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Die Kandidatin vom Amazonas in einem Wahlkampf, der keiner ist

Marina Silva tritt bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien am 3. Oktober auf Augenhöhe an.

13. September 2010
Von Dawid Danilo Bartelt

Von Dawid Danilo Bartelt

Unlängst warfen brasilianische Medien der Kandidatin vor, sie pflege einen zu akademisch-abgehobenen Redestil. Wer kann schon mit „Entkarbonisierung der Ökonomie“ etwas anfangen? Auch liebt sie den erhobenen Zeigefinger, der mit dem stets zum Dutt gebundenen Haar und der Lesebrille das Abziehbild einer Oberlehrerin ergibt. Dabei ist die pure Tatsache, dass Marina Silva tatsächlich studierte Geschichtslehrerin ist, schon Teil der ganz besonderen Lebensgeschichte der Kandidatin der Grünen Partei Brasiliens für die Präsidentschaftswahl am 3. Oktober. Denn nichts war unwahrscheinlicher, als Maria Osmarina Marina Silva Vaz de Lima vor 52 Jahren geboren wurde. Geboren in einer Kautschukplantage im heutigen Bundesstaat Acre, lernte sie erst mit siebzehn Lesen und Schreiben. Danach ging alles sehr schnell. Bekannt wurde die junge Marina als rechte Hand des 1987 ermordeten Chico Mendes im gemeinsam gegründeten Gewerkschaftsverband CUT Acre. 1988, mit dreißig Jahren, zog sie in den Stadtrat von Acres Hauptstadt Rio Branco ein. Sechs Jahre später wurde Marina, mittlerweile Mutter von vier Kindern, als jüngste Senatorin der Geschichte Brasiliens in den Kongress in Brasília gewählt. 2003 holte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sie als Umweltministerin in sein Kabinett. Marina trieb u. a. die Institutionenbildung im Umweltschutz auf Bundesebene voran, half die Abholzrate im Amazonasgebiet zu senken und verbesserte die Schutzbestimmungen und die Kontrollmöglichkeiten illegalen Holzeinschlags. Doch nach der Wiederwahl Lulas 2006 setzten sich die Verwertungsinteressen am Amazonasgebiet im Kabinett immer mehr durch. Insbesondere mit der Chefin des Präsidialamts Dilma Rousseff - der heutigen aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidatin - gab es beständige Auseinandersetzungen um Umweltschutzauflagen für Großprojekte. 2008 trat Marina entnervt zurück und nahm im Jahr darauf das Angebot an, als Präsidentschaftskandidatin in die Partido Verde zu wechseln.

Drei Wochen vor dem Stichtag scheint die Wahl gelaufen. Dilma Rousseff führt in den Umfragen mit mehr als 50 Prozent vor dem Ex-Gouverneur des Bundesstaates Sao Paulo, José Serra, derzeit bei 27 Prozent).  Marina liegt bei acht Prozent. Und das, obwohl irgendeine inhaltlich-programmatische Auseinandersetzung, die diesen Namen verdient hätte, nicht stattgefunden hat. In Brasilien sind Wahlkämpfe traditionell eher auf die Persönlichkeiten als auf die Programme ausgerichtet, aber eine derartige Inhaltsarmut hätten sie noch nicht erlebt, sagen übereinstimmend viele Beobachter. Das hat viel mit der besonderen politischen Konstellation des Wahlkampfs zu tun. Zum einen – und das ist symbolpolitisch nicht ohne Belang – sind die drei wichtigsten Kandidat/innen alle politisch Mitte-Links einzuordnen, d.h. die politische Rechte hat keinen ernstzunehmenden Kandidaten aufgeboten. Dilma, Serra (und auch der viertplazierte Plínio de Arruda Sampaio von der sozialistischen PSOL) haben gegen die Militärdiktatur gekämpft und waren im Gefängnis bzw. exiliert. Serra stammt aus einfachen, Marina aus ärmsten Verhältnissen, keiner der drei bzw. vier gehört den oligarchischen (Familien-)Verbänden an, die traditionell die Politik in Brasilien bestimmen.

Entscheidend für diese Wahl ist aber, dass mit dem früheren Gewerkschaftsführer Luiz Inüacio Lula da Silva ein Präsident abtritt, der nach acht Jahren Amtszeit Zustimmungsraten von fast 80 Prozent genießt und dessen wachstumsorientierte, auf Realeinkommenszuwachs und Arbeitsplätze auch für die ärmeren Schichten ausgerichtete und fiskalisch konservative Politik in den Grundlinien als alternativlos erscheint. Das führt zu der paradoxen Situation, dass keiner der wichtigsten Kandidaten Lula kritisiert; auch Marina lässt auf ihren langjährigen Weggefährten nichts kommen. Nimmt man noch hinzu, dass sowohl Dilma wie Serra in weiterem Sinne einer postideologischen Sozialdemokratie zuzurechnen sind, verwundert es schon weniger, dass beide im Wesentlichen darin wetteifern, als der glaubwürdigere Garant in der Nachfolge Lulas zu erscheinen. Nachfolge ist dabei fast jesuanisch zu begreifen, denn die Hemdsärmeligkeit Lulas mündet mehr und mehr in eine Art Quasimessianismus. Als „Mutter des brasilianischen Volkes“ (Lula über Lula) empfiehlt er diesem seine Tochter Dilma an, seine eigene Seele aber noch keineswegs dem Herrn. Vielmehr behält er sich vor, weiterhin zum Wohle Brasiliens tätig zu sein, „wenn etwas schief läuft“ – eine Ankündigung, die Dilma nicht nur glücklich machen wird.

