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Der Westliche Balkan - Ein Überblick

Lesedauer: 5 Minuten
Kleiner Laden in der serbischen Stadt Sremski Mitrovica, in der Vojvodina - eine autonome Provinz in der Republik Serbien. Foto: Wolfgang Klotz

27. Juli 2010
Ein Überblick von Wolfgang Klotz
Wollte man im Juli 2010 ein allgemeines Charakteristikum für die Lage auf dem West-Balkan und seine Zukunftsaussichten formulieren, dann müsste man wohl von einer „alten Unübersichtlichkeit“ sprechen. Belgrad und Pristina müssen nun mit der Entscheidung des UN-Gerichtshofes zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo umgehen. Die Finger liegen an den Griffen der Schubladen, wo die Pläne A, B und C bereitliegen, mit denen man auf den Ausgang dieses Verfahrens zu reagieren gedenkt. Die internationale Gemeinschaft hingegen zeigt demonstrative Gelassenheit und beruft sich ganz auf den unverbindlichen Charakter der Gerichtsentscheidung.

Derweil schaut Bosnien-Herzegowina auf die im Oktober 2010 bevorstehende Parlamentswahl. Die Hoffnung, dass das neue Parlament auf der Basis einer neuen, oder wenigstens reformierten Verfassung seine Arbeit würde beginnen können, ist seit langem zerstoben. Wegen der nach ethnischem Proporz konzipierten Dayton-Verfassung scheitert die Reform und Konsolidierung des Staates weiterhin an der Blockademöglichkeit der einzelnen Entitäten, von der besonders die Republika Srpska und ihr Ministerpräsident reichlich Gebrauch machen. Die internationale Gemeinschaft zeigt zu Bosnien-Herzegowina eher Überdruss als Gelassenheit. In den Jahren des Protektorates ist es ihr nicht gelungen, den sehr praktischen Hoffnungen der Menschen auf mehr Wohlstand und politische Partizipation einen staatlich-institutionellen Rahmen zu geben. Noch weniger konnte ein solcher Rahmen von innen heraus entstehen. Denn es ist auch nicht gelungen, die BürgerInnen des Landes zu einer Wahlentscheidung zu bewegen, mit der sie sich - jenseits der ethnisch bestimmten Kriterien - allein an ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Interessen orientieren würden. Die Entstehung einer neuen, populistisch orientierten Partei unter der Führerschaft eines Medien-Tycoons lässt zudem für die Oktoberwahl zwar neue Listen, aber keine grundsätzliche Überwindung der Stagnation erwarten.

Im Kosovo versuchen beide Seiten – die Regierung in Pristina und ihr noch immer die Wirklichkeit im serbischen Norden des Landes weitgehend bestimmender Gegenpart Belgrad – für kommende Verhandlungen nach dem Haager Gerichtsspruch vollendete Tatsachen zu schaffen. Der serbische Außenminister spricht davon, dass „die Sache allmählich zu kochen beginnt“, und es klingt, als fände er Freude daran, auch wenn der Konflikt in den vergangenen beiden Wochen wieder Todesopfer und Verletzte gefordert hat. Welchen Weg beide Seiten gehen werden, das soll in diesem Dossier fortlaufend verfolgt werden.

In Mazedonien nehmen der nicht enden wollende Namensstreit mit Griechenland und die Spannung zwischen den slawischen und den albanischen Bevölkerungsteilen derweil trotzig-neurotische Züge an. In einem ungeheuren Kraftakt will die Regierung das seit dem Erdbeben von 1963 unansehnliche Skopje in eine repräsentative europäische Metropole verwandeln. Geschätzte 1,5 Prozent des Bruttosozialproduktes sollen in repräsentative Bauten nach einem vermeintlichen Stil des 19. Jahrhunderts fließen, ohne dass die Öffentlichkeit an der Gestaltung der Hauptstadt beteiligt wäre. Unübersehbar und unverrückbar wird eine meterhohe Reiterstatue des Großen Alexander den Anspruch auf die nationale Geschichte gegenüber Griechenland in Marmor und Bronze darstellen. Die albanischen Bürger/innen – immerhin  25 Prozent der Gesamtbevölkerung - kümmert dieser Streit nur insofern, als dadurch auch ihr Weg in die Europäische Union auf längere Zeit blockiert erscheint. Dies ist nicht förderlich für die sowieso stagnierende Umsetzung des Ohrider Abkommens, in dem einst, 2001, beide Völker einen Weg für ihre künftige Koexistenz in diesem Staat vereinbart haben.
Zwischen all der Hektik und dem vermeintlichen so wie dem tatsächlichen Wandel strotzt das kleine Montenegro vor beispielloser Stabilität. Der gleiche Politiker hat ihm abwechselnd als Präsident und Premierminister vorgestanden, als es das alte Jugoslawien noch gab, bis zur Zeit, als es mit Serbien noch ein Rumpf-Jugoslawien bildete; er hat es schließlich in die Unabhängigkeit geführt und regiert es seitdem mit erst jüngst wieder demokratisch bestätigter Machtvollkommenheit. Das Spiel um die Macht funktioniert hier ein wenig anders als in den übrigen Regionen, aber auch hier scheint Ethnizität der entscheidende Trumpf: nach bekannter Regel teilt sie die Opposition und macht das Herrschen leichter.

Lediglich in Kroatien formiert sich eine neue zivile Opposition und ein gesellschaftliches Potential, das seine demokratische Partizipation auch durch politisches Handeln zu erzwingen bereit ist. Für ein Referendum über das neue Arbeitsgesetz wurden 700.000 Unterschriften gesammelt, und im Herzen Zagrebs entzündet sich an den Plänen für eine Business-Mall erneut eine Protestbewegung, die schon ein Jahr vorher unter den Studierenden der Hauptstadt begonnen hat. Damals waren Studiengebühren der Anlass für einen mehrwöchigen Streik der Studierenden, heute ist es ein fragwürdiges städtebauliches Projekt, das gegen den Willen der Mehrheit der Bürger/innen mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll. So sehr dieses neue Potential die Nähe belegt, die Kroatien inzwischen mit den übrigen Europäischen Gesellschaften verbindet, so sehr dokumentiert andererseits der rabiate Umgang der Regierenden mit diesem Protest die noch immer bestehende Ferne.

Das Dossier „Europa und der Westliche Balkan“ wird fortlaufend Informationen zur Entwicklung der Region und ihrer einzelnen Staaten sowie zur Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung in und zu der Region zur Verfügung stellen.


Wolfgang Klotz ist Leiter des Regionalbüros der Heinrich-Böll-Stiftung für Südosteuropa

Dossier

Europa und der Westliche Balkan

Wollte man im Juli 2010 ein allgemeines Charakteristikum für die Lage auf dem West-Balkan und seine Zukunftsaussichten formulieren, dann müsste man wohl von einer „alten Unübersichtlichkeit“ sprechen. Das Dossier bietet aktuelle Artikel zu Staatlichkeit, Demokratie, Bürgerrechten, Aufarbeitung und der Beziehung der Länder des westlichen Balkans zur EU.

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