweils eine Seite gibt und die andere nimmt. Dies degradiert einen Teil zum Opfer und lässt die sog. starken Schultern häufig zuviel tragen. Solche regionalen Netzwerke oder Verantwortungsgemeinschaften verlangen von jedem einen Beitrag.

Gesellschaften, die in hohem Maße über solche Formen von Eigenaktivität verfügen, haben in der Regel eine optimistischere Grundstimmung; Selbstwirksamkeit, die Erwartung daran, dass zur guten Lebensgestaltung ein gehöriges Maß an eigener Leistungsbereitschaft und Aktivität gehört, führt in der Regel zu einem befriedigendem Leben als eins, das vor allem von Dritten Handlungen fordert – auch vom Staat und sich selbst zur Passivität verleitet.

Solche Konzepte von sozialer Interaktion können für viele Bereiche entfaltet werden, Bildung, Gesundheit, Alt und Jung etc.; sie setzen regionale Partizipationsstrukturen oder auch Verantwortungsstrukturen voraus.

Möglich wäre es, staatliches Handeln stärker darauf zu konzentrieren, individuelle Rechte von Bürgern zu gewährleisten und regionale Strukturen zu fördern, z.B. mit Zielvereinbarungen, beispielsweise über die Verringerung von Schulabbrecherquoten. Die Realisierung würde den regionalen Einrichtungen und Bürgern überlassen. Die Ressourcen müssen verhandelt werden.

Im Bereich Bildung hieße dies: Bildungsnahen Eltern wird nicht die staatliche Entscheidung über den Bildungsgang ihrer Kinder entgegen gestellt – was häufig zu Widerspruch führt – sondern ihre Bildungsnähe und Leistungsbereitschaft wird positiv unterstützt, gleichzeitig aber mit dem Anspruch verbunden, andere dabei mit zu nehmen. Bildungsnahe Eltern könnten Patenschaften jeweils für ein Kind übernehmen, dass mit dem eigenen auf die gewählte Schulform wechselt, oder ein gemeinschaftlich organisiertes Nachhilfe- oder Unterstützungssystem.

Grüne Politik, die über eine Wählerschicht der gehobenen Mittelschicht verfügt, die durchaus sozial orientiert sind, tun gut daran, nicht etatistische Politikkonzepte zu perpetuieren, sondern partizipativen zu entwickeln, die ein hohes Verantwortungspotential vor Ort nutzen und unterstützen. Vor allem sollen sie auch die eigenverantwortlichen Selbstdefinition der Bürger unterstützten, das zu einem gewünschten Gesellschaftsbild die eigene strategische Zuordnung und das eigene Handeln in einen pragmatischen Zusammenhang gestellt wird.

Hinderlich für eine solche Entfaltung des Bewusstseins wie auch des bürgerschaftlichen Engagements oder auch der sozialen Selbstorganisation ist die häufig negative Kontextuierung. Bürgerschaftliches Engagement wird sozusagen als Lückenbüßer für nicht mehr mögliches staatliches Handeln oder aufgrund von Sparzwängen notwendig definiert. "Weil der Staat dies nicht mehr tut...." ist eine beliebte Redewendung oder Standardbegründung für bürgerschaftliche organisierte Projekte. Eine solche Begründung wie auch die häufigen Hinweise, dass im Zusammenhang mit dem Ehrenamt sorgfältig darauf geachtet werden müsse, dass der Staat nicht aus seiner Verantwortung entlassen würde, vermeidet eine bewusste Neudefinition von staatlicher Verantwortung, sondern definiert sich selbst nur vorübergehend, für die "schlechten Zeiten" Dieser negative Kontext hindert auch  daran ein vernünftiges Selbstbewusstsein zu entwickeln oder auch die positive Selbstwirksamkeitserwartung, sozialen Zusammenhalt selbst zu gestalten oder auch nur die Ausformung des gesellschaftlichen Umfeldes in die Hand zu nehmen. Eine solche negative Kontextuierung fördert sogar noch die negative Sicht auf den Staat oder "die Politik" als eine Summe enttäuschter Erwartungen, anstatt positiv die staatlichen Aufgaben einer kritischen Reflexion zu unterwerfen.

Grüne Politik sollte sich darauf konzentrieren, Politikkonzepte und Instrumente zu entwickeln, die solche aktivierende Wirkung entfalten können.

Mehr zur Grünen Akademie

Dieser Beitrag ist auf die Arbeit der Grünen Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung zurückzuführen. Die Grüne Akademie ist ein Netzwerk von Wissenschaftler_innen und an Theorie interessierten Politiker_innen, die sich mit grundlegenden gesellschaftlichen Fragen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik auseinandersetzen.