In Abwesenheit echter programmatischer Gegensätze schieben die beiden Hauptkandidat/innen die Stichworte Wachstum, Bildung, Gesundheitswesen, Renten oder Arbeitsplätze lustlos hin und her. Einzig beim Thema Gewalt und öffentliche Sicherheit gibt es eine echte Divergenz: Serra will ein Bundessicherheitsministerium einrichten und damit die übliche repressiv-militärische Strategie der Kriminalitätsbekämpfung intensivieren; Dilma hält den menschenrechtsorientierten Ansatz des 2009 aufgelegten „Nationalen Programms für Sicherheit mit Bürgerschaft” (PRONASCI) hoch. Das Programm setzt auf Fortbildung und Qualifizierung und enthält eine eigene Linie zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. Ohne eine Strukturreform der Polizei, die die Dualstruktur von Militär- und Zivilpolizei aufhebt und Gehälter so erhöht, dass einfache Polizisten nicht mehr illegal als private Sicherheitskräfte dazuverdienen müssen, werde sich am Verhalten der Polizei nichts ändern. Mit Spannung beobachtet wird derzeit das Projekt der UPPs oder  „Befriedungseinheiten“ der Polizei in Rio de Janeiro. Bisher sind diese UPPs in zwölf favelas eingerichtet worden, nachdem jeweils der Drogenhandel von dort vertrieben werden konnte oder sich in andere Stadtteile verlagert hat. Zwischen 2003 und 2009 hat die Polizei in Rio 7854 Menschen erschossen. Davon sind nach Aussagen des Spezialisten Luiz Eduardo Soares, 75 Prozent als außergerichtliche Hinrichtung zu werten.

Dynamik gewinnt der Wahlkampf dieser Tage durch einen möglichen Politskandal: Die PT könnte im Zusammenhang mit einem Finanzdatenraub stehen, bei dem u.a die Einkommenssteuererklärung der Tochter Serras illegal eingesehen wurde. Dabei hätte etwa Serra durchaus Anlass, aus seiner eher wirtschaftsliberalen Perspektive auf einige Schwierigkeiten hinzuweisen, die am Ende der acht Jahre Lula offenkundig sind: Die Staatsausgaben sind enorm angewachsen. Doch Investitionen in Schlüsselbereichen wie Bildungswesen, der maroden Infrastruktur oder im Gesundheitssektor sind weitgehend ausgeblieben. Die interne Verschuldung ist enorm hoch. Das Handelsbilanzdefizit hat Rekordhöhe erreicht. Die Landeswährung Real ist überbewertet. Die oft angekündigte Reform der politischen Institutionen ist ausgeblieben. Außenpolitik kommt im Wahlkampf, trotz etwa fragwürdiger Allianzen wie die Lulas mit dem menschenrechtsfeindlichen und atomwaffenentwickelnden Regime Ahmadenischad im Iran, gar nicht erst vor.

