Nur scheinbar hat die Normalität den Alltag wieder. Das Vorgehen der israelischen Regierung und des israelischen Militärs wird von einem großen Lager verteidigt. Dem gegenüber stehen deutlich kritische Stimmen, die die Regierung und das Vorgehen kritisieren, aber nicht aus Solidarität mit der palästinensischen Seite, sondern aus Sorge darüber, wohin diese Regierung den Staat führt, sowie über die wachsende internationale Isolation Israels. -> Aktuelle Beiträge über und aus Israel.
Äußerlich bietet Israel ein Bild der Normalität. Im Küstenstreifen ist der angenehme, weil nicht drückend schwüle Teil des Sommers eingezogen. Die Strände sind am Freitagvormittag, der dem deutschen Samstag entspricht, wie immer voller Menschen. Die Blumen, die an dem Mahnmal an die Opfer des Selbstmordanschlages am Tel Aviver Dolphinarium vor 10 Jahren am ersten Juni erinnern, sind schon verwelkt. Die britische Blues-Legende, der 77-jährige John Mayall, spielt mit fast jugendlichem Elan in den Ruinen der Kreuzfahrerburg Cesarea und erwähnt mit keinem Wort den konfliktgeladenen politischen Kontext, in dem er sein Konzert gibt: „Ihr habt Spaß im Publikum, und wir hier oben auf der Bühne.“
Doch das sind nur ein flüchtiger Eindruck und nur ein Teil des Gesamtbildes. Die Ereignisse vom Morgen des 31. Mai auf dem türkischen Schiff Mavi Marmara bestimmen die Gespräche, die öffentliche und die veröffentlichte Debatte. Bislang scheinen sich vor allem die ohnehin bestehenden Tendenzen zu verstärken. Das große Lager der Rechtfertiger_innen verteidigt das Vorgehen der israelischen Regierung und des israelischen Militärs mit großer Vehemenz. Das vergleichsweise kleine Lager der Bestürzten und Verzweifelten kritisiert noch deutlicher oder verzweifelt noch stärker. Dazwischen gibt es die Stimmen, die zwar die Regierung und das Vorgehen kritisieren, aber nicht aus Solidarität mit der palästinensischen Seite heraus, sondern aus Sorge darüber, wohin diese Regierung den Staat führt, sowie über die wachsende internationale Isolation Israels. Wiederholt war zu lesen, man könne nur hoffen, dass eine Regierung, die sich mit ihrem Vorgehen gegen die Schiffe im Mittelmeer so blamiert habe, in der Iran-Frage anderen den Vortritt lasse. Die Blockade des Gazastreifens wird aber weitgehend nicht infrage gestellt.
Für viele materiell nicht so gut gestellte Israelis stellt sich jetzt vor allem die Frage, was als preisgünstige Alternative zu dem beliebten Urlaubsland Türkei infrage kommt.
„Verräter, dein Tag wird kommen!“
Im israelischen Parlament, der Knesset, spitzten sich die Gegensätze fast bis zum Austausch von Tätlichkeiten zu. Die rechtsnationalistische Likud-Abgeordnete Miri Regev schrie die nationalistisch-palästinensische Abgeordnete Hanin Zuabi von der Partei Balad auf Arabisch an, sie sei eine Verräterin und solle nach Gaza gehen. Zuabi war auf einem der Schiffe, die nach Gaza gelangen wollten. Der palästinensische Abgeordnete Mohammed Barakeh von der kommunistischen Hadash–Partei schimpfte die israelische Regierung eine Bande von Piraten: „Ihr seid verrückt – ihr schwimmt gegen die Welt und beschädigt Eure Nation und lasst sie den Bach hinuntergehen. “Der Abgeordnete der rechtnationalistischen Nationalen Union, Ben Ari, wiederum schrie Barakeh an: „Verräter, dein Tag wird kommen!“
Viele derjenigen, die alles an dem israelischen Vorgehen rechtfertigen und keinerlei Raum für kritische Fragen sehen oder zulassen, nutzen verstärkt die neuen Medien, vor allem Facebook und Twitter. Das geht bis hin zur Gründung einer Gruppe bei Facebook, die zur Ermordung der erwähnten Abgeordneten Hanin Zuabi aufruft.
