Von Iván Orozco Abad
Einleitung : Die Theateranalogie bei der Betrachtung der Justiz
Justitielle Verfahren werden häufiger als die meisten Institutionen des sozialen und politischen Lebens zu Recht in der Analogie des Theaters gedeutet. Die Nähe zwischen den justitiellen und den theatralischen Handlungen ist in mancher Hinsicht so offensichtlich, dass die Herausarbeitung der vielen Gemeinsamkeiten sich beinahe erübrigt. Es genügt sich vor Augen zu halten, dass man auch im Bereich der Justiz über Akteure, Masken, Verkleidungen, Skript, Handlung, Schaubühne, Kulissen, Zuhörerschaften und sogar wie im alten griechischen Drama über einen Chor sprechen kann. Ich werde im Folgenden auf diese Analogie zurückgreifen. Vor allem weil dadurch eine uralte und große Kunst geehrt wird, aber auch weil sie meiner Meinung nach eine durchaus geeignete Form bietet, um den laufenden Prozess der Übergangsjustiz in Kolumbien darzustellen.
Doch wie jede Analogiebildung im Bereich der sozialen und rechtlich-politischen Forschung birgt auch diese Vor- und Nachteile. Die Analogie des Theaters bewirkt zwar, dass man den Prozess der Übergangsjustiz als einen direkten Beobachtungsgegenstand und nicht lediglich als eine Art Fenster betrachtet, wodurch man auf eine außenstehende Welt hinausblickt. Die übergangsjustitiellen Handlungen in der Analogie des Theaters zu betrachten, fördert die Sichtbarmachung der expressiven und somit subjektiven und emotionalen Dimensionen des individuellen und kollektiven Verhaltens, die dem Darstellerischen innewohnen. Die auf eine externe Wirklichkeit bezogenen Wahrheiten, die geäußert werden, werden somit gleichzeitig in ihrer engen Verbindung zu der sie übertragenden performativen Darstellung gezeigt. Betrachtet man das justitielle Verfahren als ein Schauspiel, dann wird die enge Verbindung sichtbar, die zwischen der Übergangsjustiz und ihrem „Publikum“ existiert.
Die Theateranalogie erlaubt also eine Annäherung an das Rechtssystem, die nicht in der Falle der Rechtsdogmatik gefangen bleibt. Anders als die meisten sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweisen lenkt sie außerdem die Aufmerksamkeit auf die wichtige Fähigkeit des Rechts die Welt vor- und darzustellen und das Verhalten zu konditionieren und zu lenken. Die Theateranalogie begünstigt vor allem, dass man sich die Frage nach dem Beitrag des Prozesses von „Wahrheit und Frieden“ sowohl zur sog. „darstellerischen“ als auch zur sog. „expressiven Justiz“ stellt: Wird der gegenwärtige Prozess der Übergangsjustiz, betrachtet man ihn wie ein Theaterstück, der Darstellung des Phänomens „Paramilitarismus“ und den Bedürfnissen der Opfer zur Genüge gerecht? Diese doppelte Fragestellung soll aber die traditionelle Rechtsfrage danach, ob den Angeklagten ein gerechter Prozess gemacht wird keineswegs ersetzen.
Sowohl Hannah Arendts Bemerkung darüber, dass es Schuld gibt, die jenseits des Rechts liegt als auch Ian Burumas darüber, dass die strafrechtliche Begrifflichkeit, insbesondere aber die klassisch liberale mit ihrer Privilegierung des Individuellen ungeeignet dafür ist, die Systemkriminalität in ihrer historischen Komplexität vor- und darzustellen, sollen hier berücksichtigt werden .
Anders als die fiktionale Welt der Theaterkunst, die von der Außenwelt weitgehend isoliert und für sich allein bestehen kann, ist das „Justiztheater“ von der Außenwelt sehr abhängig. Es sind viele äußere Faktoren, die das Geschehen auf der justitiellen Bühne stark beeinflussen und vieles davon erklären, was auf der Bühne passiert. Geschlecht, Alter, Herkunft, Lebensgeschichte und Rang der Angeklagten innerhalb ihrer jeweiligen bewaffneten Gruppe aber auch der Stand der Kräfteverhältnisse zwischen den politischen Parteien und sonstige komplexe Konfigurationen sind nur einige von diesen Faktoren, die sich auf der Bühne beinahe unvermittelt widerspiegeln. Im Allgemeinen muss man deswegen der Versuchung widerstehen, das „justitielle Theaterstück“ von der Außenwelt abzusondern. Im Rahmen dieses Vortrages werde ich mich hinsichtlich der Außenwelt vor allem auf die kulturelle Wende konzentrieren, die zu neuer Begrifflichkeit und zu neuem Instrumentarium im Bereich der Übergangsjustiz auf globaler und lokaler Ebene geführt hat und auf die Wirkung, die der teilweise parallel laufende kolumbianische Friedensprozess auf das justitielle Geschehen gehabt hat. Und ich werde darüber nachdenken, wie es dazu kam, dass die Paramilitärs sich von der Regierung Uribe verraten fühlen.
Dieses Essay besteht demzufolge nicht aus einer systematischen empirischen Untersuchung sondern lediglich aus einer empirisch angereicherten Überlegung zum Gang der Übergangsjustiz im heutigen Kolumbien. An manchen Stellen sind meine Überlegungen auch eher forschungsprogrammatisch...
Bogotá, 15.3. 2010
Den vollständigen Vortrag können Sie hier herunterladen (PDF,35 Seiten, 226 KB)
Iván Orozco ist Professor an der Universität Los Andes, Bogotá