Noch ist in Brasilien mit Umwelt- und Klimapolitik keine Wahl zu gewinnen, zumal es der jetzigen Regierung gelingt, auf die Vereinbarkeit ihrer Erfolge in der Armutsbekämpfung mit einer klimafreundlichen Stromproduktion zu verweisen. Doch Marina propagiert unermüdlich ein  „Entwicklungsmodell für das 21. Jahrhundert“, das Wirtschaftswachstum und Armutsminderung mit Ressourcen- und Klimaschutz verbinde. Brasilien habe nicht zuletzt angesichts seiner klimafreundlichen Energiematrix die Chance, bei der Zukunftsfrage des Globus ganz vorne dabei zu sein, ja eine Führungsrolle zu übernehmen, wenn es seine Entwicklungspolitik auf grüne Technologien umstelle, lautet ihr Mantra. Und werde, so lautet ihre Warnung, dafür bezahlen, wenn es jetzt kurzsichtig auf das alte Entwicklungsmodell setze. Beispiele für Fehlwege sind die Milliardeninvestitionen in die off-shore-Erdölförderung, aber auch der massive Ausbau der Kernenergie. Während unterstützt von einer Kreditbürgschaft der deutschen Bundesregierung südlich von Rio die Bauarbeiten für das Kernkraftwerk Angra 3 begonnen haben, sondiert die brasilianische Regierung zwei weitere Standorte, an denen jeweils bis zu vier neue AKWs gebaut werden sollen. Neben allen bekannten Nachteilen und hohen Kosten ist die Frage der Endlagerung hochradioaktiven Abfalls in Brasilien weiter ungeklärt. Ein solches Endlager, gaben die zuständigen Behörden unlängst auf Nachfrage der grünen Bundestagsabgeordneten Ute Koczy zu, werde es nicht vor 2026 geben. Die abgebrannten Stäbe aus den Kernkraftwerken Angra 1 und 2 werden seit Jahrzehnten in Wasserbecken direkt am Standort gelagert. Erhebliche Auswirkungen könnte auch die Änderung des Waldgesetzes haben, die die Agrobusinesslobby derzeit intensiv im Kongress betreibt. Der Gesetzesänderungsantrag sieht unter anderem vor, die Größe permanent geschützter Waldbereiche – variiert derzeit je nach Biom zwischen 20 und 80 Prozent – zu reduzieren und vor 2008 durchgeführte illegale Entwaldungen nicht nur straffrei zu stellen, sondern die gerodete Fläche der agroindustriellen Nutzung zu überlassen. Auch soll der geschützte Uferbereich von Bächen und Flüssen von 30 Meter auf 15 Meter Breite je Ufer verschmälert werden.

Marina Silva hat es geschafft, den Diskurs der Alternativlosigkeit zu durchbrechen und das Thema Nachhaltigkeit auf die politische Tagesordnung zu setzen. Gleichwohl ist ihre Programmatik von Vagheiten und Ungereimtheiten nicht frei, und nicht zuletzt deswegen ist Marina im eigenen Lager keineswegs unumstritten. Dass sie der größten evangelikalen Pfingstkirche Brasiliens, der Assembléia de Deus, angehört, schafft ihr Schwierigkeiten bei der Parteilinken. Zur Strafbarkeit von Abtreibungen, zur Homosexuellenehe und zur Stammzellenforschung äußert sie sich eher ausweichend: Persönlich sei sie eher dagegen, doch politisch müsse man das differenziert betrachten, gegebenenfalls müsse ein Plebiszit entscheiden – damit kann sie die feministisch und an Menschenrechten orientierten Teile des grünen Spektrum nur wenig begeistern. Zuletzt überraschte sie sogar mit unerwarteten Positionen in grünen Kernbereich. Für die strikte Kontrolle genveränderten Saatguts, etwa beim Soja, hat sie lange und vergeblich als Ministerin gekämpft. Heute sagt sie, Brasilien brauche beides, Genpflanzen und traditionelle Pflanzen, und sowohl die kleinbäuerliche Landwirtschaft wie die großen agrarindustriellen Betriebe. Außerdem sei sie gar nicht grundsätzlich gegen das geplante Wasserkraftwerk Belo Monte am Xingu-Fluss in Amazonien, sondern habe nur den Zeitpunkt der Ausschreibung für verfrüht gehalten. Belo Monte wird mit einer Kapazität von rund 11.000 Megawatt das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt sein; Betroffene und Umweltschützer laufen seit Monaten Sturm dagegen. 17.000 Menschen müssen umgesiedelt werden. Am 26. August unterzeichnete Präsident Lula den Konzessionsvertrag.

Belo Monte ist für viele zum Symbol jener „Entwicklungspolitik des 20. Jahrhunderts“ geworden, die auf traditionelles Wachstum mittels energieintensiver Exportindustrien und Agrobusiness setzt. Die, die Integrationsfigur für dieses Segment der brasilianischen Bevölkerung sein soll, kommt hier mehrdeutig rüber.
Marinas Wahlkampfleitung setzt jetzt auf den zweiten Wahlgang. Wahlen in Brasilien werden im Fernsehen gewonnen, und vor der Stichwahl stünde Marina gleichviel Sendezeit zu wie der Opponentin. Dann könnte die “Lehrerin“ ausspielen was sie nämlich doch gut kann:  Mit der Gabe ihrer Rede und dem Gewicht ihres besonderen Lebens die Menschen berühren. Das gelingt sogar bei gestandenen Industriefunktionären. Wenn die Zeitungsberichte stimmen, war es bei einer vom Nationalen Industrieverband in Brasília veranstalteten Debatte mit den drei Hauptkandidaten Marina, die den meisten Applaus erhielt und einigen der Zuhörern Tränen in die Augen trieb.
Marinas Programm ist ihrer Zeit noch voraus. Aber vielleicht muss sie nicht wie Lula vier Mal antreten, bis ihre Zeit gekommen sein wird.
 
Dawid Danilo Bartelt ist Büroleiter des Landesbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien, Rio de Janeiro

 

Dawid Danilo Bartelt ist Büroleiter des Landesbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien, Rio de Janeiro