Es gibt auch kritische Stimmen, und vielfach wird eine unabhängige Untersuchungskommission gefordert. Doch ob sich in der allgemeinen Öffentlichkeit Tendenzen aus der verbreiteten Wagenburgmentalität heraus ergeben werden, oder ob sich die Menschen noch tiefer in diese Mentalität eingraben, wird sich noch zeigen müssen.
„Die ganze Welt ist gegen uns!“
Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy schrieb in einem Beitrag für die linksliberale Zeitung Haaretz, er kenne die Versuchung in den Herzen einiger israelischer Führungspersönlichkeiten, daran zu glauben‚ „die ganze Welt ist gegen uns“ und „wir sind verdammt, wenn wir es tun und sind verdammt, wenn wir es nicht tun.“ Diese Einstellung, die schon den Gaza-Krieg 2008/2009 begleitete und die Entwicklungen seitdem wesentlich mitbestimmte, ist auch jetzt bei vielen jüdischen Israelis „erkenntnisleitend“ und bestimmt nicht nur die Herzen einiger Führungspersönlichkeiten.
Nach dieser Lesart ist die Angelegenheit klar: Die Mitglieder der türkischen Hilfsorganisation Insani Yardim Vakfi (IHH) sind mörderische Islamisten oder gar Jihadisten, es gibt keine humanitäre Krise in Gaza, Israel war bereit, die Hilfsgüter über einen eigenen Hafen nach Gaza zu bringen, die Fortsetzung der Blockade ist gerechtfertigt, damit keine Waffen nach Gaza gelangen. Punkt – Ende der Durchsage.
Der aus Großbritannien stammende Journalist Anshel Pfeffer schreibt, keines dieser Argumente werde den Rest der Welt überzeugen und zwar nicht, weil sie schlecht präsentiert würden oder falsch seien. Sie überzeugten vielmehr deshalb nicht, weil moralische Menschen überall in der Welt fast alles, was in der Region geschehe, als Resultat der unmoralischen Situation der Besatzung sähen, wobei weder die israelische Führung noch die israelische Bevölkerung irgendetwas tue, um diese Lage zu ändern. Dies möge eine grob vereinfachende Perspektive sein, frei von allen Nuancen, aber es sei keine antisemitische oder anti-israelische Position, wie manche glauben machen wollten. Er sieht in den offiziellen Rechtfertigungsreaktionen ein Indiz dafür, wie weit sich Israel von der Art und Weise entfernt habe, wie es von außerhalb gesehen werde.
Pfeffer sieht die dringende Notwendigkeit, dass Freunde Israels von außerhalb ihre Stimmen erheben. Dies könnte eine wichtige Rolle der jüdischen Diaspora sein. Doch statt diese Aufgabe wahrzunehmen, kauere das jüdische Establishment in der Diaspora mit Israel im Bunker.
Der international bekannter Schriftsteller Mario Vargas Llosa besuchte in der vergangenen Woche Israel. Auf die Frage, ob er sich manchmal schäme, ein Freund Israels zu sein, antwortete er: „Ich habe mich niemals geschämt. Wenn ich mich schämen würde, wäre ich nicht hier. Ich bin ein Freund, ein sehr ernsthafter Freund. Ich betrachte mich als Freund Israels, der ein sicheres Israel sehen möchte, der aber gleichzeitig sehr kritisch gegenüber der israelischen Politik ist.“ Neben Tel Aviv und Jerusalem besuchte Vargas Llosa auch Gaza, Bethlehem und Hebron. Dort wurde ihm die Lage von dem jungen, religiösen Israeli Yehuda Shaul von der Organisation „Breaking The Silence“ erläutert. Dazu sangen die Kinder der Siedler: „Yehuda Shaul der Mörder, wir werden ihn nicht gewinnen lassen.“ Der Artikel über den Besuch von Mario Vargas Llosa trug den Titel: „A Friend In Need“. Damit werden wohl beide gemeint sein: Mario Vargas Llosa und Israel.
Tel Aviv, 04.06.2010
Jörn Böhme ist Büroleiter des Büros Israel der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.
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